High-Speed-Zug im Baltikum: Abkoppeln von Russland, Anbinden an Europa

Die 870 Kilometer lange Strecke der Rail Baltica soll die Hauptstädte Litauens, Lettlands und Estlands mit Warschau verbinden.
Die 870 Kilometer lange Strecke der Rail Baltica soll die Hauptstädte Litauens, Lettlands und Estlands mit Warschau verbinden. Copyright Real Baltica
Von Callum Tennent
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Rail Baltica verbindet die baltischen Staaten mit dem europäischen Schienennetz und ist ein weiteres Zeichen dafür, dass sich die baltischen Staaten von Russland abkoppeln und dem Westen zuwenden. #MobilityWeek

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Das größte Infrastrukturprojekt in der baltischen Region ist ein Jahrhundert-Projekt. Die 870 Kilometer lange Strecke Rail Baltica wird die Hauptstädte Litauens, Lettlands und Estlands mit Warschau und dem übrigen Europa verbinden, so dass die Züge ohne Unterbrechung verkehren können.

Das Projekt hat jedoch nicht nur eine physische, sondern auch eine symbolische Bedeutung. Für die EU ist es ein Zeichen für die Rückkehr der baltischen Staaten nach Europa und ihre Abkopplung von der sowjetischen Vergangenheit.

Ein ehrgeiziges Projekt

Seit Ende der 1990er Jahre wird über ein interbaltisches Eisenbahnprojekt gesprochen. 2001 unterzeichneten die Verkehrsminister Estlands, Lettlands und Litauens ein Kooperationsabkommen. Doch erst 2010 wurde ein Memorandum von Vertretern der Verkehrsministerien in Polen, Litauen, Lettland, Estland und Finnland unterzeichnet.

Während die Fahrt von Litauens Hauptstadt nach Estland derzeit sieben Stunden dauert, wird sich diese Zeit durch die neue Strecke auf drei Stunden und 38 Minuten fast halbieren. Die Bahnlinie beginnt in Tallinn und führt über Pärnu, Rīga, Panevėžys und Kaunas bis zur litauisch-polnischen Grenze. Von Kaunas aus wird es auch eine Verbindung nach Vilnius geben.

Nach der Fertigstellung werden die Züge von Polen aus bis ins Baltikum fahren können, die Höchstgeschwindigkeit der Personenzüge beträgt 234 km/h. 

Rail Baltica
Die Bahnlinie beginnt in Tallinn und führt nach Kaunas bis zur litauisch-polnischen Grenze.Rail Baltica

Wirtschaftlicher Nutzen für die baltischen Staaten

Mit geschätzten Kosten von 5,8 Milliarden Euro ist das Ganze zwar nicht ganz billig, aber die Kosten-Nutzen-Analyse verspricht, dass das Projekt einen quantifizierbaren Nutzen von bis zu 16,2 Milliarden Euro bringen wird.

Die Kosten des Projekts für die baltischen Länder werden gemildert, denn die EU finanziert bis zu 85 Prozent des des Vorhabens aus ihrem Topf "Connecting Europe Facility" (CEF). Bislang hat der CEF-Fonds 824 Millionen Euro für die neue Strecke bereitgestellt. Das Projekt ist so umfangreich, dass allein durch den Bau der Strecke 13.000 direkte Vollzeitarbeitsplätze und weitere 24.000 indirekte Arbeitsplätze geschaffen werden sollen.

Nach ihrer Fertigstellung wird die Strecke die jüngste Ergänzung des Nord-Ostsee-Korridors der EU sein, einer transeuropäischen Route, die wichtige Städte wie Rotterdam, Berlin und Warschau miteinander verbindet.

Für die Fahrgäste wird es regelmäßige Verbindungen mit mindestens einer internationalen Zugverbindung alle zwei Stunden geben, so dass täglich acht Zugpaare in jede Richtung verkehren. Das Projekt dürfte nicht nur den Personenverkehr beschleunigen, sondern auch die Frachtkosten senken und eine zeitsparende Möglichkeit für den Transport von Massengütern bieten. 

Politische Aussage: Abkopplung von Russland

Wichtiger als das wirtschaftliche Versprechen des Projekts ist für die EU vermutlich seine politische Botschaft. Die baltischen Staaten waren früher durch die europäischen Eisenbahnstandards mit einer Spurweite von 1435 mm verbunden, seit der der damaligen sowjetischen Besetzung hat das Eisenbahnsystem der Region die russische Spurweite von 1524 mm angenommen.

Dieser Unterschied schränkte die Anbindung des Baltikums an Europa auf dem Schienenweg erheblich ein, Passagiere oder Fracht mussten an der polnischen Grenze auf einen anderen Zug umgeladen werden, bevor es weiterging. Wegen der russischen Spurweite waren die baltischen Staaten in der Regel auf eine West-Ost-Achse angewiesen. Ein Großteil des Eisenbahnhandels kam deshalb aus Russland. 

Rail Baltica
Geplanter Rail Baltica Schnellzug, der die Hauptstädte Litauens, Lettlands und Estlands mit Warschau und dem übrigen Europa verbinden soll.Rail Baltica

Seit der Erlangung ihrer Unabhängigkeit in den 1990er Jahren haben sich die baltischen Staaten jedoch auf Brüssel zubewegt und von Moskau abgewandt. Im März 2004 traten die Länder der NATO bei, und im Mai folgte der Beitritt zur EU. Beide Schritte verärgerten den russischen Präsidenten Wladimir Putin. 

Angesichts zunehmende russischer Aggressionen waren alle drei Länder bereits bestrebt, die Kompatibilität mit dem Rest der EU zu verbessern, Putins Einmarsch in der Ukraine hat das dann noch dringlicher gemacht. Im August wurde das Projekt mit Mitteln aus Lettlands Fonds für "militärische Mobilität" gefördert. Das verdeutlicht die zivilen und militärischen Charakter des Projekts.

Unter den gegenwärtigen geopolitischen Bedingungen nimmt die strategische Bedeutung des Rail-Baltica-Projekts zu.
Tālis Linkaits
Lettischer Verkehrsminister

"Unter den gegenwärtigen geopolitischen Bedingungen nimmt die strategische Bedeutung des Rail-Baltica-Projekts zu", sagte der lettische Verkehrsminister zu dieser Zeit. "Es ist besonders wichtig, eine zuverlässige Verbindung mit Westeuropa zu gewährleisten und die neue Eisenbahnverbindung mit Europa in vollem Umfang zu nutzen, um die Verteidigungskapazitäten unseres Landes zu stärken".

Die Abkopplung des Eisenbahnnetzes der baltischen Staaten von Russland ist nicht der einzige Bereich, in dem die Länder versuchen, ihre Abhängigkeit von Russland zu verringern. Ein weiteres Erbe der sowjetischen Besatzung besteht darin, dass die Stromnetze der baltischen Staaten mit dem zentral gesteuerten russischen Netz synchronisiert sind. Man befürchtet, dass Russland die Stromversorgung der Länder unterbrechen könnte.

Die baltischen Staaten haben sich darauf geeinigt, sich bis 2025 vollständig vom russischen Stromnetz abzukoppeln und mit den europäischen Netzen zu synchronisieren. Im Juli berichtete die Nachrichtenagentur Reuters, dass das europäische Stromnetz ENTSO-E die Netze der baltischen Staaten innerhalb von 24 Stunden wieder anschließen würde, falls die Länder von Russland vom Netz getrennt würden.

Kritik an dem Projekt

Wie alle großen Projekte ist auch Rail Baltica nicht ohne Kritiker geblieben. In einem Gespräch mit Emerging Europe im vergangenen Jahr erklärte Priit Humal, Vorstandsmitglied der Bürgerbewegung Avalikult Rail Balticust, dass Rail Baltica in den baltischen Staaten ebenso umstritten sei wie HS2 in Großbritannien.

HS2 ist eine geplante und teilweise im Bau befindliche britischen Eisenbahnschnellstrecke, die London mit Manchester und Leeds verbinden soll. Ein großer Unterschied zwischen den beiden Projekten liege jedoch im Bruttoinlandsprodukt: Rail Baltica sei für Estland dreimal so teuer wie HS2 für Großbritannien.

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Es gab auch Bedenken hinsichtlich der Sicherheit der EU-Mittel. Jede Verringerung der EU-Finanzierung müsste von den nationalen Regierungen ausgeglichen werden, was zu einem größeren Widerstand der Öffentlichkeit gegen das Projekt führen könnte.

Aber weil sich mehrere Teilabschnitte des Projekts bereits im Bau befinden, scheint es unwahrscheinlich, dass das Projekt vor seiner voraussichtlichen Fertigstellung im Jahr 2026 noch aufgehalten wird. 

Rail Baltica
Schnellzug der Rail BalticaRail Baltica

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