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Von Muhammed Yesilhark
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Die in diesem Artikel geäußerten Meinungen sind die der Autoren und stellen in keiner Weise die redaktionelle Position von Euronews dar.

Das Demokratieverständnis in der Türkei könnte Europa sogar das eine oder andere lehren, sagt der Philanthrop Muhammed Yesilhark in einem Kommentar auf Euronews.

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Dieser Artikel ist ein Kommentar und spiegelt nur die Ansicht des Autors wider.

Inmitten der ständigen Flut von Berichten, die die Türkei als "autoritären Staat" und sogar als Diktatur bezeichnen, fanden am Sonntagmorgen die Kommunalwahlen statt. Die regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) verlor dabei wahrscheinlich die Kontrolle über drei Großstädte.

Darunter ist voraussichtlich Istanbul, wo der ehemalige Premierminister und AKP-Parteikandidat Binali Yildirim offenbar von der CHP-Opposition besiegt wurde.

Die Wahlbeteiligung von 84 Prozent beweist, dass die Türken trotz negativer Wahrnehmungen im Ausland und wirtschaftlicher Turbulenzen im Inland nicht aufgehört haben, an die Macht der Wahlurne zu glauben. Und die sofortige Anerkennung von Präsident Erdogan, dass die Regierung "beginnen muss, unsere Fehler zu beheben", ist ein Zeichen dafür, dass die Türkei in Bezug auf ihre politische Meinungsäußerung, die Unabhängigkeit ihrer Justiz und sogar die Pressefreiheit einen Wandel erfährt.

Eines der wenigen Dinge, die in der türkischen Politik seit einiger Zeit stabil sind, ist die Wahlbeteiligung. Die türkische Republik verfügt über ein hohes Maß an politischer Partizipation, von dem sogenannte "entwickelte" Demokratien nur träumen können. Die Wahlbeteiligung bei den Kommunalwahlen der vergangenen Woche war für die Türkei eigentlich relativ niedrig; bei den letzten vier Wahlen seit 2015 war die Wahlbeteiligung sogar noch höher.

Lesen: 31. März: Warum sind die Kommunalwahlen in der Türkei so wichtig? | Fragen & Antworten

Dies steht im starken Vergleich zu den Stimmen in Westeuropa, wo selbst bei Schlüsselereignissen wie dem Brexit die Wahlbeteiligung deutlich geringer ist (72 Prozent beim EU-Referendum in Großbritannien). Dieser Umstand wird oft als Zeichen dafür gesehen, dass das Vertrauen in eine Demokratie geschwächt ist. Ist die Beteiligungsquote der Türkei nicht ein Beweis für eine gesunde Politik?

Eines ist sicher: Wir in Europa müssen unsere Annahmen darüber, was eine "starke" Demokratie ausmacht, überdenken. Und das bedeutet, die vage rassistische Vorstellung infrage zu stellen, dass Demokratie eine geozentrische europäische Erfindung ist, die muslimische Köpfe für immer nur schwer verstehen werden. Ganz zu schweigen davon, dass Istanbul näher an Athen liegt, dem Geburtsort der Demokratie, als Berlin oder London.

Das bedeutet nicht, dass die Türkei perfekt ist. Seit Jahren kämpft der Staat leise mit einem Putschversuch, einem von den USA unterstützten terroristischen Aufstand, einer Flüchtlingskrise, die Europa im Vergleich bleich werden lässt, und der notwendigen Beteiligung am syrischen Krieg um seiner eigenen Sicherheit und territorialen Integrität willen.

Dies hat die Justiz, die Medien und andere Elemente der Zivilgesellschaft stark belastet. Aber trotz allem will das türkische Volk immer noch abstimmen.

Lesen | Wahlen in der Türkei: Denkzettel für Erdogan

Dies stellt eine schwierige Situation für externe Beobachter dar, die den selbstbewussten, ja sogar muskulösen Führungsstil von Präsident Erdogan als entfremdend empfinden. Als Zeuge seines anhaltenden Wahlerfolgs war die einzige Erklärung in ihren Köpfen, dass die Wahlen manipuliert wurden. Diese Position ist unmöglich aufrechtzuerhalten, nachdem seine Partei einige Misserfolge erlitten hat. Wenn man Wahlen manipulieren will, würde man sie sicher alle manipulieren?

Trotz aller Fehler ist die Türkei eine Demokratie – und sie ist die Art von Freund, die Europa gerade jetzt braucht. In einer Zeit, in der sich der Kontinent nach innen wendet und die extreme Rechte versucht, der Türkei ihre europäische Identität zu rauben, könnte es keinen größeren Coup geben für Europa, als Ankara wieder näher an Brüssel heranzuführen.

Und stärkere Beziehungen zu einer sich schnell entwickelnden muslimischen Mehrheitsnation würden weiß-nationalistische Bilder in Europa zerstören (lesen Sie einfach das Manifest des Angreifers von Christchurch, um zu sehen, wie wichtig das Anderweitige der Türkei für diese Weltanschauung ist).

Die Zusammenarbeit mit türkischen staatlichen und zivilgesellschaftlichen Institutionen wird auch die Beziehungen der europäischen Regierungen zu vielen ihrer eigenen Bürger stärken.

So sind viele der vier Millionen Deutschen türkischen Ursprungs der Verleumdung ihres Herkunftslandes durch Teile der deutschen Presse müde. Die Entwicklung eines Verhältnisses von Integration und Konsistenz mit dem Land – das viele von ihnen immer noch als ihr Mutterland bezeichnen würden – würde ihr Engagement in der deutschen und europäischen Politik und Zivilgesellschaft wieder beleben.

Vielleicht reicht es sogar aus, um bei der nächsten Bundestagswahl eine Beteiligung von 84 Prozent zu erreichen.

Muhammed Yesilhark

Muhammed Yesilhark ist Philanthrop, Stiftungsratsmitglied der National Zakat Foundation in Großbritannien und Gründer der Q2Q Foundation.

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