"Die Europäer sind keine Selbstmörder. Sie werden Veränderungen angehen"

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Von Euronews
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“Das Theorem vom Lampenschirm”* heißt das neueste Buch des Ökonomen Jean-Paul Fitoussi. Es geht um Wirtschaftskrise, Staatsverschuldung und den Euro. Seine These: Wer seine Lampe in die falsche Ecke stellt, sieht den Rest nicht mehr. euronews sprach mit dem Professor an den Universitäten Sciences Po in Paris und Luiss in Rom über Ursachen und mögliche Lösungen für die Krise und die schwere Rezession in Europa.

Giovanni Magi, euronews:

“Der Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion – der Europäische Fiskalpakt vom März 2012 – zwingt die Länder der Eurozone, einen ausgeglichenen Haushalt in ihren Verfassungen und Gesetzen zu verankern. Sie setzen sich kritisch mit dem Pakt auseinander, ist da wirklich kein gutes Haar daran?”

Jean-Paul Fitoussi:

“Es geht nicht darum, ob er nichts taugt oder ob alles daran gut ist. Das Problem ist, was bedeutet eine Abmachung, die von den Mitgliedstaaten einen ausgeglichenen Haushalt fordert. Das erinnert an Regeln in Bundesstaaten. Das Problem ist nur, dass Europa kein Bundesstaat ist. Unsere große Schwierigkeit ist, dass wir immer stärker verbunden sind – aber der Bundesstaat wird immer weniger. Wenn Sie so wollen, wirft uns der Haushaltspakt zurück auf die politischen Schwachstellen in Europa. Und er stellt die Frage, was soll dieser Integrationsprozess, der in den Mitgliedstaaten die Demokratie reduziert – ohne sie in der Gemeinschaft auszubauen. Das ist eine echte Grundsatzfrage.

Es gibt aber auch eine Frage nach glaubwürdigen Werten hinter dieser Haushaltsgeschichte. Früher war das die Währung, jetzt sind das die ausgeglichenen Haushalte. Die Europäer sind sehr geschulte Dogmatiker. Sie werden daher versuchen, alles von einer Warte aus zu erklären: Vor der Gemeinschaftswährung hieß die heilige Kuh Inflation. Seit es den Euro gibt, sind das ausgeglichene Haushalte und die öffentliche Verschuldung.”

euronews:

“Sie haben das so ausgedrückt: die Staatsverschuldung ist der Souverän. Aber der Euro ist eine Währung ohne Souverän. Wird die bereits beschlossene Bankenunion ausreichen – ohne politische Union?

Fitoussi:

“Ja und nein. Erstens, was soll das heißen, wenn ich sage: Die Staatsverschuldung ist der Souverän. Aber der Euro ist eine Währung ohne Souverän? Das Problem ist, dass sich die europäischen Länder in einer Währung verschulden, die sie nicht im Griff haben. Das heißt, sie verschulden sich in einer Auslandswährung. Und deshalb können sie insolvent werden. Wenn sich ein Land in einer Währung verschuldet, die es kontrolliert, kann es nie so weit kommen. Schwellenländer sind pleite gegangen, weil sie in ausländischen Währungen Geld aufgenommen hatten. Hier gibt es einen Konstruktionsfehler, die das Ganze zu einem Spielfeld für Spekulanten macht.”

euronews:

“Was können wir tun, um diese Spekulation mit der Kreditwürdigkeit von Staaten zurückzudrängen oder zu verhindern?

Fitoussi:

“Das ist ziemlich einfach, meine ich. Mit der einheitlichen Währung verschwanden Devisenmärkte, die Spekulation zwischen den europäischen Währungen hörte auf. Heute würde es reichen, einen einzigen Schuldtitel zu schaffen. Dann wäre Schluss mit der Spekulation auf Anleihen der verschiedenen europäischen Staaten.”

euronews:

“Also, Eurobonds …”

Fitoussi:

“Eurobonds – das ist ein möglicher Name für solche “Einheitspapiere”. Das würde heißen, es gibt nur eine Staatsschuld in Europa, wie in den Vereinigten Staaten, wie in Japan. Es gibt eine einzige Verschuldung in allen beteiligten Ländern. Und es gibt eine Zentralbank, die haftet als “lender of last resort” (Kreditgeber letzter Instanz).”

euronews:

“Als François Hollande französischer Präsident wurde, haben Sie gesagt, Sie seien mit seinem Wirtschaftsprogramm größtenteils einverstanden. Gilt das immer noch?”

Fitoussi:

“Also damit meinte ich vor allem die Neuverhandlung des “Fiskalpakts”. Aber dazu kam es nicht. François Hollande hat den Fiskalpakt unterschrieben, den er modifiziert haben wollte.”

euronews:

“Die Schweizer haben kürzlich per Referendum beschlossen, die hohen Gehälter von Führungskräften zu begrenzen. Ist das für Sie nur eine symbolische Geste? Oder eine Marschroute für andere Länder?”

Fitoussi:

“Da steckt ein bisschen von beidem drin. Ich meine, es könnte in der Tat eine Lektion für andere Länder sein. Aber Europa ist schlecht aufgestellt, um Schlüsse aus dieser Lektion zu ziehen. Denn in Europa herrscht steuerlicher Wettbewerb. Also, wenn ein europäisches Land das Schweizer Konzept anwenden möchte, riskiert es, dass einige seiner Bürger in steuerlich attraktivere Orte abwandern.”

euronews:

“Eine mögliche Lektion der letzten Jahre ist doch, dass die Europäische Union, wie sie jetzt ist, nicht funktioniert. Man ist auf halbem Weg. Wenn die politische Union nicht klappt, müssen wir dann das europäische Projekt aufgeben?”

Fitoussi:

“Ich weiß es nicht. Sehen Sie, dieses Problem bereitet mir schlaflose Nächte. Weil ich sehe, wie die Menschen überall leiden: In Italien, in Griechenland ganz offensichtlich, in Spanien, Frankreich, Deutschland, wo die Armut erheblich zugenommen hat, in England.

Und ich sage Ihnen, Menschen sind in der Regel keine Selbstmörder. Also werden sie Veränderungen angehen. Und man wird ihnen nicht mehr lange sagen können: Wandel ist nicht drin. Also, entweder Europa ändert sich. Oder – vielleicht – die Menschen ziehen sich zurück.

Aber das ist ein sehr komplizierte Frage. Es würde bedeuten, dass wir ein Rennen kurz vor der Zielgerade abbrechen. Wir sind mit dem Ziel eines geeinten Kontinents gestartet. Damit würden wir dann aus dogmatischen Gründen aussteigen.”

  • Jean-Paul Fitoussi: Le théorème du lampadaire éditions Les liens qui libèrent (LLL) Paris, mars 2013
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