Vor dem Gipfel: EU-Staaten ringen um Migrationspolitik

Ein Rettungsschiff einer deutschen Hilfsorganisation mit Flüchtlingen im sizilianischen Hafen Catania.
Ein Rettungsschiff einer deutschen Hilfsorganisation mit Flüchtlingen im sizilianischen Hafen Catania. Copyright Salvatore Cavalli/Copyright 2022 The AP. All rights reserved
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Von Stefan GrobeJorge Liboreiro
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Die Migration steht wieder ganz oben auf der Agenda der EU, aber die alten politischen Spaltungen bleiben bestehen.

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Nach Jahren, die von einer tödlichen Pandemie, einem historischen Wiederaufbaufonds, einem verheerenden Krieg, einer Energiekrise und hohen Inflationszahlen geprägt waren, sind die Staats- und Regierungschefs der EU bereit, die Migration wieder ganz oben auf die politische Agenda zu setzen.

Das Problem , das tiefe Risse zwischen den EU-Ländern verursacht hat, ist aber nie wirklich verschwunden. Aber ein Anstieg der irregulären Grenzübertritte um 64 Proyent – rund 330.000 – und ein Anstieg der Asylanträge um 46 Proyent – fast 924.000 – im vergangenen Jahr haben bei Politikern ein neues Gefühl der Dringlichkeit geweckt, dem explosiven Thema eine neue Chance zu geben.

Österreich fordert EU-Gelder zur Finanzierung eines neuen Zauns entlang der bulgarisch-türkischen Grenze. Italien drängt auf einen EU-weiten Verhaltenskodex für Rettungsschiffe im Mittelmeer. Und Dänemark, ein Land, das eine „Null-Asyl“-Politik verfolgt, sucht Unterstützung, um Aufnahmezentren außerhalb der EU einzurichten.

Brüssel scheint sich der Dynamik bewußt zu sein: Diese Woche wurde ein außerordentlicher Gipfel einberufen, um die Migration und die Kontrolle der Außengrenzen direkt anzugehen.

Die Europäische Kommission versucht, die Gunst der Stunde zu nutzen, um ihren lange ins Stocken geratenen „Neuen Pakt zu Migration und Asyl" voranzubringen, einen komplizierten, ganzheitlichen Vorschlag, der alle verschiedenen Aspekte der Migrationspolitik zusammenfügen und den bestehenden Ad-hoc-Krisenansatz ersetzen soll .

„Migration ist eine europäische Herausforderung, die mit einer europäischen Lösung beantwortet werden muss“, schrieb die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in einem Brief an die Staats- und Regierungschefs vor dem Gipfeltreffen.

Entscheidend ist, dass der „Neue Pakt“ auf dem Prinzip basiert, das die Mitgliedstaaten seit Jahren gegeneinander ausgespielt hat: faire Verantwortungsteilung und Solidarität.

In der Zwickmühle

Nach der erstmals 2013 verabschiedeten sogenannten Dublin-Verordnung fällt der Antrag eines Asylbewerbers in die Zuständigkeit des ersten Ankunftsmitgliedstaats.

Dieses System wurde von Regierungen und Hilfsorganisationen gleichermaßen kritisiert, weil es eine unverhältnismäßige Belastung für die Frontstaaten im Mittelmeerraum darstellt. Diese sind dann mit der enormen Aufgabe konfrontiert, Asylanträge von Migranten zu bearbeiten, die häufig nicht in diesem Land bleiben wollen und lieber in den Norden reisen.

Hier taucht die große Frage auf, die im Mittelpunkt der ewigen Debatte steht: Wie kann die EU als politische Union mit gemeinsamen Außengrenzen diese Hunderttausende von Bewerbern in einer als fair und ausgewogen angesehenen Angelegenheit umsiedeln und umverteilen?

Bisher lautete die Antwort: Es geht einfach nicht.

„Die aktuelle Migration ist im Wesentlichen in einer Zwickmühle gefangen. Migrationsströme und Migrationsdruck halten an, aber die Mitgliedstaaten finden es sehr schwierig, sich auf effektive und gemeinsame Lösungen dafür zu einigen“, sagte Andrew Geddes, der Direktor des Migration Policy Centre am European University Institute (EUI), gegenüber Euronews.

„Einige Mitgliedstaaten lehnen es einfach ab und beteiligen sich nicht an Programmen, die die Umsiedlung von Migranten innerhalb der EU enthalten.“

„Eine Debatte ohne neue Energien“

Der vorgeschlagene „Neue Pakt“ bietet eine weitere Antwort auf das Umsiedlungsdilemma: einen „wirksamen Solidaritätsmechanismus“.

Der Mechanismus würde den EU-Ländern drei Optionen bieten, um einem anderen Mitgliedstaat zu helfen, dessen Migrationssystem aufgrund einer Welle von Neuankömmlingen unter Druck steht: Aufnahme einer Reihe umgesiedelter Asylbewerber, Zahlung für die Rückkehr abgelehnter Antragsteller in ihr Herkunftsland oder eine Reihe "operativer Maßnahmen" wie Aufnahmezentren und Transportmittel finanzieren.

Die Zusagen würden auf der Grundlage des BIP und der Bevölkerung des Landes berechnet. Nach der Einigung würde die Europäische Kommission einen Rechtsakt erlassen, um die Zusagen rechtsverbindlich zu machen.

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Das System weist zwei Zustände auf, die den Mitgliedstaaten auf den entgegengesetzten Seiten der Debatte ein Gräuel sind.

Für diejenigen, die auf weitere Umsiedlungen drängen, wie Deutschland, Frankreich, Italien und Griechenland entlastet das System widerstrebende Länder, indem es zwei Optionen anbietet – Rückkehrsponsoring und operative Maßnahmen –, die keine Aufnahme von Personen innerhalb ihrer Grenzen enthalten.

Für diejenigen, die sich gegen eine Umsiedlung wehren, wie Polen, Ungarn, die Slowakei und Österreich, führt das System obligatorische Zusagen ein, die sie zwingen würden, einen Beitrag zu leisten, ob sie wollen oder nicht.

Die widersprüchlichen Perspektiven haben den „Neuen Pakt“ zu einem gesetzgeberischen Schwebezustand verurteilt, mit wenig bis gar keinen Fortschritten seit seiner Präsentation im September 2020.

„Nationale Interessen und kurzfristige politische Agendas"

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„Es gibt keine Wunderdroge oder magische Lösung für die spaltende Frage der geteilten Verantwortung“, sagte Alberto-Horst Neidhardt, Leiter des Migrationsprogramms am European Policy Centre (EPC), gegenüber Euronews.

„Zu lange wurde der Migrationsdebatte neue Energie und lebensnotwendiger Sauerstoff entzogen, durch nationale Interessen und kurzfristige politische Agendas in die Ecke gedrängt."

Ein freiwilliger Umsiedlungsmechanismus, der von 23 europäischen Ländern eingerichtet wurde, hat bisher zu etwas mehr als 400 umgesiedelten Asylsuchenden geführt – von 8.000 Zusagen, die jährlich erfüllt werden sollen.

Der anhaltende Mangel an Konsens darüber, wie mit Migration intern umgegangen werden soll, „birgt die Gefahr, dass Rückkehr und Rückübernahme eine unverhältnismäßige Aufmerksamkeit erfahren", fügte Neidhardt hinzu.

„Die EU-Migrations- und Asylpolitik ist alles andere als in einem gesunden Zustand."

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Tatsächlich haben die Diskussionen in Brüssel einen deutlichen Schwerpunkt auf die externe Dimension der Migration, die Beziehungen zwischen der EU und den zahlreichen Herkunftsländern gelegt, was eine zunehmende Verlagerung von der Steuerung zur Verhinderung von Ankünften widerspiegelt.

Allzeithochs bei Asylanträgen, die von Staatsangehörigen aus traditionell als „sicher“ geltenden Ländern wie der Türkei, Bangladesch, Marokko, Georgien, Ägypten und Peru gestellt wurden, haben den Ruf nach einem energischeren und überzeugenderen internationalen Engagement weiter angeheizt.

„Viele der anderen besprochenen Länder sind alles andere als stabil und im wahrsten Sinne des Wortes nicht ‚sicher‘“, sagte Catherine Woollard, Direktorin des European Council on Refugees and Exiles (ECRE), in einer kritischen Stellungnahme. In der gesamten EU werde „Alarmismus" für politische Zwecke hergestellt.

„Die Politikgestaltung im Panikmodus nährt einen Ansatz, der auf unbegründeten Ängsten basiert und nicht auf Bedürfnissen, Interessen, Ressourcenüberlegungen oder rechtlichen Verpflichtungen."

EU will „Druckmittel“ gegen Herkunftsländer anwenden

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Die Aufmerksamkeit hat sich zudem auf die EU-Rückkehrrate von nicht berechtigten Asylsuchenden konzentriert.

Die relativ niedrige Zahl (rund 21 Prozent) hat hartnäckige Regierungen empört, die das Gespenst heraufbeschworen haben, sich auf Artikel 25a des EU-Visakodex zu berufen, um unkooperativen Ländern restriktive Maßnahmen aufzuerlegen.

Von der Leyens Brief erkennt diese Realität an und spricht von Anti-Schmuggel-Projekten, gemeinsamen Operationsteams und Talentpartnerschaften, um die Rückkehr zu beschleunigen und die Abreise einzudämmen.

„Hebelwirkungen aus verschiedenen Politikbereichen, darunter Visa, Handel, Investitionen (…) und legale Migrationsmöglichkeiten, senden klare Signale an die Partner über die Vorteile der Zusammenarbeit mit der EU und sollten in vollem Umfang genutzt werden“, schrieb die Kommissionschefin.

Experten warnen jedoch davor, dass die Externalisierung der Asylpolitik, auch als „Offshoring“ bezeichnet, die grundlegenden Gründe ignoriert, die Migrationsströme antreiben: wirtschaftliche Not, Diskriminierung und Klimawandel. Dies könne zu Menschenrechtsverletzungen und rechtswidrigen Inhaftierungen außerhalb der Asylpolitik führen.

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„Asylsuche ist eher ein Symptom als die Ursache“, sagte Andrew Geddes.

„Das Durchgreifen gegen Boote und Schmuggler und ähnliches kann einige Auswirkungen haben, kann natürlich dazu führen, dass mehr Menschen sterben, aber es trägt nicht dazu bei, einige der viel tiefer liegenden Ursachen dieser Vertreibung anzugehen.“

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