Erläutert: Zinsen rauf, Konjunktur in der Eurozone runter - das Zinsdilemma der EZB

Die Europäische Zentralbank neben dem Main in Frankfurt, Deutschland.
Die Europäische Zentralbank neben dem Main in Frankfurt, Deutschland. Copyright Michael Probst/Copyright 2023 The AP. All rights reserved
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Von Mared Gwyn JonesFrank Weinert
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Dieser Artikel wurde im Original veröffentlicht auf Englisch

Angesichts des starken Rückgangs der Produktion und der Auftragseingänge in den Unternehmen der Eurozone steht die Europäische Zentralbank (EZB) nach Ansicht von Experten vor einer komplexen Herausforderung, wenn sie entscheidet, ob sie ihren Zinserhöhungszyklus im September fortsetzen wird.

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Angesichts des starken Rückgangs der Produktion und der Auftragseingänge in den Unternehmen der Eurozone sehen Experten die Europäische Zentralbank (EZB) vor einer komplexen Herausforderung, wenn sie entscheidet, ob sie ihren Zinserhöhungszyklus im September fortsetzt.

Der jüngste Einkaufsmanagerindex (PMI) für August zeigt, dass die Wirtschaftstätigkeit in der Europäischen Union den niedrigsten Stand seit 2020 erreicht hat, was auf einen starken Rückgang im Dienstleistungssektor und einen anhaltenden Rückgang im verarbeitenden Gewerbe zurückzuführen ist. Das Wirtschaftswunderland Deutschland ist am stärksten betroffen.

Ein Dilemma für die EZB – die voraussichtlich im September ihren nächsten Zinsschritt machen wird. Die Zentralbank hat den Anleihezins angehoben, um die steigende Inflation einzudämmen und die Verbraucherpreise zu senken. Im Juli erhöhte sie den Einlagensatz zum neunten Mal in Folge um 25 Basispunkte auf 3,75 % und damit auf den höchsten Wert seit 2000.

Die Inflation in der Eurozone zeigt zwar Anzeichen einer Abschwächung und ging im Juli auf 5,3 Prozent zurück, liegt aber immer noch deutlich über dem mittelfristigen Ziel der EZB von 2 Prozent. Auch die Kerninflation - ohne Energie- und Lebensmittelpreise, die als volatiler gelten - bleibt mit 5,5 Prozent hartnäckig hoch.

EZB-Chefin Christine Lagarde hat wiederholt erklärt, dass die Zinssätze so lange erhöht werden, bis der Druck auf die Verbraucherpreise nachlässt. Wirtschaftsexperten sind jedoch der Ansicht, dass der negative PMI-Ausblick und andere Anzeichen für ein schwächeres Wirtschaftswachstum die Meinungen im EZB-Rat, dem wichtigsten Entscheidungsgremium der Europäischen Zentralbank, spalten könnten.

Ein „Gleichgewicht der Risiken“

„Die EZB wird sich mehr mit den aktuellen Inflationsraten beschäftigen als mit dem Rückgang der Wirtschaftstätigkeit, der keineswegs unerwartet kam“, sagte Stefan Gerlach, Research Fellow am Centre for Economic Policy Research (CEPR) und Chefvolkswirt der EFG-Bank, gegenüber Euronews. „Ich vermute, dass einige Mitglieder des EZB-Rates vorsichtig bleiben und die Zinssätze weiter anheben wollen, während andere eine Pause bei den Erhöhungen einlegen wollen, um den Druck auf die Wirtschaft zu verringern. Das Gleichgewicht der Risiken beginnt sich zu verschieben. Einige EZB-Gouverneure werden sich Sorgen machen, dass eine weitere Straffung der Geldpolitik den Euroraum im nächsten Jahr in eine Rezession stürzen könnte“, fügte Gerlach hinzu.

Ein Risiko, über das sich die Experten ebenfalls nicht einig sind, ist die Frage, ob eine Pause bei der Zinserhöhung nur eine Pause wäre oder ob sie tatsächlich ein endgültiges Ende der geldpolitischen Straffung des vergangenen Jahres bedeuten würde.

„Das Risiko ist groß, dass eine Pause ein Ende des Zinserhöhungszyklus bedeuten würde“, erklärte Carsten Brzeski, Global Head of Macro Research und Chefvolkswirt der Eurozone bei ING. „Aus diesem Grund werden die Falken der EZB wahrscheinlich immer noch auf eine Zinserhöhung im September drängen, was dann die letzte Erhöhung wäre. Die Wahrscheinlichkeit ist derzeit wirklich 50 zu 50.“

Das EZB-Zögern ist „kostspielig“

Carsten Brzeski ist außerdem der Ansicht, dass die Auswirkungen auf die Unternehmen zeigen, dass die EZB „die negativen Auswirkungen ihrer eigenen Zinserhöhungen auf die Wirtschaft zu sehr verharmlost hat.“

Aufgrund der zeitlichen Verzögerung zwischen der Umsetzung der Geldpolitik und ihrer Auswirkung auf die Wirtschaftsdaten halten andere Experten den datenbasierten Ansatz der EZB für unzureichend. „Die EZB sagt, dass ihre Entscheidungen über die Höhe und Dauer der Beschränkungen auf einem rein datenabhängigen Ansatz beruhen. Aber Daten geben uns ein Bild der Gegenwart und der Vergangenheit - sie sagen uns nicht viel darüber, wie wir die Politik für die Zukunft gestalten sollen“, sagte Maria Demertzis, Senior Fellow bei Bruegel. „Die EZB legt weiterhin zu viel Wert auf die Vergangenheit, um die Zukunft zu verstehen, und das hat meiner Meinung nach dazu geführt, dass Entscheidungen zu spät getroffen werden.“

Demertzis ist der Ansicht, dass die EZB einen Richtungswechsel vornehmen und ihre Zinserhöhungen im September aussetzen sollte. „Wenn überhaupt, dann hat sie schon zu lange gezögert, bevor sie pausierte. Es war zu spät, um im September mit der Anhebung der Zinssätze zu beginnen, und sie riskiert nun, den gleichen Fehler zu machen, indem sie zu spät aussteigt“, sagte sie.

Aber was auch immer Christine Lagarde nach der Zinsankündigung sagen wird – es wird kritisch und genau beobachtet werden. „Was als Nächstes passieren wird, bleibt höchst ungewiss“, sagte Stefan Gerlach, „aber die Signale in Madame Lagardes Kommunikation, die in der Vergangenheit für Unsicherheit gesorgt haben, werden auch in Zukunft entscheidend sein.“

EZB-Chefin Christine Lagarde wurde in der Vergangenheit für kommunikative Entgleisungen kritisiert, die zu Unsicherheiten an den Märkten geführt haben. Ihre Botschaften im Herbst werden von entscheidender Bedeutung sein, insbesondere wenn die in Frankfurt ansässige Institution, wie von vielen erwartet, eine neue Richtung einschlagen wird.

Die nächste EZB-Sitzung findet am 14. September statt.

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