Iran-Proteste: Warum ist Haareschneiden ein Akt der Rebellion?

Eine Frau schneidet sich die Haare während einer Demonstration in Istanbul, Türkei, Sonntag, 2. Oktober 2022.
Eine Frau schneidet sich die Haare während einer Demonstration in Istanbul, Türkei, Sonntag, 2. Oktober 2022. Copyright Emrah Gurel/Copyright 2022 The Associated Press. All rights reserved
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Von David Mouriquand
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Frauen im Iran und auf der ganzen Welt haben Kopftücher verbrannt und dabei "Frauen, Leben, Freiheit" gerufen, und einige haben sich auch in der Öffentlichkeit die Haare abgeschnitten oder rasiert.

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Seit dem Tod der 22-jährigen Masha Amini am 16. September, die von der iranischen Sittenpolizei verhaftet wurde, weil sie sich angeblich nicht an die strenge Kleiderordnung der Islamischen Republik gehalten hatte, wird der Iran von Protesten erschüttert.

Masha Amini wurde in einem "Umerziehungszentrum" festgehalten und starb drei Tage später im Krankenhaus. Die Regierung behauptet, Amini sei an einem "plötzlichen Herzinfarkt" gestorben, doch ihre Familie sagt, sie habe keine gesundheitlichen Probleme gehabt und glaube, dass sie getötet wurde.

Seitdem haben Demonstrant:innen im Nahen Osten, in Europa und in den Vereinigten Staaten gegen Aminis Tod protestiert, gegen die Hidschab-Gesetze des Landes demonstriert und Zeichen der Solidarität mit der weiblichen Bevölkerung des Iran gesetzt.

Die iranischen Sicherheitskräfte sind gnadenlos gegen Demonstranten vorgegangen. Hunderte wurden verhaftet, und einige Menschenrechtsorganisationen gehen davon aus, dass die Zahl der Todesopfer in die Hunderte gehen könnte.

Am 4. Oktober kam der Tod der 16-jährigen Nika Shakrami hinzu, den viele Menschen als "Zeichen der kriminellen Herrschaft der Islamischen Republik" verurteilen. Shakrami wurde an ihrem 17. Geburtstag beigesetzt.

Frauen im Iran und überall auf der Welt haben Kopftücher verbrannt und dabei "Frauen, Leben, Freiheit" und "Nein zum Kopftuch, nein zum Turban, ja zu Freiheit und Gleichheit" gerufen. Einige haben auch ihre Haare in der Öffentlichkeit abgeschnitten oder rasiert.

Warum schneiden sich Frauen vor laufender Kamera die Haare ab?

Für viele iranische Frauen ist das Haar ein Zeichen von Schönheit, das in der Islamischen Republik durch einen Hidschab bedeckt werden muss.

"Das Abschneiden der Haare ist eine sinnvolle Form des Protests", sagt eine Euronews-Journalistin aus dem persischen Team, die aus Angst vor Konsequenzen in ihrem Land und der Sicherheit ihrer Familie im Iran ihren Namen nicht nennen möchte.

"In der Geschichte des Irans haben sich die Frauen, wenn sie nicht genug Macht hatten, um sich zu wehren, die Haare abgeschnitten", so die Journalistin weiter. "Es war immer ein Symbol der Rebellion und um einen Kampf zu beginnen."

In der Tat ist das Abschneiden der Haare ein Symbol des Protests und der Trauer, das auf Ferdowsis persisches Epos Shahnameh zurückgeht, eines der längsten epischen Gedichte der Welt, das zwischen ca. 977 und 1010 n. Chr. geschrieben wurde.

Es ist das Nationalepos Irans, Afghanistans und Tadschikistans und berichtet von der Erschaffung der Welt und der muslimischen Eroberung im siebten Jahrhundert. Im gesamten Shahnameh ist das Haar ein wiederkehrendes Motiv und wird oft zerrissen oder abgeschnitten, um Trauer oder Verlust zu signalisieren.

Oscar-Preisträger:innen und internationale Gemeinschaft engagieren sich

Tausende von Frauen auf der ganzen Welt haben sich die Haare abgeschnitten - eine Bewegung, die nun auch auf Prominente, Politiker und Aktivisten übergreift.

Die schwedische Europaabgeordnete Abir Al-Sahlani schnitt sich die mitten im Europäischen Parlament ab,  um ihre Solidarität mit den Regierungsgegnern im Iran zu zeigen.

"Bis der Iran frei ist, wird unsere Wut größer sein als die der Unterdrücker. Solange die Frauen im Iran nicht frei sind, werden wir an Ihrer Seite stehen", sagte Al-Sahlani, als sie sich vor den Abgeordneten des Europäischen Parlaments in Straßburg den Pferdeschwanz abschnitt.

Sie beendete ihre Rede mit den Worten "Jin, Jiyan, Azadi" - kurdisch für "Frau, Leben, Freiheit".

In Paris legten französische Abgeordnete und Minister:innen in der Nationalversammlung eine Schweigeminute ein, um den Iraner:innen zu gedenken, die "ihren Kampf für die Freiheit mit dem Leben bezahlt haben."

"Ich möchte gemeinsam mit Ihnen an Frau Mahsa Amini erinnern. Es war am 16. September im Iran", sagte Yaël Braun-Pivet, Präsidentin der Nationalversammlung.

"Sie wurde im Namen der angeblichen Tugendhaftigkeit wegen einer einzigen Haarsträhne, die aus ihrem Schleier ragte, brutal verhaftet und starb. Seitdem haben Frauen, Männer und die gesamte Jugend des Irans, deren unglaublicher Mut bewundert werden muss, ihren Freiheitsdrang zum Ausdruck gebracht."

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Mehr als 50 prominente Französinnen haben sich beim Abschneiden ihrer Haare gefilmt, darunter die französischen Schauspielerinnen Juliette Binoche, Marion Cotillard, Isabelle Adjani, Isabelle Huppert und die Sängerin Jane Birkin.

Binoche, die in "Der englische Patient", "Caché" und "Chocolat" mitgespielt hat, war auf dem Video zu sehen, wie sie sich die Haare abschneidet und dabei erklärt: "Für die Freiheit".

Auf Instagram wurde das Video von der Nachricht begleitet: "Es ist unmöglich, nicht immer wieder diese schreckliche Repression anzuprangern. Die Zahl der Toten geht bereits in die Dutzende, darunter auch Kinder. Die Verhaftungen erhöhen nur die Zahl der bereits illegal festgehaltenen und zu oft gefolterten Gefangenen. Wir haben daher beschlossen, dem Aufruf zu folgen und einige unserer Haarsträhnen abzuschneiden.!

Das Video von Cotillard, Binoche und Dutzenden anderer Frauen, die sich eine Haarsträhne abschneiden, wurde auf dem Instagram-Account "soutienfemmesiran" veröffentlicht - was übersetzt so viel heißt wie "Frauen im Iran unterstützen". Der Beitrag wurde in anderen sozialen Medien, darunter Facebook und Twitter, weit verbreitet.

"Die iranischen Frauen erwarten Unterstützung von der internationalen Gemeinschaft. Dies ist eine gute Art, diese Unterstützung zu zeigen", sagte der französische Anwalt Richard Sedillot, der die Aktion initiiert hat, der Nachrichtenagentur Reuters.

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"Es ist nur ein erster Schritt, ich hoffe, dass alle Menschen auf der Welt folgen werden, nicht nur Schauspielerinnen, sondern alle. Auch Männer könnten sich die Haare schneiden; ich denke, das wird passieren."

Letzte Woche schnitt sich Nazanin Zaghari-Ratcliffe die Haare, um ihre Unterstützung für die Frauen im Iran zu zeigen. Die britisch-iranische Staatsbürgerin, die sechs Jahre im Iran inhaftiert war, nahm ein Video auf, in dem sie sich mit einer Schere die Haare schneidet.

Sie spricht auf Farsi und zählt die Namen der Menschen auf, die bei den Protesten ums Leben gekommen sind, darunter auch Frau Amini. Am Ende des Clips, der von der BBC veröffentlicht wurde, sagt sie: "Für meine Mutter, für meine Tochter, für die Angst vor der Isolationshaft, für die Frauen meines Landes, für die Freiheit".

In Italien hinterließen Besucher des MAXXI, des Nationalen Zentrums für zeitgenössische Kunst und Architektur in Rom, an der Rezeption Haare in einer durchsichtigen Box, die an die iranische Botschaft in Rom geschickt wird.

"Sie müssen wissen, dass sie nicht allein sind. Sie müssen wissen, dass das, was sie fordern, nämlich die grundlegenden Menschenrechte, etwas ist, wofür wir an ihrer Seite kämpfen wollen", sagt Giovanna Melandri, Präsidentin des MAXXI-Museums für zeitgenössische Kunst.

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Marge Simpson Der Schnitt von aleXsandro Palombo
Marge Simpson schneidet sich in Mailand vor dem iranischen Konsulat die Haare ab.Marge Simpson Der Schnitt von aleXsandro Palombo

"Diese Initiativen sind eine wichtige Möglichkeit für die internationale Gemeinschaft, sich an den Iran zu erinnern. Je größer und öffentlichkeitswirksamer die Reaktion, desto besser", sagt die Journalistin des Euronews Persian Teams. "Ich erinnere mich, dass im Jahr 2019 während weniger als zwei Wochen Proteste etwa 1.500 Menschen getötet wurden, bei einer der größten Niederschlagungen seit der Islamischen Revolution 1979. Damals haben nur wenige darüber berichtet und noch weniger erinnern sich heute daran."

"Die Schauspieler können nicht mehr tun", sagt sie, "aber ihre Aktionen sind wichtig."

"Es ist ein guter Anfang, und mit dieser Art von Unterstützung werden die Regierungen aufhorchen und dem Iran auf praktischer Ebene helfen."

"Am wichtigsten ist, dass je mehr solidarische Menschen in die Schlagzeilen kommen, desto mehr kann ein internationales Publikum einen Unterschied zwischen den Iraner:innen und der Islamischen Republik feststellen." 

"Die Iraner:innen und die jüngere Generation akzeptieren den radikalen Aspekt der Religion nicht, und je mehr darüber berichtet wird, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit einer schädlichen Vermischung."

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