Totgeschwiegen: Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz

Totgeschwiegen: Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz
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Von Valerie Zabriskie mit Margitta Kirstaedte (dt. Fassung)
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Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz ist immer noch ein Thema, über das kaum eine Betroffene spricht.

Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz ist immer noch ein Thema, über das kaum eine Betroffene spricht. Und der Gang vor Gericht oder zu den zuständigen Behörden bringt für die Opfer nicht unbedingt Gerechtigkeit.

“Drohungen, Berührungen – er hat mich umarmt, mich angefasst, mir vorgeschlagen, mit ihm zu schlafen.”

“Er hat mir geradeheraus Sex vorgeschlagen. Er hat mir Sex-Videos geschickt. Das erste Mal war ich in seinem Büro, da habe ich weggeguckt, aber ich war wirklich wie erschlagen.”

Die Frauen, die das erzählen, wollten nicht schweigen, sondern wandten sich an die Behörden. Rechtskräftig verurteilt wurde in beiden Fällen bisher noch niemand.

“Es waren SMS, die ich mehrere Monate lang bekam, die extrem eindeutig waren, ausdrückliche sexuelle Aufforderungen, die ich nicht wollte, ich war überhaupt nicht daran interessiert. Ich habe das mehrmals gesagt, aber es nutzte nichts”, erzählt auch Elen Debost. Sie ist Mitglied der französischen Grünen und stellvertretende Bürgermeisterin von Le Mans. Vor fünf Jahren sei sie von einem hochrangigen Parteikollegen belästigt worden, berichtet sie, vom Abgeordneten Denis Baupin. Er habe ihr monatelang SMS mit eindeutigem sexuellen Inhalt geschickt.

Lange habe sie geschwiegen. Bis sie in diesem März ein Foto sah: Baupin und andere Kollegen posieren zum Internationalen Frauentag mit Lippenstift, um sich gegen Gewalt gegen Frauen stark zu machen. “Ich bin über das Foto gestolpert, und da ist mir ganz schlecht geworden, ich musste mich übergeben. Am selben Tag wurde ihm eine neue interministerielle Aufgabe übertragen. Und zu wissen, dass er sich als Beschützer der Frauen hinstellen kann, weil wir geschwiegen und nichts unternommen haben, und dass er auch noch neue Missionen bekommt, wo er einen neuen Aktionsradius hat, wo er auf neue Frauen trifft, die nicht gewarnt wurden – da hatte ich wirklich den Eindruck, eine enorme Dummheit gemacht zu haben, indem ich nichts gesagt habe. Und dass das alles weitergeht, wenn ich weiterhin nichts sage.”

#mettezdurouge contre les violences faites aux femmes. Des députés s'engagent #8marshttps://t.co/nN6PtOl22Ppic.twitter.com/XGoVOKnzaY

— Denis_Baupin (@Denis_Baupin) March 8, 2016

Anfang Mai brach Elen Debost ihr Schweigen. Und war nicht die Einzige: Dreizehn Frauen werfen Baupin sexuelle Belästigung vor, von eindeutigen Kurzmitteilungen bis zu körperlicher Aggression. Baupin trat als Vizepräsident der französischen Nationalversammlung zurück, weist aber alle Vorwürfe von sich. Debost und zwei weitere Frauen erstatteten im Juni Anzeige.

Debost kann aber verstehen, warum andere sich nicht an die Öffentlichkeit wagen:
“Mehr als 90 Prozent der Frauen, die über sexuelle Belästigung oder Gewalt am Arbeitsplatz klagen, werden entlassen oder kündigen und haben danach echte Schwierigkeiten, wieder einen Job zu finden.”

Klare Grenze zwischen Flirt und Belästigung

Der jüngste Sexskandal in Frankreich wirft einmal mehr Licht auf das weitgehend totgeschwiegene Delikt der sexuellen Belästigung am Arbeitplatz. Keine französische Spezialität. Ein Delikt, dem allein in Frankreich laut Umfrage jede fünfte Frau schon einmal während ihres Berufslebens zum Opfer fiel. Nur fünf Prozent der Betroffenen zeigten demnach die Vorfälle an. Bei allen europäischen und französischen Gesetzen, die berufstätige Frauen vor so etwas schützen sollen.

Wie definiert man sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz? Wo ist die Grenze zwischen Verführung und Belästigung? Klare Sache für Christophe Dagues, einen französischen Gewerkschaftschef, der das Präventionsprogramm Respectées gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz ins Leben rief – mit Sensibilisierungskampagnen, Fortbildung und Beratung für Opfer: “Für uns ist die Grenze zwischen Verführung und sexueller Belästigung ganz eindeutig. Für den Belästiger kann es keine Unklarheit geben zwischen Verführung und dem, was in sexueller Belästigung ausartet. Man kann eine Mitarbeiterin am Abend zu einem Kaffee einladen oder ihr sagen, dass man sie hübsch findet oder dass sie einen nicht gleichgültig lässt. Aber in dem Moment, in dem sie zeigt, dass sie nicht interessiert ist, heißt es STOPP. Ganz einfach. Und wenn man dann nicht aufhört, wird es definitiv zur sexuellen Belästigung – aus dem einfachen Grund, dass die Angestellte nicht einfach weggehen kann. Sie kann nicht die Beziehungen zu den anderen Kollegen abbrechen, sie kann sich nicht aus dem Kollektiv ausgrenzen, und das gibt dem Kollegen, der sie belästigt, Macht über sie.”

Nicht immer Hilfe von den Behörden und Gerichten

Selbst wenn die Opfer vor Gericht gehen, heißt das noch nicht, dass sie Genugtuung bekommen. Im Justizpalast in Paris versuchen die Anwältin Maude Beckers und Marilyn Baldeck von der Organisation AVFT, die Opfer berät, einen Fall zu beweisen. Die betroffene Frau klagt, sie sei über ein Jahr lang von ihrem Chef in einem Kleinunternehmen sexuell belästigt worden. Sie sei infolgedessen wegen Depressionen krankgeschrieben worden. Als sie Anzeige erstattete, sei sie kurz darauf entlassen worden. Beckers und Baldeck hoffen, dass die Richter als Beweismittel Aufnahmen zulassen, die die Frau bei der Belästigung von ihrem Chef machte.

“Wir haben hier einen direkten Beweis”, betont die Anwältin. “Normalerweise findet sexuelle Belästigung unbemerkt von Dritten statt – wir haben selten direkte Beweise. Unser Ziel heute ist, klarzustellen, dass es keineswegs unloyal vom Opfer ist, Aufnahmen davon zu machen. Denn es handelt sich um ein Verbrechen, eine Störung der öffentlichen Ordnung. Und wenn die Frau das aufzeichnet, ist es keine Verletzung der Privatsphäre, sondern der Versuch, schwerwiegende Taten zu beweisen.”

Baldeck fügt hinzu: “Die Opfer finden sich vor Gericht oft selbst auf der Anklagebank wieder, wenn sie sexuelle Belästigung anprangern. Dieser Frau hier wird vorgeworfen, zu manipulieren und den Posten ihres Chefs einnehmen zu wollen. Man hält ihr vor, keine Gefühle vor Gericht zu zeigen und deshalb nicht glaubwürdig zu sein, denn alle Welt weiß ja: Ein Opfer sexueller Belästigung weint immerzu.”

Die Betroffene weiß, dass es ein harter Kampf ist: “Ich hatte bei der Anhörung wieder die Szenen vor Augen, ich durchlebe sie noch einmal, ich erinnere mich, warum ich dies getan habe, jenes. Meine Verzweiflung vor allem, diese Einsamkeit, diese Einsamkeit in einer kleinen Firma, da ist niemand. Ich habe mich an die Betriebsmedizin gewannt, man hat mich angesehen und gefragt, haben Sie schriftliche Beweise? Aber ich hatte nichts.”

Auch konkrete Beweise helfen nicht immer

Das Beweise nicht unbedingt zum Recht verhelfen, musste die Frau erkennen, die wir beim Benefiz-Lauf für die Organisation AVFT treffen. Über ein Jahr lang sei sie von ihrem Chef in der Polizeiwache, in der sie arbeitete, belästigt worden, erzählt sie. Sie wandte sich an den Bürgermeister, doch ihr Chef wurde nie bestraft. Es war Wahlkampf, und der Bürgermeister habe keinen Skandal in der Gemeinde riskieren wollen, glaubt sie. “Mein seelischer Zustand hat sich in dem Maße verschlechtert, wie die juristischen Absurditäten aufeinanderfolgten: Zuerst hat das Gericht den Fall abgelehnt, trotz eines übervollen Dossiers, trotz einer Kamera, die den ganzen Tag über meinem Kopf im Polizeirevier filmte. Dann wurde der Fall ein zweites Mal abgewiesen. Gleichzeitig gab es ein Disziplinarverfahren, dass den Belästiger reinwusch. Um pragmatisch zu sein, hat er zugegeben, dass er mir Pornovideos geschickt hatte und dass er mir eine Waffe unter der Bedingung zurückgegeben hatte, mit ihm Sex zu haben. Das hat er zugegeben. Umso verrückter ist es, dass der Disziplinarrat einstimmig entschied, ihn nicht zu sanktionieren.”

Erst als die AVFT für die Frau eine neue Klage einreichte, sprach schließlich ein Arbeitsgericht die Gemeinde schuldig, die Frau nicht geschützt zu haben. Ihr wurden 15.000 Euro zugesprochen, aber die Gemeinde hat Berufung eingelegt.

15.000 Euro Strafe für sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz

Den Opfern geht es nicht ums Geld – es geht um Gerechtigkeit, bekräftigt Anwältin Maude Beckers: “Letztlich sind die Richter nicht sehr großzügig in diesen Fällen. Die höchste Strafe, die ich ausgehandelt habe, waren 15.000 Euro. Für sexuelle Belästigung – die Frau wurde quasi vergewaltigt in einem Abstellraum und bekam 15.000 Euro Entschädigung samt Zinsen. Es ist offenkundig, dass die Opfer das nicht wegen des Geldes machen – man stellt die Frauen sehr oft als käuflich hin, das ist falsch. Sie machen das, weil es für sie notwendig ist, dass ihr Arbeitgeber verurteilt wird. Lebenswichtig, wie die Frau sagte, die ich heute vertreten habe.”

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Was tun bei sexueller Belästigung? Tipps bei:
www.antidiskriminierungsstelle.de
www.spiegel.de

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