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"Meinetwegen lebe ich in einem Zelt - aber nicht in Russland"

Wer in Russland gegen den Krieg in der Ukraine protestiert, muss damit rechnen, festgenommen zu werden.
Wer in Russland gegen den Krieg in der Ukraine protestiert, muss damit rechnen, festgenommen zu werden. Copyright Dmitri Lovetsky/AP
Copyright Dmitri Lovetsky/AP
Von Yulia Gritsay
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Immer mehr Menschen fliehen aus Russland seit der Kreml Krieg in der Ukraine führt. In Charkiw sagt ein junger Mann, er sei bereit, in einem Zelt zu leben, aber nicht mehr in Russland.

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Mehr als eine Millione Menschen sind vor dem Krieg aus der Ukraine bereits geflohen, allein in Europa rechnet man mit mindestens vier Millionen Kriegsflüchtlingen. Doch auch aus Russland hat sich eine Fluchtbewegung entwickelt. 

In Facebook-Gruppen mit Titeln wie "Zeit zu gehen" tauschen sich Nutzer:innen aus, wohin man am schnellsten oder einfachsten kommt. Viele wollen wissen, was sie mitnehmen sollen.

Die Preise für Tickets in die visafreie Türkei, nach Armenien, Georgien und die Vereinigten Arabischen Emirate haben sich in der vergangenen Woche vervielfacht.

Euronews hat mit Russen gesprochen, die beschlossen haben, ihre Heimat zu verlassen - manchmal innerhalb weniger Stunden. Ihre Namen wurden geändert.

Oksana, 25, ging mit ihrem Mann nach Frankreich

"Der Krieg hat uns in Russland eingeholt. Mein Mann ist Ukrainer, und ich bin russische Staatsbürgerin. Wir beschlossen nicht sofort zu gehen, sondern erst nach zwei oder drei Tagen, weil wir nicht glauben konnten, was da passierte. Zuerst wollte ich alle Fragen klären: Wo werden wir wohnen? Wo? Wie kommen wir weg?

Eine Unterkunft ergab sich buchstäblich am nächsten Morgen. Ein Freund aus Paris schrieb uns und bot uns an, vorerst bei ihm zu wohnen. Wir fragten: Und wie lange können wir bei dir bleiben, um nicht zu einer Belastung zu werden? Er antwortete: So lange ihr wollt. Also machten wir uns auf den Weg."

An der Grenze wurden meinem Mann heikle Fragen gestellt.
Oksana
Flüchtling aus Russland

Die Tickets waren nicht leicht zu finden und auch sehr teuer, so Oksana. Mit Umsteigen flogen sie dann aber über Wolgograd und St. Petersburg nach Paris.

"Mein Mann hatte Probleme an der Grenze. Er wurde von einem FSB-Offizier in Zivilkleidung verhört. Es wurden ihm sehr heikle Fragen gestellt. Mir als russischer Frau stellten sie auch Fragen: warum, wohin ich fahre und zu welchem Zweck. Ich beharrte auf meinen eigenen Angaben: dass ich zu einem Freund fahre, dass die Reise schon lange vor dieser ganzen Situation geplant war und dass ich sie nicht absagen wollte.

Wir wissen nicht, wann oder ob wir zurückkehren werden. Ich kann aus der Ferne arbriten und ich habe vor, erstmal dort zu bleiben. Mein Mann hat seinen Job verloren. Wir leben von kleinen Ersparnisse. Den Rest werden wir sehen."

Ilya, 35, hat Tickets nach Georgien gekauft

"Ich bin in Moskau geboren und habe mein ganzes Leben hier verbracht. Ich bin IT-Spezialist, Ingenieur, und arbeite viel mit den USA zusammen. Ich wollte schon vor der Pandemie ausreisen, aber dann gab es die Quarantäne und es war nicht mehr möglich, das Land zu verlassen. Als die Bombardierung der Ukraine begann, wurde mir klar, dass ich dieses Land verlassen muss. Ich kaufte Tickets nach Georgien." 

"Ich werde auch meine Eltern aus dem Land bringen. Ich bin bereit, in einem Zelt zu leben - aber nicht Russland."

Sofia, 19 Jahre alt, ist mit ihrem Verlobten in die Türkei gereist. Sie will nach Serbien

"Wir sind am 2. März 2022 nach Istanbul geflogen. Die Tickets haben wir am Samstag, dem 27. Februar, gekauft. Unsere Kirsten wurden am Sonntag und Montag abgeholt. Wir haben beschlossen, unsere Wohnung in Moskau weiter zu mieten, wir werden noch einen Monat lang bezahlen. Unsere Freunde wohnen noch dort, aber wir haben alle Sachen zusammengepackt. Wir hoffen, dass sie sie unseren Eltern in einer anderen russischen Stadt schicken können - falls wir doch nicht nach Russland zurückkehren.¨

Ich bin Studentin der Journalistik im zweiten Studienjahr. Wir hatten geplant, dass ich mein Studium beende und wir dann in ein anderes Land ziehen. Wir dachten an die USA oder Europa. Als klar wurde, dass alles ganz schlimm wird... Wir wollten dann Tickets kaufen, genau an dem Morgen, an dem unser wunderbarer Präsident sagte, dass er eine "Sonderoperation" starten würde. Wir hielten das für verrückt. Wir tauschten Geld um, hoben einen Teil des Geldes bei einem Geldautomaten ab. Erst wollten wir die Situation beobachten. Doch nach zwei Tagen beschlossen wir, Tickets nach Istanbul zu kaufen. Zu diesem Zeitpunkt kosteten sie noch nicht viel Geld.

Wir haben lange Zeit  um nach Amerika zu gehen, und hatten daher einige Ersparnisse. Das Geld reicht für zwei oder drei Monate. Glücklicherweise hat die Firma meines Freundes alle Flüge bezahlt und wird auch die Kosten für die Unterkunft erstatten. Wir haben für die ersten zwei Wochen ein Zimmer gemietet und sehen uns jetzt nach Wohnungen für einen weiteren Monat um.

Vorerst wollen wir in Istanbul bleiben, aber wir würden gerne weiter nach Serbien ziehen und von dort aus Pläne für Amerika machen. Gerade fühlen wir uns sicher, das ist gut."

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Ekaterina, 36, ist mit ihrer Familie nach Polen gegangen

"Ich bin russische Staatsbürgerin, mein Mann ist ukrainischer Staatsbürger, wir haben eine kleine Tochter. Sie ist ein Jahr und drei Monate alt. Jetzt sind wir in Polen, in der Stadt Szczecin.

Am 28. Februar verließen wir Moskau nachts in einem Privatauto. Am Nachmittag beschlossen wir, dass wir gehen mussten. In drei oder vier Stunden sammelten wir das Nötigste zusammen, was ins Auto passte: Kleidung, Spielzeug für das Kind, etwas Essen, Dokumente, Computer. Meine Tochter und ich hatten keine Schengen-Visa, sondern nur  Pässe, aber mein Mann rief im Voraus bei der estnischen Grenzkontrollstelle an und schilderte ihnen die Situation. Man sagte uns, wir sollten kommen und man würde uns einreisen lassen - sie würden an der Grenze gewisse Dokumente ausstellen.

Sie sehen das russische Fernsehen und glauben jedes Wort.
Ekaterina
Ist von Russland nach Polen geflüchtet

Am 1. März kamen wir an der Grenze zu Estland an. Am Grenzübergang in Russland wurden uns bei der Ausreise eine Menge Fragen gestellt. Sie waren sehr erstaunt, wie wir ohne gültiges Visum nach Estland kommen wollten. Wir haben lange mit jemandem telefoniert, aber schließlich bekamen wir auf der Grundlage einer Geburts- und einer Heiratsurkunde Ausreisestempel. Auf der estnischen Seite erklärten wir die ganze Situation. Man gab uns Visumformulare zum Ausfüllen, wir wurden fotografiert. Wir verbrachten dort etwa vier Stunden. Meine Tochter und ich erhielten ein Schengen-Visum für 15 Tage.

Was sind jetzt unsere Pläne? Mein Mann ist IT-Spezialist und arbeitet als Software-Tester. Ich bin Finanzberaterin. Ich denke, dass ich umlernen muss, aber wir sind dazu bereit, die Sprache zu lernen, denn wir haben eine kleine Tochter. Wir tun alles für ihre Zukunft.

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Das Schlimmste ist, dass die meisten unserer Bekannten, Freunde und Verwandten diesen Krieg leider unterstützen. Sie sehen das russische Fernsehen und glauben jedes Wort.

Alexander, 28 Jahre alt, ist mit seiner Frau in die Türkei gegangen

"Wir unterstützen diese Politik absolut nicht und schämen uns für solche Aktionen. Es ist beängstigend, wegzugehen, alles hinter sich zu lassen, die Arbeit. Aber die Aussicht, zu bleiben, ist noch beängstigender. Entweder unterstützen oder schweigen. Ansonsten: Gefängnis."

Alexander und seine Frau hatten schon seit Längerem eine Ausreise geplant.

"Wir wollten nach Europa gehen, waren schon oft dort und die Kultur uns ihnen vertraut. Aber wir haben kein Visum für meine Frau bekommen. Deswegen mussten wir nach einer schnellen Lösung suchen. Das war die Türkei, obwohl die Lebensweise dort anders ist als bei uns: anderes Essen, andere Kultur. Doch es war die einzige Lösung. 

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Die Tickets waren sehr teuer. Mehr als das Doppelte des Durchschnittslohns. Wir haben einen Ausweg gefunden: Wir uns auf eine geplante Reise gebucht. Die kostete umgerechnet rund 500 Dollar. Für die erste Woche gibt es ein Hotel, das in der Tour enthalten ist. Danach wollen wir ein Airbnb finden, oder über lokale Makler eine Wohnung finden. Arbeit werden wir auch suchen, wahrscheinlich Stellen, bei denen wir im Homeoffice arbeiten können."

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