Der futuristische Weiße Turm von Mulegns ist 30 Meter hoch. Der Mehrzweck-Kulturraum soll im Juni eröffnet werden und wird das höchste 3D-gedruckte Bauwerk der Welt sein.
In digitalen Projektionen sieht der Weiße Turm von Mulegns aus wie aus einem Science-Fiction-Film.
Umgeben von den schneebedeckten Gipfeln der Schweizer Alpen erhebt sich der elfenbeinfarbene Turm wie ein uralter Baum aus einem Tal. Ähnlich wie ein Baum ist seine Struktur stark genug, um den kalten Wintern und den starken Winden zu widerstehen, die den Bergpass prägen.
Die 30 Meter hohe abstrakte Konstruktion, die gleichzeitig Konzertsaal, Kunstinstallation und Denkmal ist, wird nach ihrer für Juni geplanten Fertigstellung das höchste 3D-gedruckte Bauwerk der Welt sein.
Das Projekt "Tor Alva" begann vor drei Jahren als Initiative zur Wiederbelebung der im Niedergang begriffenen Dörfer am Julierpass, der einst ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt zwischen Nord- und Südeuropa war.
Die Bevölkerung von Mulegns, dem Dorf, in dem der Turm errichtet wird, ist seit dem Höhepunkt seiner Aktivität Mitte des 19. Jahrhunderts drastisch zurückgegangen. Heute leben dort nur noch etwa 16 Menschen, und viele Gebäude stehen leer und verlassen.
Nova Fundaziun Origen, die Kulturstiftung der Region, schlug vor, dass ein architektonisches Wunderwerk wie Tor Alva das Geheimnis für die Wiederbelebung der Gegend sein könnte und die Menschen dazu anregen könnte, den Ort zu besuchen, eine Aufführung zu sehen und vielleicht sogar ein paar Nächte dort zu verbringen.
Eine Übung in kreativer Teamarbeit
Tor Alva ist das Ergebnis jahrelanger Arbeit und Zusammenarbeit von Dutzenden von Ingenieuren, Materialspezialisten und Forscher:innen.
Der Turm besteht aus Beton, der mit einem am Departement für Gebäudetechnik (DBT) der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich entwickelten Extrusionsverfahren in 3D gedruckt wurde.
Entworfen wurde er von den Architekten Michael Hansmeyer und Benjamin Dillenburger, beides Pioniere des computergestützten Designs und der digitalen Fertigung.
Zwar gibt es den 3D-Druck von Beton schon seit Jahren, aber es ist das erste Mal, dass das Verfahren in der Lage ist, Bewehrungsstäbe zu integrieren, die der Struktur die nötige Stabilität verleihen, um hoch zu stehen, so Hansmeyer.
"Bis jetzt war noch nie ein Bewehrungsstab in den Beton integriert", sagte Hansmeyer gegenüber Euronews Kultur. "Wir konnten zum ersten Mal Bewehrungsstäbe in diesen Betonextrusionsprozess integrieren, was es uns ermöglicht, sehr, sehr hoch zu bauen."
Das Gebäude besteht aus 32 vorgefertigten Säulen, die einfach ausgedruckt und vor Ort zusammengesetzt werden können. Es hat fünf Ebenen, die heller und luftiger werden, je höher man die Wendeltreppe hinaufsteigt, bis man ganz oben den kuppelförmigen Aufführungsraum erreicht.
Der Aufführungsraum bietet Platz für 45 Besucher und bietet einen Panoramablick auf die umliegenden Berge. Die Fassade des Turms wird mit einer abnehmbaren, lichtdurchlässigen Membran versehen, um die Besucher vor dem kalten Winterwetter zu schützen.
Anfang Februar begann das Druckverfahren für die ersten acht Säulen, die das untere Stockwerk des Gebäudes bilden werden. Insgesamt 900 Stunden wird es dauern, bis alle Elemente in 3D gedruckt sind.
Neue Freiheiten, neue Herausforderungen
Diese neue Art des Bauens bringt eine Reihe neuer Freiheiten für das Design mit sich, aber auch einzigartige Herausforderungen für die strukturelle Integrität.
Die Form von Tor Alva mit seinen verzweigten Säulen und der wellenförmigen Oberfläche hätte mit traditionellen Baumethoden niemals realisiert werden können, so Hansmeyer.
"In den letzten 100 Jahren hatte die Architektur viel mit standardisierten Formen zu tun, die in der Regel in 90-Grad-Winkeln ausgerichtet waren, mit Oberflächen, die nicht gegliedert, sondern eher flach waren", so Hansmeyer. "Mit dieser 3D-Drucktechnik können wir wieder ein Ornament oder nicht standardisierte Krümmungen einführen, ohne dass es etwas kostet, weil es dem Roboter egal ist, ob er eine gerade Linie oder ein Ornament druckt."
"Für uns Architekten ist diese Gestaltungsfreiheit super spannend", fügt er hinzu.
Jede Säule des Turms wird einzigartig sein, mit ihrer eigenen Oberflächenstruktur und Ornamentschicht, die wie ein Fingerabdruck wirkt. In gewisser Weise, so Hansmeyer, kann die moderne Technologie dem Bauen einen gewissen handwerklichen Aspekt zurückgeben, der bei zeitgenössischen Konstruktionen zumeist fehlt.
"Es ist fast so, als würde man in die Zeit vor der Industrialisierung, der Massenproduktion und der Fließbandfertigung zurückkehren, in eine Zeit, in der es eher eine handwerkliche Produktion gab", sagt er.
Hansmeyer fügt hinzu, dass der Entwurf auch von technischen Zwängen geprägt war. Ursprünglich war der Turm mit vertikalen Säulen gezeichnet worden, die jedoch durch die jetzigen Y-förmigen Säulen ersetzt wurden, nachdem die Forscher:innen festgestellt hatten, dass diese den durch Wind und Aktivitäten verursachten Belastungen besser standhalten konnten.
Eine ökologischere Art des Bauens
Ein weiterer Vorteil des 3D-Drucks von Beton ist laut Hansmeyer die geringere Umweltbelastung durch die Strukturen.
Traditionell werden für den Bau von Betonstrukturen Schalungen oder Rahmen benötigt, die dem gegossenen Beton seine Form geben. Betonkonstruktionen werden auch aus massiven Blöcken oder Säulen hergestellt, eine technische Einschränkung, die die strukturelle Solidität des Gebäudes aufrechterhält.
Der 3D-Druck bietet jedoch eine einzigartige, minimalistischere Alternative: Schalungen sind nicht mehr erforderlich, wodurch Material eingespart wird, und die Menge an Beton, die für den Bau einer soliden Struktur benötigt wird, ist geringer, da die am 3D-Druck beteiligten Roboter nur die Außenhülle des Gebäudes drucken können.
Das Problem der Entsorgung eines Gebäudes, das zu den umweltschädlichsten Aspekten der Bauindustrie gehört, wird auch dadurch gelöst, dass die Struktur leicht demontiert werden kann.
"Der Turm ist modular aufgebaut, und die Teile werden einfach zusammengeschraubt", so Hansmeyer. "Wir können also die verschiedenen Teile abschrauben und den Turm zerlegen, um ihm eine zweite Verwendung oder ein zweites Leben zu geben, entweder als Turm an einem anderen Ort oder um die Komponenten in einem anderen Projekt in der Zukunft einzusetzen."
Tor Alva wird von Juni 2024 bis zu seiner Demontage 2029 in Mulegns stehen und danach seine Reise an einen anderen Ort fortsetzen.