Babyboom in Berlin: Der tägliche Kampf mit den Wartelisten

Babyboom in Berlin: Der tägliche Kampf mit den Wartelisten
Von Euronews
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Berlin vermehrt sich immer mehr - da kommen sogar die Kreißsäle nicht mehr hinterher.

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Während Deutschlands Geburtenrate eine der niedrigsten in Europa ist, vermehrt sich Berlin immer mehr. Die zunehmende Geburtenzahl macht werdenden Müttern und Behörden das Leben schwerer.

Ida wurde im Juli 2016 geboren. Ihre Mutter Sara hatte schon in der zwölften Schwangerschaftswoche angefangen, nach einer Hebamme zu suchen. Sie musste aber sogleich feststellen, dass so leicht keine Hebamme zu finden ist, die gleichzeitig in der Nähe praktiziert, verlässlich und sympathisch ist. Nach dem 50. Anruf gab Sara es auf und nahm einfach die erste Hebamme, die verfügbar war. Zu jenem Zeitpunkt war ihr noch nicht klar, dass dies nur der Anfang war.

“Im vierten Monat sind wir zu einer regulären Informationsveranstaltung des Krankenhauses gegangen, in dem ich entbinden wollte. Der Raum war so voll, dass wir zuerst gar keinen Platz gefunden haben. Extra-Stühle wurden gebraucht, obwohl der Raum groß war und sie solch eine Veranstaltung fast jede Woche abhielten. Als ich sah, wie viele Frauen sich in diesem Krankenhaus anmelden wollten, hatte ich Angst, dass ich keinen Platz bekomme.

Aber wir hatten in dem Fall Glück. Die Anmeldung für den Geburtsvorbereitungskurs war dagegen nicht ganz so einfach. Ich musste drei Wochen lang jeden Tag anrufen, um jemanden persönlich ans Telefon zu bekommen und nicht nur eine telefonische Ansage. Und als der Kurs begann und uns der Kursleiter warnte, dass wir am Tag der Entbindung vielleicht nicht im Krankenhaus angenommen werden würden, habe ich wirklich Angst bekommen.”

Ausgebuchte Kreißsäle

Obwohl werdende Eltern in Deutschland das Krankenhaus zur Entbindung wählen können, landen sie am Ende oft in einem anderen. Denn Kreißsäle mussten wegen Andrangs vorübergehend schon geschlossen werden. Einer der größten Klinikkonzerne in Berlin, Vivantes, bei dem gut ein Drittel der Kinder in Berlin zur Welt gebracht werden, musste zum Beispiel im Januar 2017 an 12 von 31 Tagen Kreißsäle wegen Kapazitätsproblemen sperren, sodass Rettungswagen mit Schwangeren diese nicht mehr anfahren durften.

Laut Vivantes-Sprecherin Kristina Tschenett musste in einer Geburtsstation in der Innenstadt ein Büro in einen Entbindungsraum umgewandelt werden, um mehr Patientinnen betreuen zu können.

Die Geburtenraten in Berlin steigen seit 2005 kontinuierlich. Seit 2007 übersteigen die Geburten sogar die Todesfälle. Das bedeutet, dass Berlin die einzige Stadt der Bundesrepublik mit einer wachsenden Bevölkerung ist. Während in Deutschland mit rund 82 Millionen Einwohnern ungefähr 150.000 bis 200.000 mehr Menschen sterben als geboren werden, gab es in Berlin mit 3,6 Millionen Einwohnern 2014 und 2015 etwa 5.000 mehr Geburten als Todesfälle.

“Obwohl die Einwanderung ein Schlüsselfaktor für Berlins Trendwende beim Bevölkerungsrückgang der 1990er ist, erklärt allein die Flüchtlingskrise den gegenwärtigen Trend nicht”, sagt Christoph Lang, Sprecher des Berliner Senats für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung. “Schon vor der Flüchtlingskrise war Berlin eines der Hauptziele für Migranten. Und nicht nur für Menschen aus dem Ausland. Viele junge Deutsche kommen in die Hauptstadt, um zu studieren, eine Familie zu gründen und / oder ihre Karriere zu starten, aber dann bleiben sie. Deshalb ist Berlin die jüngste Stadt Deutschlands geworden. Der Durchschnitts-Berliner (42,8 Jahre alt) ist fast zwei Jahre jünger als der Durchschnitts-Deutsche (44,3 Jahre alt).”

Lang zufolge stellt Berlins Wachstum seine Behörde vor enorme Herausforderungen. Als erste Aufgabe sieht sie aber nicht die Aufstockung bei den Krankenhäusern, sondern den Ausbau der Kindertagesbetreuung und das Problem geringer personeller Besetzung, insbesondere den Mangel an Hebammen.

24 Stunden sind nicht genug

“Hebammen sind in Berlin gegenwärtig drei- bis viermal überbucht. 24 Stunden pro Tag sind nicht genug, um unsere Arbeit akkurat zu machen”, klagt Susanna Rinne-Wolf, Vorsitzende des Berliner Hebammenverbandes. Der Verband hat 950 Mitglieder, doch es gibt keine Statistik über die genaue Zahl von Hebammen, die in Deutschlands Hauptstadt praktizieren. Eine Umfrage des bundesweiten Hebammenverbandes zeigte im vergangenen Jahr, dass neunzig Prozent der Hebammen regelmäßig Überstunden machen und wenigstens die Hälfte der Hebammen, die im Krankenhaus arbeiten, sich um drei oder vier Frauen gleichzeitig kümmern müssen – jede fünfte von ihnen betreut sogar mehr als vier Frauen zur selben Zeit.

“Ich würde nicht sagen, dass dies eine sichere Geburtsbetreuung ist. In dieser Hinsicht sollte sich kein Krankenhaus wundern, warum nur zwanzig Prozent der Hebammen Vollzeit für sie arbeiten wollen. Auf Station zu arbeiten, heißt, unterbezahlt und überbeansprucht zu sein. Die Krankenhäuser sollten diesen Beruf attraktiver machen: Mehr Stellen und bessere Bezahlung sollten angeboten werden, damit eine sichere und mehr Einzelfall-Betreuung für die Frauen möglich ist”, fordert Rinne-Wolf. Wenn der Berliner Senat die Arbeitsbedingungen verbessere, würden auch mehr Hebammen an den Krankenhäusern arbeiten wollen, und dies könne langfristig den Betrieb in den Geburtsstationen erleichtern.

Von Warteliste zu Warteliste

Idas Mutter Sara machte sich nicht über die Lage im Krankenhaus am meisten Sorgen. “Ein Kind in Berlin zu haben, ist gleichbedeutend mit ständigem Schlangestehen. Man kommt von der einen Warteliste auf die nächste. Zuerst wartet man auf einen Termin bei der Gynäkologin, dann auf eine Hebamme, auf den Platz im Krankenhaus, auf den Platz beim Geburtsvorbereitungskurs, und sogar auf den Kinderwagen. Derzeit warten wir schon seit vier Monaten auf einen Platz für die Kinderbetreuung. Und nicht etwa, weil wir Sonderwünsche haben. Es muss noch nicht einmal in unserer Nähe sein. Das Unschönste an der ganzen Sache ist, dass man einfach nicht die Einrichtung oder die Person wählen kann, die einem selbst und dem Kind am besten zusagen. Man muss nehmen, wen und was man kriegt. Ich hätte so etwas in der Deutschlands Hauptstadt nicht erwartet.”

Dóra Diseri, Berlin

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