"Achtung Atommüll": Wie warnen wir die Menschheit in 100.000 Jahren?

"Achtung Atommüll": Wie warnen wir die Menschheit in 100.000 Jahren?
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Von Marie Jamet & Alice Cuddy
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Einfache Warnsymbole, Statuen oder doch eine "Priester-Gemeinschaft" - Es gibt viele kreative Vorschläge, wie man unsere Nachkommen vor Atommüll-Standorten warnen könnte.

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Wie sollten wir - im Jahr 2021 - Informationen an unsere Nachkommen übermitteln, die im Jahr 12.000 oder gar 102.000 nach Christus auf der Erde unterwegs sind?

Diese Frage mag nicht als die brennendste erscheinen, aber da immer mehr Atommüll unter der Erde vergraben wird, versuchen viele Experten, einen Weg zu finden, zukünftige Generationen vor dem zu warnen, was unter ihren Füßen liegen wird.

Und es ist nicht so einfach, wie es scheint.

Das Problem mit dem Papier

Sich gut zu überlegen, wo man Atommüll-Lager errichten sollte, diese klar zu markieren und dann alles aufzuschreiben, scheint die naheliegende Lösung zu sein. Schließlich begann die Menschheit bereits vor 5.500 Jahren, ihre Geschichte zu dokumentieren, und die Wahrscheinlichkeit, dass wir einmal damit aufhören, erscheint gering.

Aber die Frage ist: Worauf sollten wir diese entscheidenden Informationen schreiben?

Stein und Papier verfallen. USB-Sticks und Server auch.

Einige Regierungsstellen, wie ANDRA - die französische Agentur für die Entsorgung radioaktiver Abfälle, haben damit begonnen, ihr Datenarchiv auf Dauerpapier zu speichern.

Aufgrund seiner Zusammensetzung auch als säurefreies Papier bekannt - kann es chemisch und physikalisch über einen langen Zeitraum stabil bleiben, im Gegensatz zu herkömmlichem Papier, das bei Lichteinwirkung und/oder Hitze vergilbt und mit der Zeit zerfällt.

Die Agentur hat auch Saphirscheiben gebaut und sie auf einer Seite mit Platin geätzt. Diese können bis zu 40.000 Seiten in Bild und Text enthalten und theoretisch etwa zwei Millionen Jahre überdauern.

Problem gelöst? ... Nun ja, nicht so schnell.

Sprache ist schließlich eine lebendige, sich verändernde Einheit. Deshalb haben wir Jahrzehnte gebraucht, um beispielsweise ägyptische Hieroglyphen zu entschlüsseln, und vielleicht auch Kopfschmerzen bekommen, als wir althochdeutsche Meisterwerke im Schulunterricht lesen mussten. Wer kann also vorhersagen, dass französische Wissenschaftler in 1.000 Jahren in der Lage sein werden, die aktuelle Form der Sprache Molières zu verstehen?

Und als ob das noch nicht genug wäre, stellt sich noch eine weitere Frage: Wo archivieren wir die Informationen, damit die zukünftigen Generationen sie finden können?

Die NEA-Atomenergiebehörde der OECD hat inzwischen eine Arbeitsgruppe eingesetzt, deren Aufgabe es ist, die besten Praktiken für die Verwaltung von Metadaten für die Endlagerung radioaktiver Abfälle festzulegen, so dass alle Informationen nicht nur ordnungsgemäß gespeichert, sondern auch leicht zugänglich sind.

Warum es dringend wird

Für die langfristige Erhaltung von Informationen sollten nicht allein die Entsorgungsorganisationen verantwortlich sein, sagte Dr. Gloria Kwong gegenüber Euronews. Sie ist stellvertretende Leiterin der Abteilung für die Entsorgung radioaktiver Abfälle bei der Nuclear Energy Assembly (NEA).

"Was wir jetzt aus vielen Ländern gehört haben, ist, dass man bei der Entwicklung einer Abfallentsorgungseinrichtung bei jedem Schritt auf die Menschen hören muss. Der soziale Input - die sozialen Anliegen - und auch Ausnahmen sollten ebenfalls berücksichtigt werden, auch bei der Gestaltung eines Informationsmanagementsystems", fügte sie hinzu.

Das Problem, warnte sie, wird umso dringlicher, da einige der Beschäftigten in der Atomindustrie und im Entsorgungssektor kurz vor dem Rentenalter stehen.

"Jeder muss darüber nachdenken, wie er sicherstellen kann, dass dieses Wissen an die nächste Generation von Gutachtern, Regulierungsbehörden oder sogar Abfallmanagern weitergegeben wird, damit diese dann wissen, wie sie an die Informationen kommen", erklärte sie.

Aber wie soll man das bewerkstelligen, wenn man sich nicht auf die traditionelle Erfassung von Informationen und die Sprachen, die wir derzeit verwenden, verlassen kann?

Warum uns die Sprache im Stich lässt

Mitte der 80er Jahre wurde vom US-Energieministerium eine Gruppe von Forschern beautragt, vor dem Bau der "Waste Isolation Pilot Plant" in New Mexico an einem Wissensübertragungssystem zu arbeiten. Die jetzt bestehende Anlage ist das einzige geologische Tiefenlager für radioaktive Abfälle in den USA.

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In einem Bericht empfahlen die Forscher rund um Thomas Sebeok von der University of Indiana die Schaffung eines nuklearen Priestertums, inspiriert von der katholischen Kirche, das Informationen über Generationen hinweg weitergeben sollte durch "eine Mischung aus ikonischen, indexischen und symbolischen Elementen" und "ein hohes Maß an Redundanz der Botschaften".

Semiotiker wie Francoise Bastide aus Frankreich und Paolo Fabbri aus Italien - Experten in der Erforschung von kommunikativen Zeichen und Symbolen - schlugen vor, gentechnisch veränderte Katzen zu verwenden. Bestimme Katzen würden dazu ausgewählt werden, weil sie in einigen Teilen der Welt sehr beliebt sind oder sogar verehrt werden, und würden dann die Farbe wechseln, wenn sie sich in der Nähe von radioaktivem Abfall befinden würden.

Die Ray Cat Lösung von Benjamin auf Vimeo.

Was ist mit Kunst?

Das Problem mit der Kunst, erklärte Peter Galison, Professor für Wissenschaftsgeschichte und Physik an der Harvard University, ist, dass, wenn eine Botschaft zu künstlerisch ist, sie möglicherweise nicht richtig verstanden wird, da sie unterschiedlich interpretiert werden kann.

Piktogramm über Gefahrstoffe. Zeichnung von Jon Lomberg/US Department of Energy

Stimmt. Aber wie Florian Blanquer erklärte, sind Piktogramme, genauso wie Sprache, ebenfalls Symbole, die nur funktionieren, wenn sie auf sozialen Konventionen basieren. Wenn die zugrunde liegende soziale Konvention verblasst, dann tut es auch die Bedeutung des Symbols.

Zum Beispiel wissen Sie genau, was das Schädelpiktogramm bedeutet. Wenn Sie jetzt an den Tod denken, liegen Sie richtig. Doch dieses Symbol, so Blanquer, "stammt eigentlich von den Alchemisten."

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"Der Schädel repräsentiert Adam und die sich kreuzenden Knochen das Versprechen der Auferstehung", verriet er. So hat sich dieses spezielle Piktogramm im Laufe weniger Jahrhunderte von der Bedeutung der Auferstehung zum Symbol des Todes entwickelt.

Vielleicht könnte man eine Art Comic zeichnen, von jemanden der Atommüll berührt und dann stirbt? Das wäre ziemlich klar, oder? Aber das würde ebenfalls Gefahr laufen, missverstanden zu werden, warnte Blanquer, denn es könnte umgekehrt gelesen werden: Einige Kulturen lesen von rechts nach links, einige von links nach rechts und andere von oben nach unten oder umgekehrt.

Trotzdem haben für Blanquer Piktogramme und Zeichen die besten Chancen, über Generationen hinweg zu bestehen, denn "die Statue einer Katze ist keine Katze, aber sie sieht aus wie eine Katze und das Piktogramm eines Flugzeugs, das abhebt, sieht aus wie ein Flugzeug, das abhebt". Dennoch, da die Menschen verstehen, was sie aufgrund ihrer Standpunkte und Erfahrungen wissen, können Piktogramme nicht allein funktionieren.

Blanquer's Doktorarbeitsvorschlag ist es, ein System zu schaffen, durch das, wenn jemand ein Symbol sieht, er auch das Objekt sehen würde, das es repräsentiert, und eine Aktion durchführen müsste, die die Verwendung des Objekts erfordert.

Sein Ziel ist es, "ein System zu haben, das ich dann komplexer machen kann, damit die Menschen das verstehen, was ich ihnen verständlich machen will; einfach gesagt, dass unter ihnen radioaktiver Abfall liegt".

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Zeitkapsel

Wem das zu kompliziert ist: Es gibt andere Lösungen, die weder Text noch Bilder erfordern.

Der französische Künstler Bruno Grasser, Preisträger einer 2016 von ANDRA ins Leben gerufenen Auszeichnung, hat eine Möglichkeit entwickelt, Informationen über Atommülldeponien mittels Radierungen zu übermitteln - eine Kunst, die von der Menschheit seit Jahrtausenden beherrscht und genutzt wird.

Aber anstatt die Informationen in Stein zu ätzen, der langsam verblassen kann, schlägt Grasser vor, das Gegenteil zu tun. Man würde ausgewählten Menschen mit Ton gefüllte Kapseln geben, die zu 2.500 kleinen Würfeln geformt sind und jeweils eine Zeiteinheit darstellen.

3D-View von Grassers Beitrag zum ANDRA-Preis.

Diese Kapseln würden alle 40 Jahre weitergegeben werden und die neuen Besitzer würden dann einen der kleinen Würfel auskratzen, bis die Kapsel völlig glatt ist.

"Es wäre ein 100.000 Jahre andauernder Countdown, der für das Aussterben aller Risiken im Zusammenhang mit vergrabenen radioaktiven Abfällen notwendig ist", erklärte Grasser.

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Zeitgenössisches Stonehenge

Andere fragen sich, wie am besten signalisiert werden kann, dass ein Standort Atommüll enthält, sollten wir es tatsächlich versäumen, das Wissen über seine Existenz und Gefahr zu vermitteln.

Da Abfälle entweder nahe oder tief unter der Oberfläche vergraben werden, sollte das Signal sowohl über als auch unter der Oberfläche gesehen werden. Die Forscher des US-Energieministeriums hatten in den 80er-Jahren auch verschiedene Denkmäler vorgesehen, um den Standort kennzuzeichnen, wie etwa bedrohliche Statuen von Blitzschlägen oder riesige Granitblöcke, die in einem engen Raster positioniert waren.

Zweiunddreißig Jahre nach diesen Vorschlägen, ohne die Ideen aus den 80er-Jahren zu kennen, haben sich Les Nouveaux Voisins, die beiden Architekten, die den ANDRA-Preis 2016 erhielten, eine Art zeitgenössisches Stonehenge vorgestellt - nach dem Vorbild des prähistorischen Denkmals in Südostengland.

Forstprojekt für ANDRA, Les Nouveaux Voisins - Alle Rechte vorbehalten.

Ihr Vorschlag sieht vor, 80 Betonpfeiler (die dreißig Meter hoch sind) aufzustellen, die dann langsam in den Boden eintauchen würden, so dass die auf der Spitze jeder Säule gepflanzten Eichen sie im Laufe der Jahre ersetzen würden, wenn die Radioaktivität nachlässt. Ziel ist es, die Landschaft zu prägen und eine greifbare Spur über und unter der Oberfläche des Vorhandenen zu hinterlassen.

Forstprojekt für ANDRA, Les Nouveaux Voisins - Alle Rechte vorbehalten.

Sonst noch Vorschläge?

Das finnische Projekt von Onkalo hat einen ganz anderen Ansatz: Was wäre, wenn wir eine Lösung finden würden, die es uns erlaubt, zukünftigen Generationen einfach nichts zu sagen?

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"Das Gesamtkonzept der Firma Posiva (die das Projekt leitet) ist, dass 100 bis 120 Jahre nach der Schließung eines Atommüll-Standortes keine Signalisierung mehr erfolgt. Die 500 Meter bis zum Speicherplatz in der geologischen Schicht werden mit Gestein gefüllt und das Ganze wird isoliert und in der Naturlandschaft unsichtbar sein."

Aber einige haben das Projekt kritisiert, darunter Florian Blanquer, der es als "Nicht-Lösung" bezeichnete.

"Es ist eine ansprechende Idee, sicher, aber diese Utopie, zu sagen, dass nichts passiert ist, kann schnell zu einer echten Dystopie werden", sagte er.

Posiva wieß die Kritik zurück: "Es würde Jahre dauern, mit einem Material zu graben, das wahrscheinlich gar nicht existiert", sagte ein Posiva-Sprecher gegenüber Euronews. "Und der Standort ist zudem nicht interessant in Bezug auf Bergbau-Ressourcen."

"Außerdem sollten Sie beachten, dass es nach der nächsten Eiszeit sowieso keine Stadt oder Gebäude in Europa mehr geben wird. Alles wird unter zwei Kilometern Eis verschwunden sein. Ihre Frage (nach der Notwendigkeit, die Präsenz über Tausende von Jahren hinweg zu kommunizieren) ist also völlig hypothetisch", fügte er hinzu.

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Von Bedeutung ist jedoch auch, dass es derzeit keinen wissenschaftlichen Konsens darüber gibt, wann die nächste Eiszeit stattfinden könnte. Einige ernste Studien sagen diese bereits in 1.500 Jahren voraus, andere erst 100.000 Jahre später. Es ist auch unmöglich zu sagen, welche Ressourcen zukünftige Generationen gewinnen werden: Beispiele aus der Vergangenheit zeigen, dass das, was wir heute als wertlos ablegen, in Zukunft als wichtig angesehen werden könnte.

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