Das Stockholm-Syndrom: reales Phänomen oder frauenfeindlicher Mythos?

Stockholm-Syndrom nach 50 Jahren: Psychiater sagen, es ist nicht real
Stockholm-Syndrom nach 50 Jahren: Psychiater sagen, es ist nicht real Copyright AFP/TT News Agency
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Von Roselyne Min mit AFP
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Dieser Artikel wurde im Original veröffentlicht auf Englisch

Schwedische Psychiater bezeichnen das berüchtigte Stockholm-Syndrom inzwischen als "konstruiertes Konzept", mit dem vom Versagen des Staates abgelenkt werden sollte. Auf Kosten der weiblichen Geiseln.

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Ein dramatischer Vorfall machte die Welt vor 50 Jahren um einen Begriff reicher: das sogenannte Stockholm-Syndrom. 

Jan-Erik Olsson, ein Sträfling mit dem Spitznamen "Janne", nahm am 23. August 1973 vier Bankangestellte in einem Banktresor im Zentrum Stockholms als Geiseln und löste damit eine sechstägige Staatskrise aus. 

"Wir dachten, dass es sich um eine ganz normale Geiselnahme handeln würde, wie sie damals bei Flugzeugen vorkam, und dass sie einen Tag und eine Nacht dauern würde, aber wir hätten nie gedacht, dass sie so lange dauern würde! Wir mussten durchhalten. Es war aufregend, das ist sicher", sagte Bertil Ericsson, 73, ehemaliger Fotograf bei Schwedens größter Nachrichtenagentur TT.

Er berichtete über die Geiselnahme in der Kreditbank im Zentrum der schwedischen Hauptstadt. Das Gebäude war tagelang umzingelt von Polizei und Journalisten. 

"Wir fanden es ein wenig bizarr, dass sie sich in die Räuber verliebt haben sollte", fügte Ericsson hinzu und bezog sich dabei auf den Zustand, der inzwischen als Stockholm-Syndrom bekannt geworden ist.

Der Begriff wurde erstmals von dem Psychiater Nils Bejerot geprägt, der im Jahr 1973 vor Gericht aussagte.

Seine Aufgabe war es, das Verhalten der Angeklagten und der Geiseln zu analysieren. Ein halbes Jahrhundert später bezeichnen Psychiater und andere Experten das Konzept nun als Irrglauben.

Ein erfundenes Konzept

"Nichts deutet darauf hin, dass die Geiseln tatsächlich psychiatrisch gestört waren oder dass sie ein Syndrom entwickelt hätten. Das Stockholm-Syndrom war eine Erfindung, um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass diese Frauen in dieser Situation rational gehandelt haben", so Cecilia Ase, Professorin für Gender Studies an der Universität Stockholm.

Ase sagt, die Aussagen der weiblichen Geiseln seien von den Behörden "in einer sehr sexualisierten Dimension" interpretiert worden. Das Stockholm-Syndrom sei ein "konstruiertes Konzept", mit dem erklärt werden solle, wie sich Geiseln verhalten, wenn Behörden und Staaten sie nicht schützen.

Ich war nicht verliebt. Ich war eine 23-jährige Frau, die sechs schreckliche Tage in einem Banktresor überlebt hatte.
Kristin Enmark
Überlebende Geisel

Christoffer Rahm, Psychiater am schwedischen Karolinska-Institut und Autor des wissenschaftlichen Artikels "Stockholm-Syndrom: Psychiatrische Diagnose oder urbaner Mythos?" stimmt zu, dass das Stockholm-Syndrom "keine psychiatrische Diagnose" sei.

Rahm sieht das Verhalten der Geiseln als einen "Verteidigungsmechanismus, der dem Opfer hilft", mit einer traumatischen Situation fertig zu werden, was auch bei häuslicher Gewalt oder anderen Missbrauchssituationen häufig vorkomme.

In ihrem Buch über die Kreditbank-Belagerung erklärte Kristin Enmark, eine der Geiseln, dass es mit Blick auf die Täter von ihrer Seite aus "keine Liebe oder körperliche Anziehung" gegeben habe. Sie habe lediglich versucht zu überleben.

"Es war, als hätten sie im Voraus entschieden, wie die Dinge gewesen sind. Aber ich war nicht verliebt. Ich war eine 23-jährige Frau, die sechs schreckliche Tage in einem Banktresor überlebt hatte", sagte sie 2015 in einem Interview mit der schwedischen Zeitung Aftonbladet.

Enmark hatte später eine Liebesbeziehung mit Clark Olofsson, einem berüchtigten Bankräuber, der sich während des Geiseldramas zu Janne in den Tresorraum gesellt hatte. Zuvor war seine Freilassung mit der Polizei ausgehandelt worden. 

"Es gab keine Liebe oder körperliche Anziehung von meiner Seite aus. Er [Olofsson] war meine Überlebenschance, und er beschützte mich vor Janne", berichtet sie in ihren 2020 erschienenen Memoiren "Jag blev Stockholmssyndromet" ("Ich wurde zum Stockholm-Syndrom").

Weitere Informationen zu dieser Geschichte finden Sie im Video im obigen Media Player.

Cutter • Roselyne Min

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