Am 12. Jahrestag von Fukushima: wie gut sind wir auf eine Nuklearkatastrophe vorbereitet?

Russlands Krieg gegen die Ukraine, extreme Wetterphänomene und alternde Reaktoren in Europa beunruhigen Experten.
Russlands Krieg gegen die Ukraine, extreme Wetterphänomene und alternde Reaktoren in Europa beunruhigen Experten. Copyright Canva - Euronews
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Von Camille Bello
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Die russische Invasion in der Ukraine und die besorgniserregenden Ereignisse um das größte AKW Europas in Saporischschja haben sie Sorgen um eine katastrophale nukleare Verseuchung aufleben lassen.

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Vor genau zwölf Jahren verursachten ein massives Erdbeben und ein Tsunami im japanischen Kernkraftwerk Fukushima Daiichi den zweitschlimmsten Atomunfall der Geschichte.

Der Jahrestag der Katastrophe, bei der 160 000 Menschen ums Leben kamen und die die japanische Regierung über 176 Milliarden Euro kostete, sollte an sich schon eine Mahnung sein, was die potenzielle Gefahr eines nuklearen Unfalls angeht, aber eine Reihe von Ereignissen in jüngster Zeit hat in Europa zusätzlichen Alarm ausgelöst.

Der Einmarsch Russlands in der Ukraine hat wiederholt das Stromnetz des Landes lahmgelegt und zu Stromausfällen im Kernkraftwerk Saporischschja, dem größten in Europa, geführt, wo Strom benötigt wird, um eine Überhitzung der Reaktoren wie beim GAU von Tschernobyl 1986 zu verhindern.

Unterdessen sind auch viele andere europäischen Kernreaktoren in die Jahre gekommen - sie wurden im Durchschnitt vor 36,6 Jahren gebaut - und bei jüngsten Kontrollen in Frankreich wurden in mehreren von ihnen Risse festgestellt.

Einige Energieexperten haben davor gewarnt, dass die durch den Klimawandel ausgelösten extremen Wetterereignisse eine ernsthafte Bedrohung für die 103 Kernreaktoren in der EU darstellen könnten, die etwa ein Viertel des in der Union erzeugten Stroms liefern.

Jan Haverkamp, ein leitender Experte für Atomenergie und Energiepolitik bei Greenpeace, meint, dass die Wahrscheinlichkeit eines großen Unfalls wie in Fukushima in Europa nun "realistisch" sei und "wir sie in Betracht ziehen sollten".

"Wir sind nicht richtig vorbereitet", sagte er gegenüber Euronews Next.

Die Risiken von Kernenergie als Mittel zur Reduzierung von Kohlenstoffemissionen

Laut EU-Energiekommissar Kadri Simson ist das Rückgrat des künftigen kohlenstofffreien Energiesystems der EU erneuerbare Energien sein werden, wobei Kernenergie eine unterstütztende Rolle spielt.

"Die Realität ist, dass diese erneuerbaren Energien durch eine stabile Grundlaststromerzeugung ergänzt werden müssen. Deshalb ist die Kernenergie [...] eine echte Lösung", sagte sie im November auf dem 15. Europäischen Kernenergieforum.

Das Problem bei der Strategie, erneuerbare Energien mit Kernenergie zu kombinieren, besteht allerdings darin, dass sie auf den Weiterbetrieb alternder Kernkraftwerke angewiesen ist.

Fünf der sechs Szenarien im Bericht "Energies of the Future" - einer von der französischen Regierung in Auftrag gegebenen Studie - gehen davon aus, dass die erneuerbaren Energien für den Übergang zu einem “Net-Zero”-Energiesystem bis 2050 von einer Reihe bestehender Kernkraftwerke abhängig sein würden.

Der Grund für die Nutzung alter Anlagen besteht darin, dass "wir vor diesem Zeitpunkt nicht genügend neue Reaktoren herstellen können", erklärt Haverkamp.

Frankreichs Behörde für nukleare Sicherheit (ASN) stimmt dem zu: "Das Tempo des Baus neuer Kernreaktoren, um das vorgeschlagene Szenario zu erreichen [...], wäre schwer aufrechtzuerhalten", heißt es in einem Bericht aus dem Jahr 2021.

"In den letzten 70 Jahren der Nutzung der Kernenergie ist sehr deutlich geworden, dass die Kernenergie nicht hält, was sie verspricht. Sie ist vielmehr ein großes Problem, das ganz wesentlich mit der Verbreitung von Atomwaffen zu tun hat... und mit der Frage der radioaktiven Abfälle, für die wir nach wie vor keine akzeptable technische Lösung haben", so Haverkamp.

Sind alternde Kernkraftwerke sicher?

Nach Ansicht der ASN kann ein "gutes Niveau" der nuklearen Sicherheit und des Strahlenschutzes nur erreicht werden, wenn die Betreiber von Kernkraftwerken ihre Verantwortung dafür voll wahrnehmen. Mit anderen Worten: Es sind die Betreiber, die unter der Ägide unabhängiger nationaler Aufsichtsbehörden in erster Linie für die Sicherheit ihrer Anlagen verantwortlich sind.

Die Instandhaltung eines Kernkraftwerks hängt von einer Reihe von Faktoren ab, z. B. von seiner Auslegung und seiner Überwachungsgeschichte. Aber es gibt auch andere Faktoren, die ins Spiel kommen, wie menschliches Versagen, Erdbeben, Tsunamis, Brände, Überschwemmungen, Tornados oder Terroranschläge.

Bei der Katastrophe von Fukushima handelte es sich um über 40 Jahre altes Kernkraftwerk, und der Unfall wurde denn auch zum Teil auf Konstruktionsfehler und unzureichende Sicherheitsmaßnahmen zurückgeführt.

Nachrüstungen für alternde Anlagen können das Risiko in gewisser Hinsicht verringern, so Haverkamp, aber es besteht immer noch ein Risiko: “Es kann immer etwas schief gehen, einfach weil sie weiter in Betrieb sind".

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Frankreich hat eine der besten Sicherheitsbilanzen der Welt im Nuklearbereich. Der Leiter der französischen Aufsichtsbehörde für nukleare Sicherheit, Bernard Doroszczuk, erklärte jedoch Anfang des Jahres, dass nun eine "systematische Überprüfung" erforderlich sei, "um die Fähigkeit älterer Reaktoren, über 50 oder sogar 60 Jahre hinaus weiter zu arbeiten, zu untersuchen und individuell zu rechtfertigen", wobei auch die neuen Herausforderungen des Klimawandels berücksichtigt werden müssten.

Erst diese Woche meldete der französische Stromversorger EDF "nicht vernachlässigbare" Defekte an den Kühlrohren von zwei Reaktoren in Nord- und Ostfrankreich.

Die Risse, die sich im Notstromkreislauf befinden, der im Notfall Wasser zur Kühlung des Systems einspritzt, wurden zwar nicht als gefährlich eingestuft, da die Reaktoren gerade gewartet wurden, doch ihre Entdeckung hat die Debatte über Frankreichs Strategien zur Überwachung seiner Atomkraftwerke neu belebt.

Wie sicher leben die Menschen in der Umgebung von Kernkraftwerken?

Ein weiteres Element der nuklearen Sicherheit ist besonders wichtig: die Bevölkerungsdichte in der Umgebung von kerntechnischen Anlagen. Von Millionen von Menschen bewohnte Gebiete sind naturgemäß weitaus schwieriger zu evakuieren als fast menschenleere.

Nach dem Unfall in Fukushima im März 2011 hat Declan Butler, ein Journalist des Wissenschaftsmagazins Nature, in Zusammenarbeit mit der NASA und der Columbia University eine Studie durchgeführt, in der die Bevölkerungsdichte in der Umgebung von Kernkraftwerken weltweit verglichen wurde.

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Zu dem Zeitpunkt, als Butler seine Studie veröffentlichte, war die Bevölkerungsdichte in einem Umkreis von 30 Kilometern bei zwei Dritteln der weltweiten Atomkraftwerke höher als in Fukushima, wo zum Zeitpunkt des Reaktorunfalls 172 000 Menschen lebten.

Die Studie ergab insbesondere, dass die Bevölkerungsdichte in der Umgebung von Kernreaktoren in Europa viel höher ist als in der Umgebung von Fukushima.

In Frankreich schätzte Butler beispielsweise, dass in einem 30-km-Radius um Fessenheim in Elsass, nur eine von mehreren Anlagen im Nordosten des Landes, etwa 930.000 Menschen leben, und um die Anlage in Bugey, 35 km östlich von Lyon, der drittgrößten Stadt Frankreichs, sind es 700.000 Menschen.

Bei seinen Versuchen, einige sicherheitstechnische Ungereimtheiten zu verstehen, stieß Butler auch auf das Konzept “Jenseits der Designgrundlagen”, ein Begriff, hinter dem sich verbirgt, dass einige Katastrophenszenarien bei der Planung nicht vollständig berücksichtigt werden, weil sie als zu unwahrscheinlich gelten.

Das Kernkraftwerk Fukushima Daiichi zum Beispiel lag in einem Gebiet, das auf der japanischen Erdbebenrisikokarte als Gebiet mit relativ geringer Wahrscheinlichkeit für ein großes Erdbeben und einen Tsunami ausgewiesen war. Die Tatsache, dass das Kraftwerk nicht auf solch dramatische Umweltgefahren vorbereitet war, lag daher zum Teil an der Überschreitung der Designgrundlagen: Das Erdbeben und der Tsunami waren einfach stärker, als das, wofür das Kraftwerks ausgelegt war.

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Haben wir genug aus Tschernobyl und Fukushima gelernt?

Haverkamp sagt, dass man sich bsiher hauptsächlich auf die technische Vorbereitung zur Verhinderung von Nuklearunfällen konzentriert, nicht aber auf die Notfallvorsorge oder die Vorbereitung der Bevölkerung.

"Ich fürchte, dass jedes Atomland in der EU derzeit nur unzureichend vorbereitet ist, falls es zu einem Unfall kommt", sagt er.

"Und ich kann Ihnen garantieren, dass ein Unfall in Europa wieder zu Chaos führen würde, so wie es in Fukushima der Fall war.”

Wir haben eine Menge aus Fukushima gelernt, sagte der amerikanische Wissenschaftler und Katastrophenmediziner Dr. Irwin Redlener:

"Das Problem ist, dass wir über die Lektionen reden, aber dann nicht danach handeln", erklärt er gegenüber Euronews Next.

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Die Menschheit hat dazugelernt geworden, wenn es darum geht, auf Notfälle wie große Gebäudebrände, begrenzte Überschwemmungen und Stürme zu reagieren, aber wenn es um Katastrophen größeren Ausmaßes geht - wie z. B. nukleare - bleibt unsere Reaktionsfähigkeit "dysfunktional, weil wir nicht darauf vorbereitet sind", so Redlener.

Wir sind Gegenstand von "zufälligen Vorbereitungshandlungen [...] ohne einen zusammenhängenden Plan".

Was tun, wenn der GAU kommt?

Mehrere internationale Organisationen stellen Informationen zur Verfügung, die erklären, was im Falle eines nuklearen Notfalls zu tun ist - das Internationale Rote Kreuz ist eine von ihnen - und es ist sinnvoll, sich mit ihren Empfehlungen zu befassen.

Letztlich gibt es zwei Dinge, die einer globalen Bereitschaft im Wege stehen, so Redlener: “Das erste ist die Illusion der Sicherheit, und das zweite sind phlegmatische und uninformierte Bürger".

Die Illusion der Sicherheit , Redlener nennt sie auch "Bereitschaftstheater", ist die Vorstellung, dass "wir irgendwie wissen, was wir tun, oder dass wir wissen, was wir tun werden", wenn wir mit einem solchen katastrophalen Ereignis konfrontiert werden.

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Es gebe jedoch eine Reihe einfacher Dinge, die wir nach einem nuklearen Zwischenfall tun können, und die "unser Leben retten könnten, wenn wir und uns nur die Mühe machten, sie nachzulesen".

Journalist • Andreas Rogal

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