Europas Bauern: Zwischen Wut und Verzweiflung

Europas Bauern: Zwischen Wut und Verzweiflung
Von Euronews
Diesen Artikel teilenKommentare
Diesen Artikel teilenClose Button
Den Link zum Einbetten des Videos kopierenCopy to clipboardCopied

Die europäische Landwirtschaft steckt in Schwierigkeiten. Die Milch- und Fleischpreise sind immer niedriger und viele Bauern sagen, dass sie am Ende ihrer Kräfte sind. Wie konnte es soweit kommen?

Weiße Kreuze gegen das Vergessen

Jacques Jeffredo möchte erinnern: An die Bauern, die sich jedes Jahr in Frankreich das Leben nehmen. Einer Studie der nationalen Gesundheitsbehörde zufolge begehen jedes Jahr rund 160 Landwirte Selbstmord.

Jacques, der selbst Bauer ist, sagt jedoch, dass die Dunkelziffer sehr viel höher sei. Er geht von 600 Suiziden pro Jahr aus: “Ich habe viele Kollegen, die sich aus dieser Welt verabschiedet haben. Und dann habe ich bemerkt, dass es für sie keinen Gedenktag gibt. Das ist traurig und es ist auch eine Ungerechtigkeit. Diese Menschen, die sich zu Tode arbeiten, um uns alle zu ernähren, werden nicht anerkannt.”

Jacques hat 600 weiße Kreuze vor der Kirche in Sainte-Anne d’Auray in der Bretagne aufgebaut.

Prières pour les agriculteurs http://t.co/zEBNo51gwI

— Jacques Jeffredo (@JJeffredo) 8. September 2015

Er will die Menschen wachrütteln. In keiner anderen Berufsgruppe begehen so viele Menschen Selbstmord. Frankreich ist kein Einzelfall. Jacques erklärt: “Das gleiche Phänomen gibt es auch in den anderen europäischen Ländern. In Deutschland begehen mindestens 500 Bauern Selbstmord, 400 in Belgien und in Italien gibt es auch viele Fälle. Ich habe keine Studien für die anderen europäischen Länder, aber man hat mir gesagt, dass es in Rumänien auch viele gibt. Es ist also kein rein französisches Problem. Es ist ein europäisches Problem.”

Proteste der Bauern in Brüssel

Wie kommt es, dass so viele Bauern in Europa keinen Ausweg mehr sehen? In diesem Sommer sind sie auf die Straße gegangen und bis nach Brüssel marschiert, um gegen die niedrigen Fleisch- und Milchpreise zu protestieren. Die Bauern sagten, dass ihnen das Wasser bis zum Halse stünde. Mehrere Sachen kamen zusammen: ein Ende der Milchquoten, die vor dreißig Jahren eingeführt wurden, eine niedrigere Nachfrage und das russische Embargo auf landwirtschaftliche Produkte.

Im September hat die Europäische Kommission ihnen 500 Millionen Euro versprochen. Die Bauern jedoch wollen keine zusätzlichen Hilfen, sondern andere Regeln.

Heftige Proteste in Brüssel: EU-Kommission stellt 500 Millionen Euro für Bauern bereit… http://t.co/dO3xf1Rjgt

— SPIEGEL ONLINE alles (@SPIEGEL_alles) 7. September 2015

Den Bauernhof verkaufen oder weitermachen?

Audrey Le Bivic führt mit ihren Eltern in der Bretagne eine Milchfarm mit 75 Kühen. Sie erzählt uns, dass sie derzeit Geld verliert. Die Milchpreise sind gesunken und sie bekommt nur noch 300 Euro für 1000 Liter Milch. Ihre Produktionskosten belaufen sich jedoch auf 345 Euro.

Und jetzt mit dem Ende des Quotensystems muss sie noch mehr produzieren, um sich der Konkurrenz gegenüber zu behaupten. Audrey klagt: “Der Milchindustrie-Verband fordert, dass ein Bauer 800.000 Liter Milch produziert. Wir produzieren diese Menge zu dritt. Wir werden nicht mehr lange umsonst so weiterarbeiten können. Die jungen Menschen weigern sich unter solchen Bedingungen zu arbeiten. Kein Wochenende, keine Ferien, jede Woche mindestens 70 Stunden arbeiten und dann auch noch kein Gehalt bekommen. Wir sind die Einzigen, die blöd genug sind, um unter solchen Bedingungen zu arbeiten. In den anderen europäischen Ländern leiden sie genauso. Die Bauern dort gehen auch vor die Hunde. Wir waren auf der Demonstration in Brüssel, die deutschen Bauern waren auch dort. Sie schaffen es auch nicht mehr und fordern neue Regeln. Aber die Politiker hören uns nicht zu.”

Audreys Eltern haben den Bauernhof Anfang der 1980er Jahre gegründet. Bevor die Europäische Union 1984 Milchquoten einführte, um den Markt zu regulieren. Im vergangenen April haben die EU-Mitgliedsstaaten die Quoten mit dem Argument abgeschafft, dass die weltweite Nachfrage gestiegen sei. Das stellte sich jedoch als falsch heraus. Die Nachfrage geht zurück.

Audreys Eltern machen sich Sorgen um ihre Tochter. Ihr Vater Thierry sagt: “Wir gehen in fünf Jahren in Rente. Aber was soll sie dann machen? Entweder sie verkauft alles oder sie findet einen Partner, aber lohnt sich das überhaupt noch? Ich weiß nicht, ob es etwas bringt zu investieren, einen jungen Bauern zu finden, der unseren Teil aufkauft. Denn man muss Geld reinstecken, es gibt immer etwas, das man erneuern muss. Wir fragen uns also, ob wir in fünf Jahren nicht einfach alles verkaufen sollten.”

Schweine- und Rinderzüchter vor dem Aus

Diese Sorgen haben nicht nur die Milchbauern, auch die Schweine- und Rinderzüchter wissen nicht mehr weiter. Yves-Hervé Mingam hat eine Schweinezucht in der Bretagne. Er sagt, das russische Embargo habe die Züchter schwer getroffen. Hinzukommen noch die Normen, die selbst innerhalb der EU von Land zu Land verschieden sind.

Yves-Hervé muss jede Woche zwischen 200 und 500 Schweine verkaufen. Er erklärt: “Wenn ich die Tiere nicht verkaufe, dann habe ich nicht genug Platz für die neuen Ferkel. Ich benötige ständig Platz. Meine Ställe sind normalerweise immer voll, ich habe also keinen Spielraum, wenn die Tiere nicht geschlachtet werden.”

Yves-Hervé zufolge hat Frankreich vor zwanzig Jahren mehr Fleisch als z.B. Deutschland oder Spanien produziert. Heute produzieren Deutschland und Spanien jeweils 20 Millionen Tonnen mehr als Frankreich, denn dort gelten andere Normen.

Yves-Hervé ist besorgt. Er geht davon aus, dass rund 20 Prozent der Schweinebauern kurz vor der Pleite stehen: “Die jungen Bauern wie ich werden derzeit geopfert. Wir schaffen es finanziell einfach nicht. Wir können nur unsere Produktion zurückschrauben. Wir bekommen keine Hilfen. Von der Regierung gibt es nur Versprechungen und die EU unternimmt nichts. Gerade wird eine Generation an Züchtern geopfert und, das wird sich in zehn, zwanzig Jahren bemerkbar machen.”

Mehr Kooperation und weniger Konkurrenz in Europa

In den vergangenen 50 Jahren hat sich die Situation der Bauern drastisch verändert. 1960 arbeiteten allein in Frankreich vier Millionen Menschen in der Landwirtschaft. Heute sind es nur noch rund 750.000.

Christian Hascoet hat einen Hof mit rund 120 Kühen in der Bretagne. Die liberale Landwirtschaftspolitik Europas macht ihm Angst. Er fürchtet, dass mindestens ein Drittel der Kleinbauern Pleite gehen wird. Er sagt: “Man muss für etwas demonstrieren. Es reicht nicht aus, dagegen zu sein. Gegen etwas zu protestieren ist ein erster Schritt. Aber man muss vor allem FUER etwas demonstrieren. Nur der EMB, der europäische Milchverband, hat ein Projekt. Es ist ein europäisches Projekt für alle Bauern in Europa. Sie alle haben sich zusammengeschlossen. Was wir wollen oder fordern ist Kooperation innerhalb Europas. Die Industriellen und die Finanzwelt wollen uns Konkurrenz innerhalb Europa auferlegen. Aber diese Menschen, diese Bosse leiden nicht unter den Konsequenzen der Konkurrenz. Diese Konsequenzen bekommen nur wir, die Züchter zu spüren.”

“We did not take to the streets for this” – European Milk Board slams EU_Commission</a> package <a href="http://t.co/Jal1b9FQsN">http://t.co/Jal1b9FQsN</a> <a href="http://t.co/5faY9yBV9K">pic.twitter.com/5faY9yBV9K</a></p>&mdash; DairyReporter.com (dairyreporter) 9. September 2015

Christian liebt seine Arbeit, aber er kann verstehen, dass manche unter dem großen Druck zusammenbrechen. “Die heutigen Bedingungen treiben Bauern in den Selbstmord. Es heißt, dass sich jeden Tag ein Bauer umbringt, aber die Dunkelziffer ist noch viel höher. Leider ist das wirtschaftliche und das soziale Leid so groß, dass viele Menschen sich das Leben nehmen,” so Christian.

Audrey will sich nicht unterkriegen lassen: “Kollegen von mir haben sich umgebracht. Für mich sind die EU und die Verbände verantwortlich. Menschen sterben derzeit. Und selbst wenn wir den Verantwortlichen eine Lösung vorschlagen, wollen sie nichts davon wissen. Sie sagen, dass wir die Bauernhöfe zusammenlegen müssen. Das ist nicht gerecht. Ich und meine Eltern haben zehn Jahre gebraucht, um ein gutes System zu finden. Jetzt funktioniert es. Als ich angefangen habe, hatten wir viele Probleme mit der Hygiene. Das war sehr teuer. Heute läuft es und jetzt sollen wir verkaufen? Nein, es tut mir leid, das mache ich nicht! Ich werde weiter kämpfen.”

Diesen Artikel teilenKommentare

Zum selben Thema

Hat Frankreich aus den Terroranschlägen von 2015 seine Lehren gezogen?

Deutschland im Energie-Wahlkampf: Wo weht der Wind des Wandels?

Halloumi: Kann Käse-Diplomatie Zypern einen?