Erklärt: Warum ist der Populismus in Europa so populär?

Fünf-Sterne-Bewegung-Kandidat Luigi Di Maio vor der Wahl am 4. März.
Fünf-Sterne-Bewegung-Kandidat Luigi Di Maio vor der Wahl am 4. März. Copyright REUTERS
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Von Chris Harris
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Italien, Griechenland und Tschechien sind die europäischen Länder, in denen Anti-Establishment-Parteien den größten Zulauf haben. Wie kommt diese politische Wende zustande?

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Italien ist Europas am schnellsten wachsende Brutstätte des Populismus geworden. Bei der Wahl Anfang März haben so viele Wähler wie nie für die euroskeptische, rechtgerichtete Lega und die Anti-Establishment Fünf-Sterne-Bewegung abgestimmt.

Die Wahl war von der schlechten Wirtschaftslage und der Migrationskrise in Italien geprägt und bescherte den Populisten insgesamt 50 % der Stimmen.

Italien steht damit an der Spitze eines EU-weiten Trends: Dem Umschwung zu Anti-Establishment-Parteien. Diese Entwicklung ist auch in Griechenland und der Tschechischen Republik besonders stark zu beobachten.

Nur in fünf der 27 EU-Länder der EU sind populistische Bewegungen in den vergangenen 10 Jahren verblasst, darunter Großbritannien, dessen "Anti-Elite"-Stimmung durch das Brexit-Referendum gezähmt wurde. Malta wurde bei dieser Statistik ausgeschlossen.

In Süd- und Mitteleuropa sind populistische Strömungen zuletzt stark gewachsen. Aber auch die großen europäischen Staaten Deutschland, Frankreich und Spanien sowie die skandinavischen Länder, allen voran Finnland und Schweden, sind von diesem Trend betroffen.

Allerdings ist Ungarn in der EU Vorreiter: Dort liegen Anti-Establishment-Parteien bei 65 % der Stimmanteile. Anfang April wählt das Land ein neues Parlament.

Allerdings regieren Populisten in der EU nur in Polen und Ungarn allein. Italien könnte bald folgen. In vielen europäischen Ländern regieren populistische Parte in einer Koalition mit anderen ähnlich gesinnten Parteien, so etwa in Österreich (ÖVP/FPÖ) und Bulgarien (GERB/Bündnis Vereinigte Patrioten).

Populismus in Europa

Was ist Populismus?

Populisten richten sich an 'gewöhnliche Menschen', die das Gefühl haben, dass ihre Sorgen vom "Establishment" ignoriert wurden. Anführer populistischer Bewegungen scheinen einfache Antworten auf schwierige Fragen zu haben.

Ruth Wodak, Expertin für Populismus von der Lancaster University, spricht von zwei breiten Strömungen.

Es gibt Rechtspopulismus, der in Nord- und Mitteleuropa weit verbreitet ist und die "Eliten" in nationalistischen oder sehr konservativen Fragen angreift. Linkspopulismus ist stärker in Südeuropa: Bei der Kritik am so genannten Establishment konzentrieren sich Linkspopulisten auf Kapitalismus und Globalisierung.

Woher kommt der Hang zum Populismus in Europa?

Wodak erklärte, dass die populistische Welle in Europa mit den Anschlägen vom 11. September 2001 begann: Das anschließende Durchgreifen von Sicherheitskräften legitimierte die Einschränkung der Menschenrechte und half rechtsextremen Parteien, die in Fragen wie Recht und Ordnung klare Meinungen vertreten.

Dann schlug die Finanzkrise zu und schürte den Populismus in Südeuropa inmitten der Angst vor Armut und Arbeitslosigkeit.

So entstanden in Griechenland Populisten aus beiden Extremen des politischen Spektrums: Syriza (links) und Golden Dawn (rechts).

"Gleichzeitig gab es einen Aufschwung in West- und Mitteleuropa: In Österreich, der Schweiz und den skandinavischen Ländern", sagte Wodak. "Nicht, weil sie so sehr von der Krise betroffen waren, sondern aus Angst, dass sie getroffen werden könnten. Um also Ihr Land zu schützen, um Ihre Vorteile zu schützen, um Ihr Wohlergehen zu schützen, wollen Sie keine Migranten und Flüchtlinge in ihre Länder lassen."

"Dann gibt es die osteuropäischen Länder, in denen die Flüchtlingsbewegungen rechtspopulistischen und extremen Parteien einen enormen Zuwachs bescherten. Das sind im Grunde genommen Ungarn und Polen, wo die entsprechenden Parteien die Mehrheit in Regierungskoalitionen haben."

"Sie legitimieren im Grunde genommen ihre Politik, indem sie auf den Islam und Flüchtlinge verwiesen. Demokratische Werte wie Freiheit der Medien, die Meinungsfreiheit und die Unabhängigkeit der Gerichte sind so bedroht."

"Das ist interessant, denn Polen hat keine Migranten! Es gibt ein paar Ukrainer, aber über sie beschwert sich niemand."

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Wird Populismus zur neuen Normalität?

Viel wird davon abhängen, wie die etablierten Parteien auf ihre Stimmverluste reagieren, meint Philippe Marliere, Experte für europäische Politik am University College London.

Der Kontinent befinde sich in einer politischen Krise am Ende eines langen politischen Zyklus, in dem seit dem Zweiten Weltkrieg konservative und sozialdemokratische Parteien dominierten.

"Mainstream-Parteien sind so unbeliebt geworden, weil ihre Politik von den Menschen abgelehnt wird, und das hat ein Vakuum geschaffen, in das diese populistischen Parteien eingreifen können", sagte er im Gespräch mit euronews.

"Entweder sie passen sich an und verändern sich, oder sie werden verschwinden", fügte er hinzu. "Es ist eine sehr ernste Herausforderung in Ländern wie Frankreich, Deutschland, Spanien und Italien."

Welche Auswirkungen wird die populistische Wende in Europa haben?

Der Aufschwung von Anti-Establishment-Parteien habe die rechtsgerichtete Politik normalisiert, so Wodak, die ein Buch über Populismus geschrieben hat.

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"Die Einwanderungspolitik ist strenger geworden, selbst in Ländern, in denen es keine Flüchtlinge oder Migranten gibt", sagte sie.

"Einige der Vorschläge von Rechtspopulisten wurden bereits übernommen und umgesetzt."

Sie sagte, dass freimütige populistische Anführer - wie US-Präsident Donald Trump - auch die offensive Rhetorik normalisiert hätten.

"Bestimmte Tabus wurden gebrochen, und jetzt ist es scheinbar in Ordnung, gewisse sehr diskriminierende Dinge zu sagen, auch ohne großen Skandal", fügte sie hinzu. "Die Hemmschwelle für Tabus und Konventionen ist gesunken, eine Normalisierung ist im Gange."

Mehr Populismus könnte auch Auswirkungen auf die Zukunft der EU haben.

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Experten sagen, dass es mehr Spannungen zwischen Brüssel und Ungarn und Polen geben wird, wenn sich die EU nicht ändert und auf die Botschaft eingeht, die populistische Wähler in den letzten zehn Jahren offenbar senden.

"Es gibt viele Kräfte in Europa, die es nicht mögen, Teil der EU zu sein", sagte Professor Marliere.

"Wenn man will, dass die EU überlebt, sich selbst wiederbelebt und verbessert, dann muss die Staatengemeinde die Probleme und Herausforderungen, die von links und rechts kommen, wahrnehmen und den Wählern zuhören", warnt Marliere.

"Veränderung ist unerlässlich, wenn die EU überleben will."

Wie hat Euronews entschieden, was eine populistische Partei ist?

Wir haben eine Klassifikation verwendet, die von der University of Melbourne entwickelt wurde.

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Sie stufte die Parteien nach dem Ausmaß ein, in dem sie sich gegen die politische Klasse, Finanzinstitutionen, Immigranten oder ethnische Minderheiten stellen. Auch die Persönlichkeit eines politischen Anführers und liberale demokratische Normen werden dabei beachtet.

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