Armes Deutschland?

Armes Deutschland?
Von Hans von der Brelie
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Warum wächst im reichen Deutschland die Erwerbsarmut? Eine Reportage über Niedriglohn, prekäre Arbeit, Soloselbstständigkeit und Tarifbindung.

Deutschland geht es gut, die Wirtschaft wächst, die Arbeitslosenquote sinkt. Und doch stehen die Menschen vor den Jobcentern Schlange, beispielsweise in Berlin Spandau. Viele hier haben eine Arbeit – und kommen doch nicht über die Runden. Sie brauchen staatliche Hilfe, müssen “aufstocken”, denn ihr Mini-Job reicht kaum für Miete, Wasser, Strom und was sonst noch dazugehört zum Leben.

Deutschland sollte sich deshalb auch auf eine zunehmende Zahl einkommensschwacher Rentner einstellen – so wie Monika Sagertsch. Trotz Ausbildung zur Filialleiterin musste sich die gelernte Verkäuferin über lange Jahre hinweg mit prekärer Arbeit zufriedengeben. Mal ein Job bei Underberg. Dann eine Umschulung zur Pflegerin. Statt einer Festanstellung in ihrem erlernten Beruf, hangelte sie sich von einem befristeten Job zum nächsten. Wieso eigentlich? “Weil sie nicht bezahlen wollten”, meint Monika Sagertsch. “Meine Arbeitskraft war denen zu teuer. Die nehmen Ungelernte für den Beruf, die sind bei 8,50 Euro (Mindestlohn die Stunde) und bei mir müssten sie Tarif bezahlen.”

Arbeitsmarktreform mit Folgen

Nach der deutschen Wiedervereinigung musste die Wirtschaft am Laufen gehalten werden. Wie wettbewerbsfähig bleiben auf dem Weltmarkt? Wie die Lasten der Wiedervereinigung schultern? Wie das Wirtschaftswachstum ankurbeln? Wie Rahmenbedingungen schaffen, damit neue Arbeitsplätze entstehen? Die Arbeitgeber klagten über angeblich zu hohe Lohnkosten. Unter dem damaligen SPD-Bundeskanzler Schröder kam dann die sogenannte Agenda 2010.

Von 2003 bis 2005 reformierte Deutschland den Arbeitsmarkt, Stichwort Hartz-Reformen: weniger Geld für Arbeitslose, eine Zunahme von Zeitarbeit, Werksverträgen, Leiharbeit und Solo-Selbstständigkeit. Der Niedriglohnsektor expandierte. Zwar sank die Arbeitslosenquote, doch die Erwerbsarmut stieg.

Im europaweiten Zehnjahresvergleich zeigt sich heute: “Am stärksten stieg die Erwerbsarmut in Deutschland”, wie eine Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung belegt. Im Untersuchungszeitraum 2004 bis 2014 verdoppelte sie sich in Deutschland, in Italien nahm sie (aus anderen Gründen) um ein Drittel, in Spanien und Frankreich um ein Viertel zu. In den Niederlanden, Polen, Irland und der Slowakei verringerte sich hingegen die Erwerbsarmut.

Im Vorfeld der Bundestagswahl diskutiert Deutschland nun über die Frage: Sind die Löhne zu niedrig? – Beispiel Halle. Wir sind bei Rolf Maurer eingeladen, einem Handwerker, der die Folgen der Arbeitsmarktreformen zu spüren bekam. Der 60-jährige Hallenser Handwerker lebt in einer kleinen Einzimmerwohnung am Stadtrand. Im Regal stehen noch die Glückwunschkarten zum runden Geburtstag. Der Mann ist jung geblieben und stolz darauf, geht oft zum Tanzen in die Disco, belegt in seiner Freizeit Aquarellmalkurse, hält sich über technische Neuentwicklungen auf dem Laufenden.

Rolf Maurer ist geradezu die Verkörperung eines Mannes, der sich das Motto vom “lebenslangen Lernen” zueigen gemacht hat. Der Mann kann so ziemlich alles: Er ist Fliesenleger, Tapezierer, Feintäschner, Rollladentechniker, Kabelverleger, Badgestalter, Fachmann für Estrich- und Fugearbeiten, kann Lichtreklamen herstellen, kennt sich aus mit Trockenbau und Pflasterarbeiten, mit Fassadenputz und Gartenarbeiten. Seit 2013 bietet er seine handwerklichen Fähigkeiten über MyHammer und andere Internetplattformen an.

Was sind denn die Geschäftsrisiken dieser Soloselbstständigkeit? Rolf Maurer: “Die Risiken sind, dass ich nicht weiss, was ich morgen oder übermorgen für Arbeit bekomme und dann habe ich auch manchmal Kunden, die nicht bezahlen, von denen man gar nichts bekommt.”

Und wie sieht es aus beim Stundenlohn? Rolf Maurer: “Als Stundenlohn sollte ich mindestens 35 Euro die Stunde nehmen, empfiehlt die Handwerkskammer, aber die ganzen Jahre hindurch waren es leider viel weniger: 15 Euro, 10 Euro…” Denn durch die Internetplattformen steigt der Konkurrenzdruck. Das macht sich dann beim Stundenlohn bemerkbar, den die Kunden bereit sind zu zahlen – oder eben nicht…

Zuerst die Miete, dann das Werkzeug

Und wie sieht es aus bei Sozialversicherungsbeiträgen? “Zunächst einmal muss die Miete bezahlt werden”, sagt Maurer. Gelegentlich muss er sich auch neues Werkzeug kaufen, je nach Auftragslage. Deshalb spart Maurer bei Altersvorsorge und Arbeitslosenversicherung, die Beiträge könnte er sich nicht immer leisten, meint er. “Ich würde schon gerne”, meint Maurer. Doch er hat Bedenken: Wenn die Verträge einmal unterschrieben sind, dann gibt es das ganze Jahr über laufende Abzüge – und was, wenn dann auf einmal die Auftragslage einbricht? “Dann steh ich da…”, sagt Maurer.

Zu alt für was Festes

Früher hatte Rolf Maurer eine Festanstellung bei einer Gießerei. Der Betrieb ging pleite. Maurer war arbeitslos, bekam zwischendurch vom Arbeitsamt bezuschusste Zeitverträge. Er sei zu alt für was Festes, hörte er im Jobcenter.

Doch Maurer wollte nicht von Stütze leben: “Ich möchte nicht von jemandem abhängig sein”, sagt er. Also machte er sich selbstständig. Einen anderen Ausweg sah er nicht für sich: “Dass ich mich in meinem Alter noch mal selbstständig machen muss, das ist eigentlich nicht schön, sowas. Ich sage mal: Im Alter möchte man doch eigentlich normale Arbeit haben und nicht, dass man mit 60 nochmal einen Neustart machen muss…”

Wenn die Gesundheit mitspielt, wird Maurer noch lange arbeiten. Damit liegt er im “Trend”: Die Zahl der Deutschen, die im hohen Alter arbeiten, hat sich seit zehn Jahren verdoppelt, von fünf auf elf Prozent (in der Altergruppe der Menschen zwischen 65 und 74). Oft eine Notwendigkeit, sonst reicht es nicht zum Monatsende. Die demographische Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland wird das Problem in den kommenden Jahrzehnten noch verschärfen.

Totale Flexibilität

Stichwort Flexibilität. Die hat ihre guten, wie ihre schlechten Seiten. Maurer fängt gerne früh an, Aufstehen mitten in der Nacht, auf der Baustelle vor dem Morgengrauen, um Vier oder Fünf, ist für Maurer OK, vorallem im Sommer, “dann muss man nicht in der Hitze schuften”.

“Arbeitszeit ist so, wie der Kunde das möchte”, sagt Maurer knapp. “Möchte der Kunde am Wochenende, passe ich mich an. Oder eben spät abends, wenn es beim Kunden nur nach der Arbeit geht. Da bin ich ganz flexibel, so wie der Kunde das möchte.”

Für ihn, der seine Kundschaft fast ausschließlich über das Internet findet, ist Flexibilität ein entscheidender Wettbewerbsvorteil. Große Betriebe machen pünklich Feierabend und Wochenende ist Wochenende, Feiertag ist Feiertag. Was aber, wenn der Wohnungseigentümer anwesend sein möchte, fragt Maurer, während die Handwerker im Haus sind? Seine Rund-um-die-Uhr-Verfügbarkeit, seine räumliche und zeitliche Superflexibilität haben Maurer schon so manchen gut bezahlten Auftrag eingebracht. Und: gute Bewertungen. Die “Pluspunkte” zufriedener Kunden auf den Anbieterseiten der Internetplattformen helfen wiederum dabei, beim nächsten Auftrag einen höheren Stundenlohn auszuhandeln.

Berlin – Hauptstadt der schlecht bezahlten Arbeit?

Zurück von Halle nach Berlin. Dort haben wir uns mit einem Gewerkschaftssekretär verabredet, der kein Blatt vor den Mund nimmt, Dierk Hirschel. Berlin bezeichnet Hirschel als Hauptstadt der schlecht bezahlten Arbeit. Hirschel ist Chef-Volkswirt der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di. Seine Hauptsorge sind die seit Jahren zu beobachtenden Auflösungserscheinungen der Tarifbindung, nicht nur in Deutschland übrigens. Immer weniger Beschäftige seien durch Tarifverträge geschützt, “in ganz Europa nur noch 60 Prozent”. Die Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse sei eine direkte Folge.

“Wir haben in Deutschland das Problem, dass jeder fünfte Beschäftigte einen Stundenlohn unter zehn Euro bekommt und damit als Armutslöhner gilt”, erinnert Dierk Hirschel. “Das ist das Ergebnis der Zerstörung der Ordnung des Arbeitsmarktes. Deutschland ist ein reiches Land, das steht außer Zweifel, aber Deutschland ist auch ein sozial gespaltenes Land. Das heißt, in diesem reichen Land gibt es Erwerbsarmut, gibt es Leute, die arbeiten 40 oder 50 Stunden die Woche und können von ihrer Arbeit nicht leben.”

Aufruf für mehr soziale Gerechtigkeit

Eine “gerechtere Steuerpolitik”, “gute Arbeit statt prekärer Beschäftigung”, “Niedriglohnbereich austrocknen”, “Minijobs in abgesicherte Beschäftigung umwandeln”, “Missbrauch von Werkverträgen und prekärer Solo-Selbstständigkeit beenden”, “sachgrundlose Befristung abschaffen” – das sind die zentralen Forderungen von Paritätischem Gesamtverband, Deutschem Gewerkschaftsbund und der Nationalen Armutskonferenz, die sich Ende Juni 2017 zum zweiten Armutskongress in Berlin trafen und einen gemeinsamen Aufruf für mehr soziale Gerechtigkeit verabschiedeten.

Treffen beim Videoblogger

Aushebelung von Tarifverträgen und Billigarbeit, das findet man nicht nur im Hotel- und Gaststättengewerbe, auf dem Bau und beim Frisör – sondern auch dort, wo man es nicht auf den ersten Blick vermutet, beispielsweise bei Berliner Musikschullehrern. – Treffen bei Video-Blogger Tilman-P. Schulze in Berlin Pankow: Der junge Mann empfängt uns und einige befreundete Musikschullehrer mit der Kamera in der Hand. “Hallo Liebe Leute. Herzlich Willkommen zum neuen Video. Ich habe mich heute mit zwei Kollegen verabredet und wir wollen uns einmal über ein sehr wichtiges Thema unterhalten – über das Thema Rente…”, bloggt Tilman in seine Videokamera, dann machen es sich die drei Freunde an einem Metalltisch im Hinterhof bequem.

Stattlicher Musikschulze

Tilman hat Humor, auf seinem Videoblog nennt er sich stattlicher Musikschulze, eine bewusste Verdrehung, geht es doch gerade um das Fehlen einer staatlichen Festanstellung der hochqualifizierten Lehrkräfte an Berlins öffentlichen Musikschulen. Nun ja, und wenn schon nicht staatlich, dann zumindest stattlich…

Im Berliner Hinterhof besprechen die drei Freunde ihre Probleme. Bassist Jan, verheiratet, zwei Kinder, muss gelegentlich auf Erspartes zurückgreifen – statt vorzusorgen für das Alter. Jan jongliert mit gleich drei Jobs. Der Mann mit Hut ist Musikschullehrer-Honorarkraft, Tontechniker und spielt als Bassist bei zahlreichen Konzerten und Festivals mit… eine Sieben-Tage-Woche und trotzdem reicht es gerade einmal für das Nötigste. Gleichzeitig engagiert er sich gewerkschaftlich, setzt sich ein für bessere Arbeitsbedingungen, kämpft für einen Tarifvertrag.

351 Euro Monatsrente

Auch Adriana ist Mitglied bei “ver.di”. Sie geht vermutlich 2033 in Rente, seit über zwei Jahrzehnten unterrichtet sie Gitarre. Als sie ihre Rentenvorausberechnung im Briefkasten fand, bekam sie fast einen Schock. Sie kramt in ihrem Rucksack herum. Schließlich findet sie den Ausdruck vom Amt und legt ihn auf den Tisch. Jan, Tilman und Adriana beugen die Köpfe über das amtliche Papier…

Adriana Balboa: “Damit man das auch schwarz auf weiß sieht, weil das glaubt mir ja keiner, wenn ich das erzähle: Ich habe einen Rentenanspruch von 351,82 Euro… Und ich bezahle heute ungefähr 400 Euro für meine Miete. Also ich kann ja noch nicht einmal die Miete meiner Wohnung damit decken.”

Tilman-P. Schulze: “351 Euro? Guckt Euch das an – das ist nichts! Und das kommt eben durch diese Einzelstundenabrechnungen, dass wir im Sommer nicht bezahlt werden, dass wir schwankendes Einkommen haben und dass wir das unternehmerische Risiko auf unseren Schultern tragen. – Ok, was wäre die Lösung?”

Jan Hoppenstedt: “Dass ein Tarifvertrag für Mitarbeiter an den Musikschulen erarbeitet wird, in dem zum Beispiel angemessene Honorare gezahlt werden, weg von dieser Einzelstundenabrechnung. Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, dass man nicht sofort sein Geld los ist, wenn man einmal krank wird, oder auch, wenn eine Frau ein Kind bekommt, dass sie nicht sofort ihren Job los wird…”

Adriana Balboa: “ Wir haben in Berlin viel zu wenige Festanstellungen: das schlimmste Verhältnis in ganz Deutschland – mit 93 Prozent freien Mitarbeitern und nur sieben Prozent Festanstellungen.”

Rechtlich sind wir Tagelöhner

Die Momentaufnahme sieht düster aus. Doch vielleicht ändert sich dank guter Konjunktur bald einiges, selbst im armen Berlin. Die Stadtregierung will 20 Prozent der Musikschullehrer fest anstellen. Und im Herbst soll ein Tarifvertrag ausgehandelt werden. Solange nicht unterschrieben ist, singen die drei Freunde ihr Protestlied. Tilman hat es vor wenigen Tagen geschrieben und dazu auch gleich einen echten Ohrwurm komponiert. Hört sich fast an wie eine Melodie von Hanns Eisler, eine Mischung aus Dreigroschenoper und Berliner Gassenhauer.

Doch auch der Text hat es in sich: “Lang studiert, qualifiziert, chronisch unterfinanziert, arbeiten wir Tag für Tag, leben im Prekariat. Rechtlich sind wir Tagelöhner, das Geld reicht manchmal grad’ für Döner. Im Sommer ist die Schule aus – und schon schmeißt ihr uns alle ‘raus. Berlin, Berlin – Du armes Kind, wie weit wir doch gekommen sind. Musik scheint sich nicht zu lohnen, in der Hauptstadt der Kulturnationen…”

Insiders - Filming 'Poor Germany'

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