Antonio Tajani: "Die Industrie muss im Zentrum unserer Wirtschaftspolitik stehen"

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Serge Rombi für euronews: “Herzlich Willkommen im Brüsseler Studio von euronews. Ich spreche heute mit Antonio Tajani, Vizepräsident der Europäischen Kommission und EU-Kommissar für Unternehmen und Industrie.”

Antonio Tajani, Vizepräsident der Europäischen Kommission und EU-Kommissar für Unternehmen und Industrie: “Guten Tag.”

euronews: “Fabriken werden geschlossen, Arbeiter und Angestellte verlieren ihre Arbeit und es gibt kleine und mittlere Unternehmen, die die Krise nicht überleben. Ist das alles unvermeidlich, oder kann man etwas dagegen tun?”

Antonio Tajani: “Wir müssen Lösungen finden. Wir versuchen alles, um die Realwirtschaft in den Mittelpunkt unserer Politik zu stellen. In der Vergangenheit haben wir Fehler gemacht, wir haben Finanzen und Dienstleistungen ins Zentrum gestellt. Industrie und Unternehmen spielten nur eine Nebenrolle. Dabei sollte es genau umgekehrt sein: Industrie und Unternehmen im Mittelpunkt und die Finanzwelt als Unterstützung der Realwirtschaft.”

euronews: “Die Zeit drängt, denn es gibt Bereiche, die sehr stark betroffen sind. Ich denke da vor allem an die Automobilindustrie, ein Großteil der europäischen Hersteller spürt die Folgen der Krise mit aller Wucht. Vor ein paar Tagen sagte Renault-Chef Carlos Ghosn bei der Eröffnung des Pariser Autosalons: Wenn das so weitergeht, könnte Renault als Unternehmen verschwinden.”

Antonio Tajani: “Ich arbeite gerade an einem Aktionsplan für die Automobilindustrie. In der nächsten Finanzvorschau werden wir den Betrag für Forschung und Innovation im Bereich der Öko-Autos um eineinhalb Milliarden Euro erhöhen. Das Öko-Auto steht auch im Zentrum der neuen Industriepolitik. Wir tun alles, um einige Sektoren zu unterstützen und die Probleme zu meistern. Wie zum Beispiel der Bereich der kleinen und mittleren Unternehmen (KMU). Ich denke, diese 23 Millionen KMU sind das Rückgrat unserer Wirtschaft. Sie brauchen Hilfe, um neue Jobs zu schaffen. Wenn jedes dieser Unternehmen einen Arbeitsplatz schafft, werden wir 23 Millionen mehr Jobs für die jungen Menschen in Europa haben. Deshalb müssen wir versuchen, Innovation, Wettbewerbsfähigkeit und die Internationalisierung von kleinen und mittleren Unternehmen zu stärken.”

euronews: “Wir werden gleich auf die KMU zurückkommen. Aber jetzt zu einem anderen konkreten Beispiel sprechen wir über die Stahlindustrie. In Frankreich, Italien, Finnland und in Spanien ist dieser Sektor hart betroffen. Wie kann man diesen Trend umkehren?”

Antonio Tajani: “Wir arbeiten daran, zusammen mit den Gewerkschaften, mit der Wirtschaft und mit dem Europäischen Parlament. Ich werde vor Mitte 2013 einen Aktionsplan für die Stahlindustrie vorstellen, der auflistet, was Europa tun kann, um diesen entscheidenden Wirtschaftsbereich zu stärken. Natürlich gibt es das Wettbewerbs-Problem mit chinesischen Unternehmen und dem Fernen Osten. Wir brauchen eine einheitliche Strategie, einen echten Aktionsplan, der diesen Sektor verteidigt, der so wichtig für unsere Wirtschaft ist.”

euronews: “Einen Aktionsplan für Mitte 2013 also?”

Antonio Tajani: “Ganz bestimmt.”

euronews: “Vor ein paar Tagen sprachen Sie in einem Interview von Standortverlagerungen, davon, dass der Wind sich dreht. Auf welche konkrete Grundlage stützt sich Ihr Gefühl?”

Antonio Tajani: “Es ist die Situation, die uns zwingt, sich mit der Industrie zu beschäftigen. Wir müssen die Abwanderung stoppen, wenn wir die Krise meistern wollen. Wir können nicht immer nur Opfer von unseren Bürgern erwarten. Wir können nicht nur über die Verringerung der öffentlichen Verschuldung sprechen. Wir brauchen eine Strategie. Deshalb hat die Europäische Kommission beschlossen, eine Strategie auszuarbeiten. Deren Ziel ist, dass 20 Prozent des BIP bis 2020 von der Industriepolitik repräsentiert werden. Eine echte Strategie, um die Industrie zu stärken und die Position wiederzuerlangen, die wir vor ein paar Jahren hatten. 20 Prozent war der Anteil der Industrie vor ein paar Jahren. Wir brauchen also eine neue Strategie, eine neue Industriepolitik, um unsere Qualität zu verbessern und diesen Kampf um bessere Qualität gegen China, Indien, Russland, die USA und Brasilien zu gewinnen. Im Bereich der Quantität können wir nicht gewinnen, aber dank der Stärke unseres europäischen Netzwerkes haben wir im Bereich der Qualität eine Chance.”

euronews: “Lassen Sie uns das Interview mit den kleinen und mittleren Unternehmen beenden. Ich versetze mich in die Lage eines Unternehmers, bei euronews treffe ich eine Menge europäischer Unternehmer. Sie werden von vielen Dingen ausgebremst: Bürokratie, Korruption und andere Schwierigkeiten. Sie fühlen sich machtlos. Es gibt die Frage der unbezahlten Rechnungen, die ein echtes Problem für diese Unternehmen sind. Wie können Sie diesen Unternehmern Mut machen?”

Antonio Tajani: “Wir haben eine Studie in Auftrag gegeben, um Unternehmer nach den zehn größten Hindernissen auf dem europäischen Markt zu fragen. Basierend auf diesen Ergebnissen, werden wir konkrete Maßnahmen ergreifen. Wir haben bereits an einer besseren Regulierung der KMU gearbeitet. Wir sind dabei, den Verwaltungsaufwand zu reduzieren. Mein Ziel ist, dass man ein Geschäft in drei Tagen gründen kann und dafür nur 100 Euro zahlt. Wir wollen den Zugang zu Krediten erleichtern. Wir haben ein Forum für kleine und mittlere Unternehmen organisiert, um ihnen alle Fördermöglichkeiten aufzuzeigen. Es gibt eine EU-Richtlinie zu verspäteten Zahlungen, die in allen Mitgliedstaaten bis Ende März 2013 angewendet werden muss. Danach müssen Regierungen KMU nach höchstens 30 bis 60 Tagen bezahlen. Sonst droht eine Vertragsstrafe von 8 Prozent. Alle Mitgliedstaaten sind dazu verpflichtet. Das ist ein Signal, das Europa an Unternehmer und Arbeitnehmer sendet. Denn wenn kleine Unternehmen ein Jahr auf die Begleichung ihrer Rechnungen warten müssen, gehen sie pleite und mit ihnen gehen Tausende von Arbeitsplätzen verloren.”

euronews: “Letzte Frage. Gerade findet die europäische KMU-Woche statt. Ich will mein eigenes Unternehmen gründen und mich selbstständig machen. Ich habe das Glück, den Vizepräsidenten der Europäischen Kommission und Kommissar für Unternehmen und Industrie zu treffen. In welchem Bereich sollte ich Ihrer Meinung nach mein Geschäft gründen?”

Antonio Tajani: “Ich glaube, man sollte es in den Zukunftsbranchen versuchen. Ich würde die Raumfahrttechnik vorschlagen. Oder Tourismus, Nano- oder Biotechnologie. Branchen, in denen Europa Erfolgschancen hat. Ich wiederhole: Tourismus, Raumfahrttechnik. Es gibt das große europäische Galileoprojekt: 30 Satelliten bis Ende 2020, die Satelliten sind im Orbit, aber sie haben positive Auswirkungen auf verschiedene Bereiche auf der Erde: Landwirtschaft, Verkehr, Gesundheit, Sicherheit und den Fischerei-Sektor. Das sind Sektoren, in denen es möglich ist, etwas zu tun und gut zu verdienen.”

euronews: “Vielen dank Antonio Tajani, dass Sie sich für uns Zeit genommen haben.”

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