Vor den Wahlen: Welche politischen Ansichten haben junge Polen?

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Von Hans von der BrelieSabine Sans
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Witness-Reporter Hans von der Brelie ist durch Polen gereist und hat Erstwähler über ihre politischen Standpunkte befragt. Ein Stimmungsbild eines tief zerrissenen Landes.

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Wer wird Polen in den kommenden vier Jahren regieren? Die Senats- und Parlamentswahlen sind nicht nur für Polen wichtig, sondern auch für die Europäische Union. Wo liegen heute die wichtigsten Herausforderungen für die polnische Gesellschaft? Welche Ängste und Hoffnungen haben die jungen Polen? Euronews hat MoJo-Reporter Hans von der Brelie vor Ort geschickt, um mehr über den Gemütszustand der polnischen Erstwähler herauszufinden.

Die Mitte

  • Die wichtigste Oppositionskraft, die liberal-konservative PO, hat sich mit einigen kleinen Parteien zusammengetan, die ähnliche pro-europäische Werte vertreten ("Modern", "Grüne Partei", "Polnische Initiative"). Durch die Schaffung einer gemeinsamen Wahlplattform, der "Bürgerkoalition" (KO), öffnete sie sich Mitte-Links-Kräften und gilt nun als politische "Sammelbewegung" der Mitte.

Jan, 20 Jahre alt, Anhänger der "Bürgerkoalition"

In der Kleinstadt Grójec, dem Herzen des polnischen Apfelanbaugebiets, treffen wir den 20-jährigen Jan, einen aktiven Anhänger der "Bürgerkoalition". Der junge Mann begann sich für Politik zu interessieren, als Polen von großen Demonstrationen gegen Gesetze erschüttert wurde, die einige der restriktivsten Abtreibungsvorschriften in ganz Europa einführten. Frauen sollten selber entscheiden können, was sie mit ihrem Körper machen, meint Jan. Die staatliche Bevormundung durch die regierenden Klerikal-Konservativen der PiS ist ihm zuwider.

Damals war Jan 17 Jahre alt. Seitdem nimmt er an Demonstrationen gegen die PiS-Politik teil, verteilt Flugblätter und hofft auf eine Veränderung: "Ich mag es nicht, wie die alte Generation unser Land regiert", sagt er Euronews. Es sollte mehr getan werden, um die Klimakrise zu bekämpfen, meint Jan. Das Land sollte sich "von fossilen Brennstoffen verabschieden und zu 100 Prozent auf erneuerbare Energien umsteigen". Jan möchte, dass Polen sich mit der EU versöhnt: "Die Europäische Union bedeutet Fortschritt."

Zunächst, als Teenager, hatte Jan mit der linken Partei "Lewica" sympathisiert. "Doch die waren mir irgendwann zu links", meint der Psychologiestudent rückblickend. Ihn störten zu weitreichende Umverteilungsideen der Linken. An der "Bürgerkoalition" gefällt ihm der liberale, europafreundliche Ansatz, der Staatseinfluss und Eigeninitiative in Waage hält. Auch bei der Ausgabenpolitik müsse man darauf achten, dass man nicht mehr verteile, als man habe - ein klarer Seitenhieb auf die aus dem Ruder laufende Ausgaben der bisherigen Regierungskoalition unter Führung der Nationalkonservativen (PiS).

Jan hat schon mit 17 gegen weitere Verschärfungen des Abtreibungsrechts demonstriert
Jan hat schon mit 17 gegen weitere Verschärfungen des Abtreibungsrechts demonstrierteuronews

Die Linke

  • "Lewica" ist auf der linken Seite des politischen Spektrums angesiedelt und vereint sozialdemokratische und sozialistische Ideen und setzt sich für einen starken Sozialstaat und gleiche Chancen für alle ein. Vor der Wahl lehnte "Lewica" eine Verschmelzung mit der "Bürgerkoalition" ab, könnte aber nach der Wahl für eine Zusammenarbeit offen sein, wenn dadurch ein Regierungswechsel ermöglicht würde.

Aleksandra, 20-jährige Studentin, "Lewica"-Unterstützerin

In Siedlce, einer Stadt im Osten Polens, treffen wir Aleksandra, 20 Jahre alt. Die "Lewica"-Unterstützerin studiert Internationale Beziehungen in Polen, Belgien und Spanien. "Der aktuellen politischen Landschaft in Polen fehlt es an Würde", sagt sie und wirft der Regierungspartei PiS vor, das Land mit Hetzkampagnen gegen Andersdenkende zu überziehen. Hinzu kommt, dass die öffentlich-rechtlichen Medien Polens weitestgehend im Sinne der Regierungspartei PiS berichten

Als das Gespräch auf Themen wie Klimaschutz und Energiepolitik kommt, stellt sich heraus, dass die sozialdemokratisch orientierte Aleksandra ähnliche Positionen vertritt wie Jan von der Bürgerkoalition. Die Gefahren der Klimakrise würden in Polen immer noch unterschätzt, "und ja, ganz klar", Polen solle schleunigst umstellen auf nachhaltige Energie-Erzeugung.

Aleksandra wünscht sich mehr Anstand und Würde in der Politik
Aleksandra wünscht sich mehr Anstand und Würde in der Politikeuronews

Aleksandra ist unglücklich über die jüngsten Reformen des polnischen Justizsystems, entsetzt über die unlängst verschärften Beschränkungen der Abtreibung und schlägt eine Änderung der Asylpolitik vor: "Der Planet brennt, die Menschen werden auswandern. Kein Mensch ist illegal, also sollte man ihnen Asyl und die Hilfe geben, die sie brauchen."

Die Nationalkonservativen

  • Polens nationalkonservative, langjährige Regierungspartei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS) hat Polen in offene Konflikte mit der EU geführt. In den letzten Jahren haben sowohl die öffentlichen Medien als auch die polnische Justiz ihre Unabhängigkeit verloren. Die EU sah grundlegende europäische Rechtsstaats-Prinzipien bedroht und blockierte mehrere Milliarden Euro an Hilfsgeldern, die für Polen vorgesehen waren. Der Wahlkampf der PiS war geprägt von Verunglimpfungen Europas - wegen der Pläne, Migranten gleichmäßiger auf die EU-Mitgliedstaaten zu verteilen - und Deutschlands, dem man vorwirft, sich in polnische Angelegenheiten (beispielsweise in der Rentenpolitik) einzumischen. Darüber hinaus versprach die PiS polnischen Wählern weitere Erhöhungen der Sozialausgaben.

Robert, ein 23-jähriger Student, Anhänger der PiS-Partei

In dem kleinen Dorf Baranów treffen wir Robert, einen 23-jährigen Studenten der Rechtswissenschaften und der Medizin. Am Computer seines Dachzimmer arbeitet er am Internet-Auftritt seines PiS-Kandidaten. Der junge Mann ist wissenshungrig. In seiner Freizeit lernt er Sprachen "zur Entspannung", Englisch, Russisch, Deutsch, Koreanisch, Latein... 

Auf den Regalen an der Wand stehen Bücher unterschiedlichster Wissensgebiete, religiöse Bildchen, gut sichtbar auch ein Diplom der "PiS-Akademie", eine Parteiveranstaltung für Parteifreunde und potentielle Nachwuchskader, bei der - aus Sicht der PiS - die großen Themen aus Politik, Zeitgeschichte, Vergangenheit und Gegenwart abgedeckt werden, mit hochrangigen Gästen aus Partei, Regierung und  Ministerien als Gastredner.    

Robert ist Anhänger der regierenden PiS-Partei
Robert ist Anhänger der regierenden PiS-Parteieuronews

Auf die Frage nach der größten politischen Herausforderung wählt Robert eine lokale Antwort: "Ich möchte das bestmögliche Verkehrssystem in meinem Landkreis schaffen." Er ist stolz auf die harte Haltung seiner Partei gegenüber der Migration: "Europa sollte von uns lernen." 

Zur Klimapolitik sagt er: "Wir müssen an die Kohle denken, denn die polnische Kohle-Branche ist sehr einflussreich in der polnischen Politik." Robert betont, wie wichtig es für die künftige Energieversorgung des Landes sei, Kernkraftwerke zu bauen. 

Und was ist Deine Meinung zur Europäischen Union, frage ich ihn. "Wir wollen ein starkes Europa", sagt Robert, "aber nicht als Föderation, das ist die falsche Richtung." Ein lockerer Bund voll souveräner Staaten, das ist sein Vorschlag für die künftige Entwicklung der EU.

Die Rechtsextremen

  • Die "Konfederacja" ist ein Schmelztiegel für Monarchisten, eingefleischte EU-Hasser, Antisemiten und Rechtsextreme. Angetrieben von ultranationalistischen Antisystem-Gruppen mit überwiegend sozialdarwinistischen Ideen hat die "Konfederacja" wiederholt Spekulationen zurückgewiesen, sich mit der langjährigen Regierungspartei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS) in einer Koalition zusammenzufinden. Aber sowohl Analysten als auch Parteimitglieder sagten Euronews, dass "Konfederacja" eine von der PiS geführte Minderheitsregierung tolerieren könnte.

Erstwähler Sebastian, Anhänger der "Konfederacja"

In Warschau treffen wir Erstwähler Sebastian beim Verteilen von Flugblättern. Der massiv gebaute Muskelmann trainiert Kampfsport und ist ein begeisterter Gamer, insbesondere Kriegsspiele haben es ihm angetan. Sebastian mag harte Rockmusik, seinen Hamster und "Konfederacja" - und er studiert Politikwissenschaften. 

Reporter Hans von der Brelie (li.) beim Interview mit Sebastian
Reporter Hans von der Brelie (li.) beim Interview mit Sebastianeuronews

Wann und warum bist du denn in die Politik gegangen, frage ich ihn. "Im Jahr 2020", sagt Sebastian. "Wir haben vor den Kirchen gestanden und sie gegen die linken Abtreibungsbefürworter verteidigt. Abtreibung ist schlecht! Wir sollten nicht die hilflosesten und unschuldigsten Menschen ermorden.

Im weiteren Verlauf des Gesprächs unterstreicht Sebastian die Bedeutung der polnischen Kohle, die er als "schwarzes Gold unter unter unseren Füßen" bezeichnet: "Wir sollten sie nutzen; und dann: Lasst uns auf Atomkraft umsteigen!"  Eine Position, die mit derjenigen des nationalkonservativen Robert (PiS) deckungsgleich ist.

Und was ist mit Europa, mit der Europäischen Union? Sebastian: "Ich denke schlecht über die EU. Sie versuchen, linke Ideologien in den Nationalstaaten durchzusetzen. Als Nationalisten sind wir absolut dagegen."

Und jetzt?

Egal, ob Polen künftig von Rechten regiert wird oder von der bürgerlichen Mitte, das Land steht vor großen Herausforderungen:

  • Um an blockierte EU-Gelder zu kommen, muss die Unabhängigkeit der Justiz wieder hergestellt werden.
  • Es gibt auch Probleme mit der Presse-Freiheit und dem Wahlrecht. 
  • Und was vielleicht das wichtigste ist: Polen braucht dringend eine Befriedung der öffentlichen Rede, sprich eine gesellschaftliche Aussöhnung über tiefe politische Gräben hinweg.

Weitere Quellen • Fixer & Übersetzerin: Iwona Wyszogrodzka; Schitt: Stéphane Petit; Ton: Hugo Pouillard; Produktion: Géraldine Mouquet & Aurélien Coulet; Technische Unterstützung: Robin Richard; Rechercheur:: Davide Raffaele Lobina; Produktionsleitung: Sophie Claudet

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