Wo in Europa wird am häufigsten gestreikt? Welche Auswirkungen hat das auf die Wirtschaft?

Streik in Frankreich: Eine umfassende Rentenreform legt das Land an diesem 19. Januar 2023 zu einem Teil lahm.
Streik in Frankreich: Eine umfassende Rentenreform legt das Land an diesem 19. Januar 2023 zu einem Teil lahm. Copyright Ian Langsdon/EPA via MTI
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Von Servet Yanatma
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Wer in Frankreich lebt, weiß: Hin und wieder legt ein Streik im ÖPNV oder bei den Behörden das ganze Land lahm. Wie sieht das in anderen Ländern aus? Ein europäischer Vergleich.

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Am diesem Donnerstag findet in Frankreich ein landesweiter Streik statt, der sich gegen die Rentenreformpläne der Regierung richtet. Zu den Veränderungen zählt, dass das Rentenalter angehoben werden soll. Die Streiks können über den 19. Januar hinaus andauern: Die größte französische Gewerkschaft hat den Donnerstag nur als Ausgangspunkt bezeichnet.

Auch in Großbritannien hat es zuletzt Streiks gegeben. Im Dezember 2022 streikten die Krankenpfleger:innen in England zum ersten Mal seit 106 Jahren. Eisenbahner:innen haben in den letzten Wochen gestreikt, und Lehrkräfte und Beschäftigte des Gesundheitswesens planen einen Streik im Februar.

Streiks sind ein wichtiger Teil der Arbeitskultur in Europa. In mehreren EU-Mitgliedstaaten, darunter Spanien und Deutschland, streikten die Menschen in letzter Zeit vor allem für bessere Gehälter und Arbeitsbedingungen.

Doch in welchen Ländern wird in Europa am häufigsten gestreikt? Legen Arbeitnehmer:innen in einigen Ländern häufiger die Arbeit nieder als in anderen? Wie hat sich die Zahl der durch Streiks verlorenen Arbeitstage im Laufe der letzten Jahrzehnte verändert?

Arbeitskampfmaßnahmen werden in der Regel anhand der "nicht geleisteten Arbeitstage" oder der "verlorenen Arbeitstage" aufgrund von Streiks oder Arbeitsniederlegungen gemessen. Die Zahl der durch solche Maßnahmen ausgefallenen Arbeitstage schwankt stark von Jahr zu Jahr. Daher sind Trends im Zeitverlauf aussagekräftiger als einfache Vergleiche von Jahresdaten.

Durch Streiks verlorene Arbeitstage in ganz Europa

Einem vom Europäischen Gewerkschaftsinstitut (ETUI) erstellten Datensatz zufolge hat sich die Rangfolge der Länder, in denen am häufigsten gestreikt wird, in den letzten 20 Jahren leicht verändert.

Zwischen 2000 und 2009 war der Jahresdurchschnitt der durch Streiks ausgefallenen Arbeitstage pro 1.000 Beschäftigte in Spanien am höchsten, wo durchschnittlich 153 Arbeitstage verloren gingen. Es folgte Frankreich mit 127 Tagen.

An dritter Stelle lag Dänemark (105 Tage) mit einem Jahresdurchschnitt von mehr als 100 verlorenen Arbeitstagen. Belgien und Finnland folgten mit jeweils 70 Tagen.

In Großbritannien gingen im Zeitraum 2000-2009 im Durchschnitt nur 28 Arbeitstage pro Jahr durch Streiks verloren. In Deutschland waren es nur 13 Tage und in den Niederlanden acht Tage. In mehreren Ländern wie der Schweiz und Polen gab es weniger als 10 Tage, die Streik-bedingt ausfielen.

Zwischen 2010 und 2019 verlor Zypern mit einem Jahresdurchschnitt von 275 Tagen die meisten Arbeitstage durch Streiks. Frankreich folgte dem Inselstaat in diesem Zeitraum mit 128 verlorenen Tagen.

In allen anderen Ländern, für die Daten verfügbar waren, fielen weniger als 100 Arbeitstage aufgrund von Streiks aus. Mehr als 15 Länder hatten in diesem Zeitraum weniger als 20 Ausfalltage, darunter 18 Tage in Großbritannien und 17 Tage in Deutschland.

Für den Zeitraum 2020-2021 liegen nur Daten für zwei Jahre vor, wobei für einige Länder keine Daten vorliegen. Frankreich (79 Tage) verzeichnete im Jahresdurchschnitt die meisten streikbedingten Ausfalltage, gefolgt von Belgien (57 Tage), Norwegen (50 Tage) sowie Dänemark und Finnland (jeweils 49 Tage).

Verlorene Tage in Frankreich, Großbritannien, Deutschland und Spanien aufgrund von Streiks

Ein genauer Blick auf die letzten zwei Jahrzehnte zeigt, wie die Zahl der durch Streiks ausgefallenen Arbeitstage in Frankreich, Deutschland, Großbritannien und Spanien von Jahr zu Jahr variierte.

In Frankreich erreichten die Ausfalltage pro 1.000 Beschäftigte im Jahr 2010 einen Jahresdurchschnitt von 364 Tagen. In Spanien war die Zahl der Ausfalltage Anfang der 2000er Jahre mit 295 Tagen im Jahr 2000, 365 Tagen im Jahr 2002 und 304 Tagen im Jahr 2004 besonders hoch.

Großbritannien und Deutschland hatten in den letzten beiden Jahrzehnten relativ gesehen weniger Ausfalltage als Frankreich und Spanien. Die höchste Zahl an Ausfalltagen in einem Jahr lag in beiden Ländern in diesem Zeitraum bei 57 Tagen. 

Durch Streiks verlorene Arbeitstage sind rückläufig

Wie das obige Diagramm für die vier ausgewählten Länder zeigt, sind die durch Streiks verlorenen Arbeitstage rückläufig.

OECD-Daten, die die 1990er Jahre und 2008-2018 vergleichen, machen diesen Trend sehr deutlich. Die durchschnittliche Zahl der durch Streiks verlorenen Arbeitstage pro 1.000 Beschäftigte ist in diesen beiden Zeiträumen in vielen Ländern deutlich zurückgegangen.

Spanien und die Türkei verzeichneten den stärksten Rückgang verlorener Arbeitstage. In Spanien sank sie von 309 auf 76 Tage. In der Türkei war der Rückgang von 223 Tagen auf 10 Tage noch deutlicher.

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Dänemark verzeichnete einen Rückgang von 169 Tagen auf 105 Tage, was darauf hindeutet, dass die Streikkultur in diesem Land immer noch stark ausgeprägt ist.

Belgien bildet eine Ausnahme von diesem Trend. Die durch Streiks verlorenen Arbeitstage stiegen in diesem Zeitraum von 31 Tagen auf 98 Tage.

Rückgang der Streiks in Großbritannien

Im Großbritannien gingen die durchschnittlichen verlorenen Arbeitstage zwischen den 1990er Jahren und 2008-2018 von 30 auf 20 Tage zurück.

Nach Angaben des Office for National Statistics ist die Zahl der streikenden Arbeitnehmer im Jahr 2017 in Großbritannien auf den niedrigsten Stand seit den 1890er Jahren gesunken.

Streikrecht und Tarifverhandlungen

Das Streikrecht ist wichtig für die Forderung nach besseren Lohn- und Arbeitsbedingungen. Tarifverhandlungen geben den Arbeitnehmer:innen bei Verhandlungen mit den Arbeitgeber:innen mehr Gewicht.

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Die Internationale Arbeitsorganisation (IAO) der Vereinten Nationen verfügt über Daten über die Tarifverhandlungsquote in den einzelnen Ländern, d.h. den Anteil der Beschäftigten, deren Lohn- und Arbeitsbedingungen durch einen oder mehrere Tarifverträge geregelt sind.

Die europäischen Länder haben im Allgemeinen die höchsten Deckungsraten der Welt.

Im Jahr 2020 oder dem letzten verfügbaren Jahr lag die tarifvertragliche Deckungsrate in fünf EU-Mitgliedstaaten bei über 90 Prozent. Italien (99 Prozent) lag an erster Stelle, gefolgt von Frankreich und Österreich (beide 98 Prozent). In Deutschland lag dieser Wert bei 52 Prozent und in Großbritannien bei 27 Prozent.

Die Türkei und Litauen (beide 7 Prozent) haben die niedrigsten Quoten bei Tarifverhandlungen in Europa.

Internationale Vergleichbarkeit der Daten

Die OECD weist darauf hin, dass die internationale Vergleichbarkeit der Daten über Streiks durch unterschiedliche Definitionen und Messungen beeinträchtigt wird. Das ETUI, die IAO und die OECD stellen umfassende Informationen darüber zur Verfügung, wie ihre Daten erhoben werden und was sie widerspiegeln.

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