Ist TTIP tot?

Ist TTIP tot?
Von Hans von der Brelie mit LEKUE (KAMERA MADRID), COTE (KAMERA BARCELONA)
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Im US-amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf spielte auch das Thema Freihandel eine Rolle. Trump kritisiert Freihandelsabkommen, Clinton nimmt eine "Teils-dafür-teils-dagegen-Haltung" ein. In Euro

Werden durch den Abbau von Handelshemmnissen Arbeitsplätze geschaffen? Kann Freihandel Wachstum und Wohlstand fördern? Oder birgt das geplante transatlantische Freihandelsabkommen TTIP Risiken für Umwelt, Demokratie und Arbeitnehmerrechte? Euronews-Reporter Hans von der Brelie hat sich zusammen mit den Kameramännern Aitor Lekue und Sergi Cote auf den Weg nach Spanien gemacht.

Lucia kämpft gegen TTIP, am U-Bahn-Ausgang verteilt sie zusammen mit Freunden Flugblätter: Nein zu TTIP! Nein zu CETA! Manche Menschen lassen sich auf ein Gespräch mit Lucia ein, andere wenden sich brüsk ab. Das Thema spaltet. Das transatlantische Freihandelsabkommen soll Investitionen und Warenaustausch zwischen der Europäischen Union und den USA fördern. Doch Globalisierungsgegnern wie Lucia passt das Kleingedruckte nicht: Auch wenn vom Vertragstext noch wenig bekannt ist, fürchtet sie doch Schlimmes. Wir sind in Barcelona, hier regieren die Linkspopulisten – und Straßenproteste gehören zum Alltag. Auch in einigen anderen Großstädten Europas haben in den vergangenen Monaten linke oder rechte Globalisierungsgegner Bürgermeisterwahlen gewonnen. Ist das ein Vorzeichen für einen grundlegenden Stimmungswandel in Europa? Sind die Protektionisten im Aufwind? Hat der Freihandel ausgedient?

Lucia hat schon in Mexiko und Österreich gelebt. Wieder daheim in Spanien arbeitet sie nun für eine Lobby-Gruppe mit dem Namen Naturschützer in Aktion – und nebenbei als Gutachterin für Entwicklungsprojekte von Weltbank und Vereinten Nationen.

Sie hat ein festes Feindbild: multinationale Konzerne.

Lucía Bárcena Menéndez: “Unsere Demokratie ist bedroht: (wegen TTIP) könnte unser Volk seine Souveränität verlieren. Mit diesen Verträgen legen wir die Macht unserer öffentlichen Institutionen und unserer Zivilgesellschaft in die Hände der großen Firmenkonglomerate. Im Prinzip geht es darum, dass diese Verträge die Staaten töten.” – Solche und ähnliche Sätze sind auch im rechtspopulistischen Spektrum zu hören.

Unterwegs mit Kamera und Mikrophon klopfen wir an bei FICOSA: ein spanischer Multi, der Autoteile produziert. Fast alle großen Automarken lassen sich von FICOSA beliefern – ein echter Weltkonzern mit einem Jahresumsatz von einer Milliarde Euro. Er hat Fabriken und Niederlassungen in Europa, Asien, Süd- und Nordamerika. Und, klar, FICOSA erhofft sich viel von TTIP.

Es war schwierig, eine Drehgenehmigung zu bekommen: viele Unternehmen scheinen sich zu verstecken, wenn es um TTIP geht. Einige Firmen, bei denen wir angefragt hatten, wollten nicht vor laufender Kamera über TTIP reden, befürchtet wird ein Image-Schaden, denn auch links- oder rechtspopulistische Freihandelsgegner sind gute Kunden für Waren aus Übersee. Was konkret sind denn die Vorteile eines transatlantischen Handelsabkommens? Dafür müssen wir von Barcelona nach Madrid reisen, zu FICOSA-Manager Emilio Varela Sieira, Vizepräsident des spanischen Verbandes der Automobilzulieferindustrie. Ein mutiger Mann, denn er traut sich, den Mund aufzumachen: Sicherheitsgurte, Scheinwerfer, Bremssysteme… “alles muss doppelt zugelassen werden”, klagt er – auf beiden Seiten des Atlantiks. Das koste jährlich elf Milliarden Euro. Milliarden – nicht Millionen. Mit TTIP könnten europäische und US-amerikanische Autozulieferer das Geld anders ausgeben.

Emilio Varela Sieira: “Die unterschiedlichen technischen Normen in Europa und den USA führen zu erhöhten Produktionskosten von 26 Prozent. Falls das Freihandelsabkommen TTIP dieses Problem beseitigt, zahlt sich das aus: Unser Geschäft würde wachsen und in unserem Land entstünden jede Menge neuer Arbeitsplätze… Wenn bei uns in der Autozuliefer-Industrie der Umsatz um zwanzig Prozent stiege, könnte das 15.000 neue Jobs in Spanien schaffen.”

Zurück in Barcelona treffen wir uns erneut mit der Anti-TTIP-Aktivistin Lucia, diesmal in einem schicken Seifenladen. Auch LUSH ist ein Multi – mit weltweit 15.000 Angestellten. Doch LUSH ist ein globaler Konzern, der sich hinter Globalisierungsgegner wie Lucia stellt: Das Unternehmen wirbt damit, keine Tierversuche durchzuführen. Manager Victor Manuel wacht über die Geschäfts-Ethik. Und: TTIP könnte Europas Tore öffnen für mehr Chemie in Kosmetikprodukten, fürchtet er:

Victor Manuel Bernal Santos: “TTIP ist ein gutes Beispiel: In Europa ist die Verwendung vieler Chemikalien verboten. Auf der EU-Verbotsliste stehen 1300 chemische Stoffe, die nichts in Kosmetika zu suchen haben, während in den USA nur elf Chemikalien verboten sind. Blei ist ein konkretes Beispiel: Amerikanische Lippenstifte enthalten Blei… unsere Produkte sind natürlich bleifrei.”

Lucía Bárcena: “Hinzu kommt die Etikettenpflicht, die ist hier sehr streng, damit die Menschen wissen, was in den Produkten drin ist. Mit TTIP könnte das unterlaufen werden. Doch diese Minimal-Infos braucht der Verbraucher, wenn er eine Kaufentscheidung treffen möchte, die mit seinen ethischen Überzeugungen übereinstimmt.”

Szenenwechsel: Am Stadtrand von Madrid liegt einer der ältesten Industriebetriebe Spaniens: Flores Valles. Das 1830 gegründete Familienunternehmen steht hinter TTIP. Die Firma ist einer der Weltmarktführer bei Großküchen und Abzugshauben.

Zuständig für das internationale Geschäft ist Jorge Santos aus Portugal. Als Flores Valles eine Niederlassung in New York eröffnete, bekam der Manager kein Arbeitsvisum. Die USA zwangen die spanische Firma, Amerikaner einzustellen. Auch darum geht es bei TTIP: um freien Personenverkehr. Doch da ist noch mehr. Jorge Santos: “In den USA gilt immer noch, dass amerikanische Produkte Vorrang haben: Wir müssen amerikanischen Stahl und Zement kaufen, amerikanische Holzprodukte… ansonsten dürften wir uns als europäische Firma erst gar nicht an öffentlichen Ausschreibungen in den USA beteiligen… Wir müssen alle Ausgangsmaterialien in den USA kaufen und das Produkt in den USA fertigen. – In unserer Firmengruppe haben wir ein Unternehmen, das Industrieküchen für Hochgeschwindigkeitszüge herstellt. Wir haben in den USA einen großen Auftrag ergattert, es geht um Küchen für 50 Züge. Die Technologie müssen wir einem amerikanischen Partnerunternehmen transferieren, ein Joint-Venture war notwendig… und jedes einzelne Teil muss in den USA produziert werden.”

Insiders: TTIP MadridLucia trifft sich mit (überwiegend links eingestellten) Gesinnungsgenossen. Geplant ist eine Menschenkette, mit der das Info-Büro der Europäischen Union in Barcelona blockiert werden soll. Lucia und ihre Freunde liegen ironischerweise auf derselben Linie wie Donald Trump: auch der rechtspopulistische US-Präsidentschaftskandidat ist gegen TTIP und für Protektionismus. Trump und Lucia, Rechts und Links… gegen TTIP marschieren sie gemeinsam.

Mitte Oktober: In Madrid treffen wir den Staatssekretär für Handelsfragen. Zusammen mit seinem schwedischen Kollegen plädiert er für eine Wiederaufnahme der TTIP-Verhandlungen. Auch Portugal, Tschechien, Dänemark, Finnland, die baltischen Staaten, Italien, Irland und Großbritannien unterschrieben den offenen Brief der TTIP-Freunde an die EU-Kommission.

Wer möchte TTIP auf beiden Seiten des Atlantiks zu Fall bringen, sowohl in Europa – wie auch in den USA, fragen wir Jaime García-Legaz Ponce. Der Staatssekretär für Handelsfragen antwortet: “Wir sehen hier und da Gegnerschaft zu TTIP, das stimmt. Wir haben das bei der extremen Linken und bei der extremen Rechten beobachtet – übrigens in vielen Gegenden der Europäischen Union. – Auch in den USA gibt es protektionistische Strömungen und populistische Bewegungen. Wir haben gesehen, wie Herr Trump Freihandelsabkommen angegriffen hat. Wir denken, das ergibt keinen Sinn, denn schließlich haben die USA in den vergangenen Jahrzehnten vom Freihandel profitiert. Freihandel ist etwas Gutes und TTIP befördert den Freihandel.” Sollte TTIP unterschrieben werden, rechnet Jaime García-Legaz Ponce mit der Schaffung von 300.000 neuen Arbeitsplätzen – allein in Spanien.

Auch Lucia ist nicht prinzipiell gegen Freihandel. Nur gegen TTIP, denn sie glaubt, dass das transatlantische Freihandelsabkommen europäische Umweltschutzstandards und Arbeitnehmerrechte aushebelt – oder zumindest verwässert. Obwohl die Europäische Kommission versichert, dass dies nicht der Fall sein wird.

Viele Aktivisten fürchten darüber hinaus Investorenschutzabkommen, bei denen Streitigkeiten über private Schiedsgerichte beigelegt werden. Damit schüfe TTIP eine Art “Parallel-Justiz” zugunsten der Großkonzerne, so die Kritiker. Stimmt nicht – sagt die Europäische Kommission. Stimmt doch – glaubt Taxifahrer Tito, ein guter Bekannter von Lucia.

Tito Álvarez: “Das sind die reinsten Killer-Verträge. Diese Abkommen versklaven ganze Völker. Die interessieren sich nur für wirtschaftliche Vorteile und werden alle Normen, Regeln und Gesetze, die wir hier in Europa seit Jahrhunderten etabliert haben, abschaffen.”

Nur etwa 200 Taxifahrer sind Titos Demo-Aufruf gefolgt, insgesamt gibt es in Barcelona weit über 10.000 Taxis. Und auch Lucias Menschenkette ist ein eher gemischter Erfolg: 2000 Menschen sind gekommen, für eine Großstadt wie Barcelona nicht gerade viel, zumal ein Großteil der Demonstranten organisierten Gruppen zugerechnet werden kann. Ein Massenprotest sieht anders aus. – Andererseits wurde in den vergangenen Wochen und Monaten auch anderswo demonstriert, überall in Europa, mit durchaus grösseren Teilnehmerzahlen.

Nur: der Volkswille drückt sich nach wie vor in Wahlen aus, die Europäische Union setzt sich aus repräsentativen Demokratien zusammen. Und hier ergibt sich ein völlig anderes Bild: bei gewählten Volksvertretern und Regierungen zeichnet sich eine mehr oder minder klare Mehrheit der TTIP-Befürworter ab.

Hat TTIP noch eine Chance? Vielleicht… Doch vor 2018 geht gar nichts: Ob die Verhandlungen wiederaufgenommen werden, hängt vom Ausgang der Wahlen nicht nur in den USA ab – sondern auch vom Wahlausgang in Frankreich und Deutschland. Und auch dort machen TTIP-Gegner mobil.

Hinzu kommt das für die EU unrühmliche Stolpern bei den CETA-Verhandlungen mit Kanada. Ob CETA, ob TTIP: Die Diskussion bleibt spannend.

Insiders TTIP Barcelona

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