Covid-19 ist nicht tödlich, das Problem ist das Immunsystem erkrankter Patienten

Covid-19 ist nicht tödlich, das Problem ist das Immunsystem erkrankter Patienten
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Von Rafael Cereceda
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Eine Infektion mit dem Coronavirus und der von ihm ausgelösten Krankheit ist streng genommen nicht tödlich. Tödlich ist die Reaktion des Immunsystems von Patienten, das lebenswichtige Organe angreift.

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Das Problem bei einer sich so schnell und weit verbreitenden Pandemie wie bei der des neuartigen Coronavirus besteht darin, dass Wissenschaftler und Ärzte das Virus nur nach und nach langsam besser kennenlernen. Das Wissen ändert sich fast täglich. Hinzu kommt, dass etliche wissenschaftliche Berichte veröffentlicht werden, für die die Ärzte vor Ort keine Zeit zum Lesen haben, weil viele damit beschäftigt sind, Leben zu retten.

Teilweise hat man das Gefühl, dass die Wissenschaft in dem gut gemeinten Wettlauf um das Verständnis der Pandemie zu schnell vorankommt und damit mehr Verwirrung stiftet als alles andere.

COVID-19, die "unbekannte" Krankheit mit mehreren Gesichtern

  • Die Hälfte der Infizierten entwickelt keine Symptome, kann das Virus aber übertragen
  • Der Großteil der Patienten hat nur leichte Symptome
  • Bei schwer erkrankten Patienten ist es nicht das Virus, das tötet, es ist eine unkontrollierte Reaktion des Immunsystems, bei der viele lebenswichtige Organe geschädigt werden
  • Warum einige Patienten, unabhängig von ihrem Alter, schwere Symptome entwickeln, ist bisher nicht bekannt
  • Das Virus kann das Nervensystem angreifen. In einigen Fällen ist das Atemversagen offenbar nicht mit einer Lungenentzündung, sondern mit einem neurologischen Versagen verbunden
  • Bis wann genesene Patienten ansteckend sind, wissen Forscher noch nicht
  • Es bestehen Zweifel daran, wie lange die Immunität nach der Krankheit anhält

Diese sich ständig ändernden Informationen tragen dazu bei, dass von den Behörden unterschiedliche, manchmal widersprüchliche Ratschläge kommuniziert werden. Sei es zum Tragen von Gesichtsmasken oder zur Erkennung erster Symptome.

Einige glauben immer noch es sei "nur eine kleine Grippe", andere sprechen von einem tödlichen Alptraum der öffentlichen Gesundheit.

Zu Beginn der Epidemie glaubte man, dass Husten und Fieber die eindeutigen Anzeichen für eine Coronavirus-Infektion seien. Jetzt weiß man, dass die Krankheit eine Vielzahl von Symptomen und bei sehr vielen auch überhaupt keine Symptome verursacht.

Man geht davon aus, dass etwa 50% der infizierten Patienten asymptomatisch sind - was einer der Hauptfaktoren für die rasend schnelle Verbreitung des neuartigen Coronavirus ist.

Viele genaue Details über die Krankheit sind noch weitgehend unbekannt. Die Ärzte behandeln Covid-19-Erkrankte von Fall zu Fall, mit klassischer Notfallmedizin. Allerdings kommt langsam Licht ins Dunkel...

Wir fassen einige Details zusammen von Ärzten, die an vorderster Front arbeiten. Sie helfen, um zu verstehen, warum Covid-19 für die gefährdete Bevölkerung und unsere Gesundheitssysteme so gefährlich ist.

AP Photo/Francisco Seco
Ein COVID-19-Patient auf einer Intensivstation in Belgien. Viele Krankenhäuser sind trotz der vielen guten Gesundheitssysteme mit der Anzahl der Patienten völlig überfordert.AP Photo/Francisco Seco

Wie entwickelt sich Covid-19?

Wie Roger Paredes, Leiter der Abteilung für Infektionskrankheiten im Krankenhaus Germans Trias i Pujol in der Nähe von Barcelona, gegen¨über Euronews erklärte, teile er Menschen, die Symptome von Covid-19 entwickeln, in drei verschiedene Infektionsstadien ein:

Die virale Phase: wenn sich das Virus sehr schnell in den Atemwegen vermehrt. Die Symptome ähneln einer gewöhnlichen Grippe und verschwinden spontan nach 6 bis 10 Tagen (ungefähr). Dies ist bei etwa 80% der Patienten der Fall.

Die pulmonale Phase: Bei den anderen bis zu 20% der Patienten kann sich eine Lungenentzündung entwickeln. Es handelt sich um eine sehr spezifische Art der Lungenentzündung, die beide Lungen angreift und zu Atemnot führt.

Schwere Phase: Bei etwa 10% der Patienten entwickelt sich ein "Zytokinsturm", eine unkontrollierte Entzündungsreaktion des Immunsystems, die die meisten kritischen Zustände und letztendlich auch Todesfälle verursacht.

Warum endet es in manchen Fällen tödlich?

Die Ärzte vor Ort berichten, dass in schweren Fällen nicht eine hohe Viruslas (Konzentration des Virus), sondern ein Zytokinsturmsyndrom entsteht.

"Der Zytokinsturm ist ein Problem, mit dem wir auf der Intensivstation recht häufig konfrontiert sind", sagt Rafael Máñez, Leiter der Intensivstation des Krankenhauses Bellvitge, ebenfalls in der Nähe von Barcelona. Andere Infektionen und sogar einige Medikamente können es auslösen. "Das Problem ist, dass wir keine Behandlung haben, weder gegen das Virus noch für die Entzündungsreaktion", sagt Máñez gegenüber Euronews. "Wir haben nur unterstützende Behandlungen, um die lebenswichtigen Organe des Patienten zu schützen". Ärzte verwenden Beatmungsgeräte oder Medikamente zur Kontrolle des Blutdrucks oder Kortikoide zur Verringerung der Entzündung.

Ein weiterer Ansatzpunkt ist der Einsatz von Medikamenten zur Blockierung von Interlukin-6, einem pro-inflammatorischen Zytokin, das vom Immunsystem produziert wird.

Das Problem ist, dass wir keine Behandlung haben, weder gegen das Virus noch für die Entzündungsreaktion.
Rafael Máñez
Leiter der Intensivstation des Krankenhauses Bellvitge

Máñez erklärte, dass Zytokinstürme zwar während der Grippesaison auftreten, die Patienten aber nur schrittweise aufgenommen werden. "Aufgrund der hohen Infektionsraten von Covid-19 bekommen wir mehr Patienten, als wir bewältigen können".

Es gebe einen Konsens darüber, dass starke Abwehrkräfte dabei helfen, mit der Krankheit fertig zu werden: "Aber man braucht kein starkes Immunsystem, sondern ein ausgewogenes", stellt er fest.

Dr. Paredes leitet in Zusammenarbeit mit dem US National Institute of Health eine klinische Studie mit Remedesivir. Sie wird drei Jahre dauern.

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AP Photo/Emilio Morenatti
Ältere Menschen gelten als besonders gefährdet. Gonzalo Garcia aus Barcelona hat Atemprobleme. Seine 91-jährige Mutter ist auf seine Hilfe angewiesen.AP Photo/Emilio MorenattiEmilio Morenatti

Zytokinstürme, ein obskures Syndrom

"Die genauen Mechanismen von Zytokinstürmen sind so gut wie unbekannt", sagt Paredes. "Die Entzündungsreaktion ist eine natürliche Reaktion des Immunsystems. Sie ist notwendig, um Zellschäden zu reparieren. Bei einer normalen Lungenentzündung schädigen die Keime das Lungengewebe, und das Immunsystem erzeugt eine Entzündungsreaktion, um sie zu stoppen. Das Immunsystem 'tötet' einige Zellen, um das beschädigte Gewebe zu reparieren. Was jetzt mit dem Coronavirus geschieht, ist, dass es statt einiger weniger Zellen Tonnen von Zellen aussendet, die eine unkontrollierte Entzündungsreaktion auslösen, die sich nicht nur in der Lunge, sondern auch im restlichen Körper weit verbreiten kann".

In der Tat gibt es Berichte über Nieren-, Darm- oder Koronarschäden. "Ich habe einen jungen Patienten mit einer Myokarditis (Entzündung des Herzmuskels)", sagt Dr. Máñez.

Und es wird vermutet, dass einige der Patienten mit starken Kopfschmerzen an einer Enzephalitis (Gehirnentzündung) leiden könnten.

Welche Faktoren die Patienten zur Entwicklung des Syndroms prädisponieren, wissen Ärzte bisher nicht. In Bezug auf Covid-19 ist das Alter sehr wichtig. "Der Schlüssel liegt darin zu verstehen, wer am anfälligsten ist", sagt Paredes, "etwa 70% unserer Patienten sind älter als 70 Jahre, und zwischen 10% und 15% sind jünger als 60 Jahre".

Wissenschaftler glauben, dass die Genetik eine wichtige Rolle bei den seltenen Fällen spielt, in denen junge Patienten das Syndrom entwickeln.

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Wenn Menschen jeden Alters unter einem Zytokinsturm leiden, geht der Abbau sehr schnell vonstatten, so dass es sehr wichtig ist, die frühen Anzeichen zu erkennen, sagt Paredes.

Máñez glaubt, dass Fettleibigkeit die Wahrscheinlichkeit einer Entzündungsreaktion erhöht.

COVID-19 kann das zentrale Nervensystem angreifen

Forschung und Erfahrung vor Ort zeigen, dass das SARS-CoV-2-Virus das zentrale Nervensystem angreifen kann. Dr. Paredes berichtet, dass einige Patienten mit Atemnot manchmal den Sauerstoffmangel oder die Lungenentzündung nicht spüren.

Er vermutet, dass diese Patienten in Atemnot geraten, gerade weil ihr Nervensystem nicht in der Lage ist, ihnen das Atmen zu ermöglichen. Dies wurde auch in einigen wissenschaftlichen Studien vermutet.

Der häufig berichtete Verlust von Geruchs- und Geschmackssinn würde laut Paredes in einigen Fällen auch auf diese Vermutung mit dem zentralen Nervensystem zustimmen.

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Ärzte auf der ganzen Welt berichten von Fällen neurologischer Störungen, wie Blutgerinnsel, Schwindel, Verwirrung oder Krämpfe, die vermuten lassen, dass das Virus in das zentrale Nervensystem eindringen kann. Das Krankenhaus der Universität Brescia in Italien hat eine separate NeuroCovid-Einheit eröffnet, die sich um Patienten mit neurologischen Erkrankungen kümmert, wie die New York Times berichtet.

Ein Team aus Wuhan, dem ersten Epizentrum der Pandemie, hat ein vorläufiges Forschungspapier herausgegeben, in dem berichtet wird, dass 36,4% der 214 von ihnen untersuchten Patienten unterschiedliche Grade neurologischer Störungen entwickelten. Die Vorläufer von SARS-nCoV-2, SARS und MERS, griffen ebenfalls das zentrale Nervensystem an.

Alle Studien deuten darauf hin, dass dies eher seltene Fälle sind, die aber nicht unterschätzt werden sollten.

Und wie geht es weiter?

Auch wenn die Wissenschaftler allmählich beginnen, die Krankheit besser zu verstehen, so bleiben doch noch viele Fragen zu den Perspektiven für geheilte Patienten offen, Dazu gehört z.B. wie lange Erkrankte nach der Heilung noch immun sind oder welche langfristigen Auswirkungen Covid-19 auf die Organe hat.

Laut Roger Paredes verbringen entlassene Patienten in Spanien zwei weitere Wochen in Quarantäne zu Hause, bevor sie erneut getestet werden. Es wird derzeit diskutiert, wie lange diese Patienten Überträger für andere bleiben. Die derzeitigen PCR-Tests sind nicht 100% zuverlässig, um dies festzustellen. Es wird von Antikörpertests in großen Bevölkerungsproben abhängen.

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Während viele Regierungen ihre sogenannten "Exit-Pläne" vorbereiten, hat das Europäische Zentrum für Seuchenkontrolle (ECDC) davor gewarnt, dass ein überstürzter Wiederanfang des normalen Lebens zu einer zweiten Welle führen könnte. In einigen asiatischen Ländern wie etwa Singapur konnte diese Entwicklung gerade beobachtet werden. Dennoch wollen auch einige europäische Länder die Bewegungseinschränkungen und sozialen Distanzierungsmaßnahmen - wohl schrittweise - aufheben.

"Bevor die Mitgliedstaaten die Aufhebung von Maßnahmen in Erwägung ziehen, sollten sie sicherstellen, dass verbesserte Test- und Überwachungssysteme für die Bevölkerung und die Krankenhäuser vorhanden sind, um zu Eskalations- und Deeskalationsstrategien zu informieren und zu überwachen und die epidemiologischen Folgen zu bewerten", so das ECDC.

Trotz des wissenschaftlichen Fortschritts sind die häusliche Quarantäne, Abstand halten, Hände waschen und andere generelle Hygienemaßnahmen bisher die besten Strategien gegen eine Infektion mit dem Virus. "Wir hätten nie gedacht, dass sich so etwas ereignen könnte. Mit dieser Krise erkennen wir, dass wir doch sehr verletzlich sind", fasst Dr. Rafael Máñez zusammen.

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