Ungarische Schuldner hoffen auf den Staat

Ungarische Schuldner hoffen auf den Staat
Von Euronews
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Reihen identischer Häuser, umgeben von Feldern. Manche nennen den Ort am Rande der Stadt Ocsa die Siedlung der Verschuldeten. Hier hat die Regierung Wohnraum für die Zehntausende von verschuldeten Haushalten geschaffen, die vor der Krise 2008 einen Fremdwährungskredit aufgenommen hatten.

Vor gut einem Jahr, als sie von der Zwangsräumung bedroht waren, ist Ildiko mit ihrer Familie hier eingezogen. Sie konnten die Raten für ihre Hypothek in Schweizer Franken nicht länger bezahlen.

“Meine Frau hatte einen Job, ich konnte arbeiten und hatte immer noch meine Rente, sodass wir die Hypothek abbezahlen konnten. Aber dann fiel der Forint. Die Wechselkurse spielten verrückt und die Banken forderten mehr und mehr und mehr. Monat für Monat kamen wir mir den Zahlungen in Verzug. Wir haben uns für die Siedlung beworben, damit wir mit den drei Kindern nicht auf der Straße landen. Wir brauchten eine stabile Lösung, einen Ausweg”, so János Ofella.

Ein Drittel der rund vier Millionen ungarischen Haushalte hatten zwischen 2005 und 2008 Darlehen in Fremdwährung, vor allem in Schweizer Franken, aufgenommen. Damals betrugen die Raten ein drittel weniger im Vergleich zur heimischen Forintwährung. Ein Schnäppchen, bis die Finanzkrise den Forint abstürzen ließ und die Fremdkapitalkosten explodierten. Ein erstes Eingreifen der Orban-Regierung 2011 ermöglichte einigen Kreditnehmern, ihr Darlehen mit Vorzugszinsen zurückzuzahlen.

Aber Zehntausende von Haushalten kämpfen immer noch ums Überleben. Judit Lénárd leitet den “Verein zur Verteidigung der Bankkreditopfer” in Budapest. Ihr Team hilft Schuldnern, ihre Kredite neu zu verhandeln und ihre Finanzen besser zu verwalten.

“Auf lange Sicht beobachten wir, dass immer mehr Haushalte seit dem Ausbruch der Krise mit einem gleichbleibenden oder gar gesunkenen Einkommen leben, ihre monatlichen Rückzahlungen steigen aber kontinuierlich. Die ehemalige Mittelklasse ist unserer Meinung nach die am meisten gefährdete Schicht in der Gesellschaft, man kann nicht mehr von ihr sprechen, denn mittlerweile gehört fast jeder davon zur Unterschicht”, so Judit Lénárd.

Der Verein half auch Olga, die wir in einer der gut situierten Gegenden von Budapest treffen. Sie lebt in einer Wohnung, die von ihrer Tochter 2007 auf Kredit gekauft wurde. Die Tochter ging in die USA, nachdem sie in Ungarn arbeitslos wurde. Ihr Gehalt reicht nicht aus, um den Kredit zu tilgen. Die vergangenen vier Jahre hat sie nichts bezahlt.

“Es gab eine undichte Stelle, die wir nicht reparieren konnten. Weil wir kein Geld hatten, mussten wir Möbel verkaufen”, erzählt Olga Józsefné Maluzsák.

Für eine Weile bediente sie den Kredit. Das geht nicht mehr, denn mit ihrer Rente kann sie lediglich sich selbst sowie ihre Enkelin und Urenkelin über Wasser halten. Olga Józsefné Maluzsák sagt: “Am schlimmsten war, dass nach einem Jahr mein Mann an einem Herzinfarkt starb und ich plötzlich allein da stand. In Ungarn ist es unmöglich, allein alle Gebühren und täglichen Ausgaben zu zahlen, während man einen solchen Kredit abbezahlt. Hätten wir nicht die Hilfe des Vereins gehabt, wären wir nicht mehr hier, sondern schon längst auf der Straße.”

Ein aktuelles Urteil des ungarischen Obersten Gerichtshofs, das vom Europäischen Gerichtshof gestützt wird, hat bestimmte Teile der Fremdwährungs-Kreditverträge für ungültig erklärt. Einige Klauseln erlauben den Banken, unterschiedliche Wechselkurse für Kreditauszahlungen und Tilgungen zulasten der Kreditnehmer zu fordern sowie die Kreditbedingungen willkürlich zu ändern.

“Der Oberste Gerichtshof hat erklärt, dass die Verwendung unterschiedlicher Wechselkurse in dieser Art von Verträgen unzulässig ist. In Bezug auf die einseitigen Vertragsänderungen hat das Gericht eine Rechtsmäßigkeitsprüfung angeordnet. Auf der Grundlage der Fälle, die wir bereits gesehen und untersucht haben, denken wir, dass die meisten Verträge der Banken nicht die notwendigen Anforderungen erfüllen” so András Osztovits, Richter am ungarischen Obersten Gerichtshof.

Ein neues Gesetz soll die Banken zwingen, Kunden mit solchen Verträgen zu entschädigen. Es geht dabei schätzungsweise um mehr als zehn Prozent des Kapitals der ungarischen Banken. Ein neues Gesetzespaket, das im September erwartet wird, könnte die Forderungen an die Banken verdrei- oder vervierfachen. Belastungen, die zu denen dazukommen, die der Staat bereits 2011 verhängt hat.

Weder Vertreter der Regierung noch der Banken oder des Bankenverbands waren zu einer Stellungnahme bereit.

Péter Felcsúti, der Ex-Präsident des Bankenverbands und ehemaliger Leiter der österreichischen Raiffeisenbank befürchtet, dass die Rechnung zu hoch für die ausländischen Banken ist, die 80 Prozent der Branche in Ungarn kontrollieren. Er sagt: “Wahrscheinlich die meisten von ihnen, wenn nicht alle, müssen diese Verluste ihren lokalen Tochtergesellschaften zurückerstatten. Die Frage stellt sich, wie ihre Geschäftspolitik gegenüber Unternehmen in Ungarn sein wird, wenn sie das getan haben. In den vergangenen Jahren sind ausländische Banken in Ungarn offensichtlich extrem passiv gewesen. Sie sind wirkliche Zombies, so wie sie ihre Kreditvergabe in Ungarn verringert haben, was eindeutig sehr schlecht für die Wirtschaft ist.”

Wir gehen nach Siofok, rund 100 Kilometer südwestlich der Hauptstadt.

Dort treffen wir György Lehmann, einen Anwalt, der für seine Verteidigung der ungarischen Opfer sittenwidriger Schuldenverträge bekannt geworden ist. Er vertritt rund 1200 Klienten. Er betrachtet das jüngste Urteil des obersten Gerichts, das den Banken und nicht den Kunden und ihren Anwälten die Beweislast auferlegt, als seinen persönlichen Sieg: “Die Gerichte können nicht länger sagen, dass ich falsch liege. Jetzt liegt die Beweislast beim Beklagten. Und die Banken müssen beweisen, dass die Bedingungen ihrer Verträge fair sind. Das ist eine komplette Kehrtwendung! Und es ist das Ergebnis meiner Arbeit der letzten zwei Jahre. Ich bin sehr stolz darauf.”

Auch diesem Paar hat der Anwalt vor Gericht geholfen, die unfairen Bedingungen ihres Vertrags zu entschärfen. Eva und Miklos hoffen jetzt, auf eine Senkung ihrer monatlichen Kreditzahlungen auf ihr Haus, die sich zuletzt verdreifacht hatten.

Für das Paar ist es eine Erleichterung. Aber die erlittenen Entbehrungen wirken nach.

“Stellen Sie sich vor, wir konnten unsere Stromrechnungen nicht zahlen, wir mussten uns Geld leihen, um zu überleben. Wir konnten noch nicht einmal Brot kaufen! Wir hatten nicht genug, um ein Stückchen Brot zu kaufen! Die Bank hat uns alles geraubt! Mein Mann hatte schwere gesundheitliche Probleme, er musste zwei Jahre lang regelmäßig ins Krankenhaus! Wir haben eine Menge Geld ausgegeben, um die Ärzte zu bezahlen. Er war zwei Jahre lang so krank, dass ich dachte, das ist das Ende”, erzählt Eva Miklósné Kertész.

Die ungarische Regierung hat wiederholt erklärt, dass die Frage der Schuldenübernahme Ende dieses Jahres geklärt wird. Ein Versprechen, auf das Miklos und Eva unterschiedlich reagieren:

“Wir hoffen jetzt natürlich, dass die Politiker uns nicht nur Lügen auftischen. Aber sie werden ihre Versprechen halten und die Probleme mit den Fremdwährungskrediten lösen und alle diese Verträge auf die eine oder andere Art auflösen”, meint Miklós Kertész. Dagegen sagt seine Frau: “Ich glaube kein Wort von dem, was sie sagen. Sie haben die Menschen seit so vielen Jahren verschaukelt. Dieses Problem wird nie gelöst werden, nicht bis die Menschen ihren letzten Atemzug gemacht haben. Ich glaube ihnen nicht.”

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