Der Rockstar-Ökonom Piketty über Ungleichheit in Europa

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Ungleichheit, ein weltweites Anliegen Euronews-Reporter Isabelle Kumar: “Rebell oder Rockstar sind keine Begriffe, die man in der Regel mit

Ungleichheit, ein weltweites Anliegen

Euronews-Reporter Isabelle Kumar:
“Rebell oder Rockstar sind keine Begriffe, die man in der Regel mit Wirtschaftswissenschaftlern verbindet. Aber sie scheinen an dem Franzosen Thomas Piketty zu kleben, der mit seinem Buch “Das Kapital im 21. Jahrhundert” über Vermögens- und Einkommensungleichheit bekannt wurde. Thomas Piketty, Ihr Diskurs über die Ungleichheit hat wirklich einen Nerv getroffen und ihr Buch hat alle Erwartungen übertroffen – hat Sie das überrascht?”

Thomas Piketty: der “Rockstar” der Wirtschaftswissenschaften

  • Thomas Piketty ist ein französischer Wirtschaftswissenschaftler.
  • Er forscht insbesondere zu den Themen Einkommens- und Vermögensverteilung sowie sozialer Ungleichheit.
  • Piketty hat zahlreiche Artikel und Bücher verfasst.
  • Bekannt wurde der Ökonom mit seinem Werk Das Kapital im 21. Jahrhundert, das 2014 erschien. Die Medien bezeichneten ihn als “Rockstar-Ökonomen”, nachdem die Erstauflage der englischen Übersetzung schnell vergriffen war.
  • Derzeit unterrichtet er unter anderem als Professor an der Paris School of Economics

Thomas Piketty:
“Ich habe versucht, ein Buch zu schreiben, das für ein breites internationales Publikum lesbar ist. Aber ich konnte natürlich nicht erwarten, dass es so erfolgreich wird. Wir sind jetzt bei über zwei Millionen verkauften Exemplaren weltweit. Das zeigt, dass es dieser Tage auf der ganzen Welt ein großes Interesse an der Ungleichheit gibt. Es herrscht große Sorge darüber, ob die Globalisierung allen oder nur einer kleinen Bevölkerungsgruppe zugute kommt. Das Neue an meinem Buch ist, dass wir gemeinsam mit vielen Forschern aus mehr als 30 Ländern die größte historische Datenbank über Einkommens- und Vermögensungleichheit zusammengestellt haben. Das ist wirklich neu. Ich habe versucht, die Ungleichheit aus historischer Perspektive zu erforschen.”

euronews:
“Vor einiger Zeit habe ich gesehen, dass Papst Franziskus getwittert hatte, ‘Ungleichheit ist die Wurzel aller sozialen Übel’. Würden Sie so weit gehen wie der Papst, ist der Papst radikaler als Sie?”

Thomas Piketty:
“Im Allgemeinen fühle ich mich den Aussagen des Papstes nicht sehr nahe. Aber wenn er sich mit Ungleichheit beschäftigt, geht das in Ordnung. Ich bin mir nicht sicher, in welchem Maß die katholische Kirche in der Vergangenheit zur Verringerung der Ungleichheit beigetragen hat. Aber Ungleichheit ist meiner Meinung nach nicht nur ein Anliegen für Leute von der linken oder rechten Seite, für Menschen verschiedener Glaubensrichtungen, sondern es ist von Interesse für die gesamte Menschheit. Wir können uns nicht nur um das Wachstum des weltweiten Bruttoinlandprodukts kümmern, wir möchten auch wissen, wie sich das verteilt, wer davon profitiert und zu welchen Kosten für die natürlichen Ressourcen.”

euronews:
“Das bringt mich zu einem interessanten Punkt. Ich würde Sie bitten, die Geschichte um Air France zu kommentieren, die gerade Schlagzeilen macht: Führende Angestellte, denen von wütenden Mitarbeitern, die sich über Kürzungen ärgen, die Hemden vom Leib gerissen werden.”

Thomas Piketty:
“Ich bin nicht dazu da, um den verschiedenen Akteuren gute oder schlechte Noten auszustellen. Verteilungskonflikte sind oft sehr heftig, und in einigen Ländern, insbesondere in den ärmeren, können sie sehr viel heftiger ausfallen als in reichen Ländern wie Frankreich. Ich glaube, dass mangelnde Tansparenz bei Themen wie Löhnen, Einkommen oder Eigentum – wer was besitzt und wer was bekommt – sehr oft Arbeitskonflikte verschärft. Mehr Informationen über die Verteilung von Einkommen und Vermögen zu haben, ist sehr wichtig für unsere demokratische Debatte. Eine der großen Einschränkungen aktuell, insbesondere wenn man an die grenzüberschreitenden Eigentumsformen denkt, ist die enorme finanzielle Undurchsichtigkeit. Sehr oft wissen wir nicht, wer was besitzt. Man kann also nur schwer eine vernünftige Diskussion über Ungleichheit und Steuern führen…”

Der Spitzensteuersatz, eine Gefahr für den Kapitalismus?

euronews:
“Thema Besteuerung. Sie plädieren für einen progressiven Steuersatz und für die wirklichen Spitzenverdiener, die eine Million Euro jährlich oder mehr verdienen, eine Steuer von 80 Prozent auf ihr Einkommen. Wir haben unsere Zuschauer gebeten, uns Fragen für dieses Interview zu senden. Thomas Jones will wissen: Warum wollen Sie Leute mit höheren Steuern bestrafen, die Risiken auf sich nehmen, um Stellen und Wohlstand zu schaffen?”

Thomas Piketty:
“Das ist ein schwieriges Thema, denn die Themen Ungleichheit und Besteuerung bringen die Menschen schnell in Rage. Schauen wir uns ein Beispiel an: Nehmen Sie ein Land wie die USA zwischen 1930 und 1980 – das ist ein sehr langer Zeitraum, ein halbes Jahrhundert – im Durchschnitt lag der Spitzensteuersatz bei 82 Prozent. Manchmal betrug er 91, manchmal 70 Prozent, aber im Durchschnitt betrug er 82 Prozent im Zeitraum von 1930 bis 1980. Hat das den amerikanischen Kapitalismus zerstört? Anscheinend nicht. Wenn überhaupt, waren die Produktivität- und das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts tatsächlich höher in den 50er-, 60er-, 70er- und 80er-Jahren bis zu den Reagan-Jahren. In den Reagan-Jahren gab es eine starke Reduzierung des Spitzensteuersatzes, eine große Zunahme der Ungleichheit. Außer in den Produktivitätsstatistiken sieht man überall Ungleichheit! Viele Leute sind nicht reif für diese Debatte, teilweise leiden sie meiner Meinung nach an historischer Amnesie. Manchmal wissen die Leute gar nicht, dass das in der Vergangenheit bereits ausprobiert wurde, und wenn man sich diese Periode anschaut, war das gar nicht so schlimm.”

euronews:
“Dann muss es Sie ziemlich enttäuscht haben, dass der französische Präsident François Hollande scheinbar von seinem Manifest abgerückt ist, das er zwei Jahre durchgeführt hat, die Reichen mit 75 Prozent zu besteuern?”

Thomas Piketty:
“Gerade in Frankreich halte ich nicht viel von dieser Entscheidung, denn erstens gibt es in Frankreich nicht viele Menschen, die mehr als eine Million Euro verdienen, in den USA wäre Hollande jedoch ein ausgezeichneter Präsident. Das wäre genau die Art von Politik, die man in den USA anwenden müsste. In Frankreich ist man nicht so sehr mit dem Problem der explodierenden Topgehälter konfrontiert. Diese Maßnahme war eher ein Vorwand, um nicht ehrgeizigere Steuerreformen durchzuführen. Es gibt viele andere Probleme, die im Hinblick auf eine umfassende Steuerreform in Frankreich angegangen werden müssten.”

euronews:
“Bleiben wir in Europa, werfen wir einen kurzen Blick auf die Sparpolitik, denn ich weiß, dass Sie Anti-Spar-Parteien nahestehen. Aber Hand aufs Herz, können Sie wirklich sagen, dass die Sparmaßnahmen ein voller Misserfolg waren?”

Thomas Piketty:
“Man kann es natürlich immer noch schlimmer machen, aber vergleichen wir die Situation auf beiden Seiten des Atlantiks. In Wahrheit hat Europa eine Krise, die ursprünglich aus den USA kam – aus dem privaten Finanzsektor der USA. Aufgrund der schlechten Politik und der übermäßigen Sparmaßnahmen wurde sie in eine öffentliche Schuldenkrise in Europa verwandelt. Anfangs schaut man ins Jahr 2008, war die öffentliche Verschuldung in Europa nicht höher als in den USA, nicht höher als in Japan. Schauen wir uns die Situation 2015 an: fast zehn Jahre nach 2007 das BIP ist in den USA wieder auf dem richtigen Weg, rund 10 bis 15 Prozent höher als im Jahr 2007. Während Europa, vor allem die Eurozone, sich immer noch nicht erholt hat, das BIP steht immer auf dem Niveau wie vor fast zehn Jahren.”

Welchen Weg sollte Europa einschlagen?

euronews:
“Es gibt neue Parteien in Europa, die neue Ideen haben. Sie stellen sich mit ihnen auf eine Linie, ich denke an die “Podemos”-Partei, die von Pablo Iglesias geführt wird, und die neue Ausrichtung der britischen Labour-Partei mit Jeremy Corbyn an der Spitze. Sind sie Ihrer Meinung nach die beste Chance für eine gerechtere Zukunft für die Europäer? Schlagen sie eine nachhaltige Wirtschaftspolitik vor?”

Thomas Piketty:
“Ich glaube, die Wahlen in Spanien können sehr wichtig für die Zukunft Europas werden. Warum sind sie so entscheidend? Weil ich glaube, dass sie die politische Mehrheit in der Eurozone ändern können. Wenn Spanien nach links oder Mitte-links rutscht, verändert das die politische Mehrheit. Das könnte möglicherweise zu einer vernünftigeren Haushaltspolitik in Europa führen. Am Ende geht das über die Frage links oder rechts hinaus. Jeder, der von außen auf die Eurozone blickt, egal ob von links oder rechts, sieht, dass die Haushaltsbeschlüsse, die unter der Leitung von Deutschland und Frankreich getroffen wurden, – denn es ist zu einfach für Frankreich, nur über Deutschland zu klagen, denn es war eine gemeinsame Entscheidung – dass deren Beschlüsse nicht erfolgreich waren.”

euronews:
“Politisch interessant ist aber, dass diese linken Parteien als radikal links bezeichnet werden. Ich weiß nicht, ob Sie mit dieser Bezeichnung einverstanden sind. Auf jeden Fall scheinen sie den europäischen Institutionen und Politikern mehr Angst zu machen als die Anführer der extremen Rechten.”

Thomas Piketty:
“Das wäre ein großer Fehler. Am Ende ist es viel besser, Parteien links der linken Seite an der Macht zu haben, als extrem Rechte. In meinem Land, in Frankreich, wird es ebenfalls im Dezember Regionalwahlen geben, und möglicherweise kann die extreme Rechte ein, zwei oder drei Wahlkreise gewinnen. Dann werden die Leute sehen, dass sie weitaus gefährlicher als Podemos oder Syriza sind, die zumindest einen internationalen Ansatz haben. Ich sage nicht, dass das, was sie vorschlagen, immer überzeugend oder das Richtige ist. Aber es ist möglich, sie in die richtige Richtung zu lenken.”

Ein neuer Plan für Griechenland

euronews:
“Sie haben Griechenland und Syriza angesprochen. Ministerpräsident Alexis Tsipras wurde wiedergewählt. Glauben Sie, er hat eine Chance, die Sparmaßnahmen neu zu verhandeln, denn wie sein ehemaliger Finanzminister Yanis Varoufakis sagte, gehe es nur darum, eine ‘ausbaufähige und bestechende Logik’ fortzuführen.”

Thomas Piketty:
“Europa muss sich für Griechenland einen neuen Plan überlegen. Ich glaube, was diesen Sommer entschieden wurde, ist nur ein Weg, um ein bisschen Zeit zu gewinnen. Aber am Ende muss es eine Schuldenreduzierung für Griechenland geben. Die gute Nachricht ist, dass es viele Umschuldungen in der Vergangenheit gab, darunter in Deutschland, das eine riesige Staats- und Auslandsverschuldung nach dem Zweiten Weltkrieg hatte. Das gesamte europäische Projekt in den 1950er Jahren wurde tatsächlich auf Schuldenerlass gebaut und die allgemeine Philosophie war..”

euronews:
“Das ist ein ganz anderer Kontext…”

Thomas Piketty:
“In gewisser Weise ist das vergleichbar. Viele Regierungen haben eine Menge Fehler in der Vergangenheit gemacht und hohe Staatschulden angehäuft. Von vielen Regierungen wurden sehr große Fehler vor den 1950er-Jahren gemacht, besonders in Deutschland. Aber die politische Entscheidung wurde in den 1950er-Jahren getroffen, zu sagen: ‘Ok, blicken wir in die Zukunft’. Nehmen wir nun die junge Generation heute in Griechenland. Will man ihnen erzählen ‘Ok, deine Eltern haben Fehler gemacht, für die musst du die nächsten 40 Jahre zahlen?’ Ab einem gewissen Punkt muss man in die Zukunft schauen, in Wachstum investieren, in höhere Bildung, in die öffentliche Infrastruktur.”

In die Zukunft investieren

euronews:
“Lassen Sie mich Sie unterbrechen, es gibt einige Fragen in den sozialen Netzwerken: Haezel Mischael Chandra fragt: “Was ist der Schlüssel für eine nachhaltige Wirtschaft?”

Thomas Piketty:
“Das Wichtigste für die Zukunft ist, in Wissen zu investieren, in höhere Bildung zu investieren. Hier nur eine Zahl, die zeigt, was wir nicht tun und was wir tun müssten: Jeder in Europa mag Erasmus, das Programm, mit dem Studenten in andere Länder gehen können, aber das Budget für Erasmus beträgt aktuell gerade mal vier Milliarden Euro jährlich. Nur zum Vergleich, die Gesamtzinszahlung in der Eurozone beträgt jährlich 400 Milliarden Euro. Also ich sage jetzt nicht, wir sollten diese Zahlen austauschen, aber wir sollten in diese Richtung gehen. Deswegen brauchen wir ein Moratorium für die Rückzahlung der Schulden, um mehr in die Zukunft zu investieren.”

euronews:
“Wir haben über Griechenland gesprochen, aber dann gibt es auch die Situation in Großbritannien – zwei Länder, die aus der EU austreten könnten – und aus der Eurozone im Fall von Griechenland. Außerdem besteht die Möglichkeit, dass Katalonien sich von Spanien abspaltet. Welche Auswirkungen hat das auf die europäische Wirtschaft und auf die Wirtschaften der einzelnen Staaten?”

Thomas Piketty:
“Das zeigt, dass die Situation – Sie kennen die Krise der Eurozone – weitreichende Konsequenzen hat. Damit sind die Menschen in Spanien sehr unglücklich, vor allem in Katalonien.”

euronews:
“Sie machen die Wirtschaftskrise dafür verantwortlich, dass diese Länder möglicherweise die EU und die Eurozone verlassen?”

Thomas Piketty:
“Ja, im Falle Großbritanniens verstehe ich das so, dass die Menschen sich nicht der Eurozone oder einer weiteren europäischen Integration anschließen wollen, weil das aktuell nicht funktioniert. Wenn wir also wollen, das Großbritannien, Schweden oder Polen eines Tages der Eurozone beitreten, dann müssen wir dafür sorgen, dass das funktioniert.”

euronews:
“Genau, wir sehen ein Europa, das stärker polarisiert als je zuvor. Wenn wir den gleichen Weg weitergehen, wie sehen Sie dann Europa? Was ist Ihre Vision von Europa in 15 Jahren?”

Thomas Piketty:
“Ich möchte optimistisch sein, weil ich glaube, es gibt Lösungen für unsere Probleme. Aber es gibt die Gefahr des aufkommenden Nationalismus und Egoismus. Wenn die Menschen nicht in der Lage sind, ihre Arbeitslosigkeit sowie ihre sozialen und innenpolitischen Probleme durch friedliche Politik zu lösen, dann ist es immer verlockend, andere zu beschuldigen. Es gibt politische Parteien, die Ausländer oder ausländischen Arbeitnehmern die Schuld geben. Oder man kann anderen Ländern die Schuld geben, man kann Deutschland die Schuld geben, dann wird Deutschland Griechenland die Schuld geben. Man kann immer jemand anderem die Schuld geben. Aber aus einer breiteren europäischen historischen Perspektive aus gesehen werden wir irgendwann erkennen, dass wir heute in das Wachstum investieren sollten. Und das Drama Europas ist, dass wir in den vergangenen zehn Jahren eine Dekade verloren haben. Wir werden am Ende des Jahres 2017 das gleiche BIP-Niveau haben wie 2007.”

Europa könnte noch mehr Flüchtlinge verkraften

euronews:
“Ein weiteres Thema, bei dem Europa nur zögerlich handelt, ist die Migration. Griechenland steht dabei an vorderster Front. Laut Schätzungen werden fast anderthalb Millionen Menschen bis Ende 2016 nach Europa kommen. Dazu haben wir die Frage von Kristoffer Nyborg, der wissen will: “Glauben Sie, dass Europa diesen Zustrom von Füchtlingen wirtschaftlich verkraften kann?”

Thomas Piketty:
“Europa hat 520 Millionen Einwohner. Wenn man sich die UN-Statistiken anschaut gab es in den Jahren von 2000 bis 2010 einen jährlichen Flüchtlings-Zustrom von etwa einer Million Menschen. Zwei Drittel des Bevölkerungswachstums in Europa in diesem Zeitraum kam von dieser Migration. Also wir könnten noch eine viel höheren Flüchtlingszustrom vertragen. Es gibt verschiedene Situationen in Europa, es gibt Länder wie Frankreich, in denen es ein bisschen mehr Kinder gibt, in Deutschland gibt es weniger Kinder, sie sind offener für Migration. Und dann gibt es einige Länder, die wollen keine Kinder, die wollen keine Migranten wie in Osteuropa, die werden in Bezug auf die Bevölkerung verschwinden, wenn sie so weitermachen. Das ist sehr egoistisch, und ich glaube, dass wir für ein Wirtschaftswachstum und ganz allgemein für den Wohlstand und die Attraktivität des europäischen Modells sehr viel offener sein könnten.”

euronews:
“Mit wie viel Wirtschaftsmigranten und Flüchtlingen könnte Europa zurechtkommen, einer Million?”

Thomas Piketty
“Ich sage nicht, dass eine Million eine magische Zahl ist, aber die Menschen, die behaupten, dass wir nicht mehr Migranten aufnehmen können, sehen sich nicht die Vergangenheit an.”

“People who say that we can't welcome more migrants don't look at the historical record.” Thomas Piketty at 22:40 pic.twitter.com/cs6wJa8MOI

— euronews (@euronews) 14. Oktober 2015

Das Übel der Steueroasen

euronews:
“Wechseln wir das Thema. Ihr Protegé Gabriel Zucman hat gesagt, dass bis zu sechs Billionen Dollar in Steuerparadiesen versteckt sein könnten. Ist diese Zahl ihrer Meinung nach realistisch?”

Thomas Piketty:
“Oh ja. Für uns in Europa und in den USA macht das viel aus, und es ist noch entscheidender für Afrika und Entwicklungsländer, die aufgrund von finanzieller Undurchsichtigkeit noch viel mehr als wir verlieren. Laut den Schätzungen von Gabriel Zucman ist befinden sich rund 10 Prozent des europäischen Vermögens in Steuerparadiesen. Das ist schon eine Menge, aber in Afrika sind es zwischen 30 und 50 Prozent. Wie soll ein Land sich entwickeln und ein gerechtes Steuersystem einführen, wenn so ein großer Teil des Vermögens ins Ausland geht und darauf keine Steuern gezahlt werden?”

euronews:
“Bleiben wir in Europa, der Präsident der Europäischen Kommission sagt, dass er Steuerparadiese ausmerzen will. Glauben Sie ihm?”

Thomas Piketty
“Nein, ich glaube ihm nicht, denn bislang wurde keine konkrete Entscheidung gefällt. Wenn wir die Besteuerung der Unternehmen in Europa ändern wollen, dann benötigen wir eine gemeinsame Unternehmenssteuer. Vielleicht nicht für ganz Europa, wenn manche Länder sie nicht wollen, aber zumindest die Länder, die vorankommen wollen, wie Frankreich, Deutschland, Italien, Spanien, Belgien oder einige Länder der Eurozone, sollten eine gemeinsame Unternehmenssteuer einführen. Ansonsten könnte ein Skandal wie die Luxemburg-Leaks im vergangenen Jahr sich erneut ereignen.”

euronews:
“Hat sich Jean-Claude Juncker, der Präsident der Europäischen Kommission, diesbezüglich glaubhaft verteidigt?”

Thomas Piketty:
“Nun, es reicht nicht, sich zu entschuldigen. Es reicht nicht zu sagen: “Es tut mir leid, ich werde es nicht wieder tun”, denn de facto wird es wieder passieren. Das Problem sind nicht Personen wie Jean-Claude Juncker, sondern die Tatsache, dass er, als er Ministerpräsident von Luxemburg war, diese Deals mit multinationalen Unternehmen abschloss. Sie hatten so die Möglichkeit,1 oder 2 Prozent Steuern zu zahlen, im Gegensatz zu unseren kleinen und mittleren Unternehmen in Frankreich und Deutschland, die bis zu 20-30 Prozent Steuern zahlen. Wie wollen Sie Griechenland eine Modernisierung des Steuersystems verordnen, wenn Sie gleichzeitig eine solche Politik in Ihrem eigenen Land verfolgen?”

Kapitalismus in der Literatur

euronews:
“Am Anfang des Interviews sprachen wir über ihr Buch “Das Kapital im 21. Jahrhundert”. Sie haben in ihrem Werk mit vielen Literaturhinweisen gearbeitet. Dazu möchte ich ihnen eine Frage aus den sozialen Netzwerken stellen. Jemand unter dem Namen Mekkus möchtes wissen, welche Ihre drei Lieblingsbücher sind.”

Thomas Piketty
“Das ist eine schwierige Frage. In meinem Buch spreche ich sehr viel über “Vater Goriot” von Balzac, denn er beschreibt sehr gut den Kapitalismus des 19. Jahrhundert. Marx hat 1860 gesagt, dass er durch die Lektüre von Balzacs Werken am meisten über den Kapitalismus gelernt habe. Das ist auch heute noch der Fall, aber Sie müssen natürlich andere Autoren nehmen. Einer meiner Lieblingsromane ist das jüngste Werk von Carlos Fuentes ‘La voluntad y la fortuna’. Es ist ein unglaublicher Roman über den Kapitalismus in Mexiko. Ein junger französischer Autor, Tancrède Voituriez, hat vor kurzem über die Erfindung der Armut geschrieben. Dieser sehr amüsante Roman erzählt, wie Wirtschaftswissenschaftler immer behaupten die Welt zu retten, obwohl sie es in Wirklichkeit nicht immer machen. Es gibt also sehr viele starke Romane, die von Geld und Kapitalismus handeln.”

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