Aussichtslose Heimat: Die Ungarn wandern aus

Aussichtslose Heimat: Die Ungarn wandern aus
Von Euronews
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Eine ungarische Rockband spielt für Ungarn in einem Pub in London. Die ungarische Gemeinschaft in der britischen Hauptstadt ist mittlerweile so groß

Eine ungarische Rockband spielt für Ungarn in einem Pub in London. Die ungarische Gemeinschaft in der britischen Hauptstadt ist mittlerweile so groß, dass Events wie dieses keine Seltenheit sind.

Péter Szőke arbeitet als Möbelschleifer. Er verdient vier Mal mehr als in Ungarn, aber die Lebenskosten in Großbritannien sind auch erheblich höher. Er ist also nicht wegen des Geldes ausgewandert. “Unser Leben war ganz gut, aber wir wollten eine bessere Zukunft für uns und vor allem für unsere Kinder,” so Peter.

Viele Ungarn klagen, dass in ihrer Heimat die Steuern zu hoch seien und die Politik sich in ihr Leben einmische. Die Stimmung sei schlecht, es gebe keine Zuversicht. Peter erzählt: “Regierung und Behörden in Großbritannien lassen einen in Ruhe. Nicht so wie in Ungarn, wo wir eine so große Last auf unseren Schultern tragen müssen.”

Melinda Márkus hat ihren Schauspielerberuf an den Nagel gehängt, als sie nach Großbritannien gezogen ist. Jetzt arbeitet sie in einem Café. Obwohl sie ihre Bühnenträume aufgegeben hat, ist sie heute glücklicher: “Ich fand mich ständig in Sackgassen wieder. Was auch immer ich machte, ich kam nicht weiter. Ich wollte mein Leben ändern. Es war nicht genug in eine andere Stadt zu ziehen oder den Job zu wechseln, also habe ich beides gemacht.” Melinda fühlt sich wohl in ihrer Wahlheimat.

Viele Ungarn machen sich in London selbstständig. Zoltán Máté hat eine Zahnarztpraxis gegründet. Er verdient mehr als in Ungarn. Trotzdem kann er seine britischen Kollegen bei den Preisen unterbieten, sehr zur Freude seiner Patienten. Zoltán verließ sein Land aus Abenteuerlust und, um Karriere zu machen. Er sagt: “Hier ist die Kaufkraft sehr hoch und die Wirtschaft stark. Wer klug ist, kann ein Geschäft gründen und Erfolg haben. Hier gibt es viel mehr Möglichkeiten als anderswo und mehr als z.B. in Ungarn.”

Doch es gibt auch ein Leben nach der Arbeit. Die Rockband Hundergound spielt für die ungarischen Auswanderer. Laut dem Musiker Zsolt Bálványos haben sie einen Nischenmarkt gefunden. In London gebe es Hunderttausende Ungarn und sie seien die einzigen, die für sie ungarische Lieder spielten.

Auch Peter Petrovics hat seinem Land den Rücken gekehrt, aber er will vielleicht eines Tages zurück. Er ist politisch engagiert und Mitglied der Kreativen Widerstandsgruppe. Er verfolgt, was in Ungarn passiert und organisiert Demonstrationen in London. Er macht sich jedoch keine Illusionen, der Wandel in Ungarn benötige Zeit: “Es ist egal ob die Konservativen oder die Sozialisten an der Macht sind, das Geld stehlen und in dubiose Geschäfte verwickelt sind. Die Machthaber sind immer ein Abbild der Gesellschaft. Wir, bzw., die Gesellschaft muss sich also ändern,” so Peter.

Euronews-Journalistin Andrea Hajagos zufolge verfolgen die Ungarn, die in London leben, was in Ungarn passiert und jene die geblieben sind, sind ständig mit dem ungarischen Exodus konfrontiert. Alle sprechen vom Auswandern. Das Theaterstück “Illaberek” handelt von jenen die von einem Tag auf den anderen verschwinden. Der Regisseur Gábor Máté erzählt: “Ich finde die massive Auswanderung um mich herum sehr schmerzhaft. Egal wo ich hingehe, das Thema taucht immer wieder in den Gesprächen auf.” Gábor zufolge gehen viele wegen des politischen Klimas. Bei den Parlamentswahlen 2014 erzielte die rechtsextreme Partei Jobbik mehr als 20 Prozent. “Ich glaube es ist ein massives Problem. Es gibt viele Menschen, die nicht in einem Land bleiben wollen, in dem eine rechtsextreme Partei so viele Stimmen bekommt und sogar ins Parlament einzieht. Und genau das ist in Ungarn passiert,” so Gábor.

Ungarn ist 2004 der Europäischen Union beigetreten, doch anfangs zog es nur wenige ins Ausland. Die Migration fing erst fünf Jahre später an. Schätzungen zufolge sind 300 bis 400.000 Ungarn zwischen 2009 und 2013 ausgewandert. Viele machen die Wirtschaftskrise verantwortlich, doch es gibt noch andere Gründe.

Für Prof. Zoltán Kaposi ist die Massenauswanderung besorgniserregend. Sie sei ein Anzeichen dafür, dass im Land etwas nicht stimme. Kaposi lehrt Wirtschaft und Sozialgeschichte. Er erklärt, dass die Ungarn eigentlich nicht sehr mobil sind. An der Universität beobachtet er jedoch einen Wandel. Vor zwanzig Jahren wollten 12 Prozent der jungen Menschen ins Ausland gehen, heute sind es mehr als 30 Prozent. Zoltán erklärt: “Hier wird man ständig niedergemacht. Es ist also schon großartig, wenn man wie ein Mensch behandelt wird, wenn man Rechte hat. Im Ausland wird man nicht ständig beurteilt. Es ist egal, wer du bist oder woher die kommst. Nur deine Leistung zählt. Hier ist das nicht so.”

Die meisten Ungarn gehen nach London aber viele lassen sich auch in Deutschland oder in Österreich nieder. Deutschunterricht für Ungarn in Wien: Viele Ungarn kommen, obwohl sie die Sprache nicht beherrschen. Dorottya ist vor anderthalb Jahren mit ihrer Familie nach Wien gezogen. Sie und ihr Mann hatten das Gefühl in Ungarn beruflich nicht weiter zu kommen, trotz Diplome und Arbeitserfahrung. Sie erzählt: “Wenn ich nach Ungarn gehe, sehe ich viele Menschen, die traurig und erschöpft sind. Das letzte Mal war ich in einer Apotheke. Eine ältere Dame kam rein, fragte nach ihrem Medikament und brach in Tränen aus. Wenn ich so etwas sehe, bricht es mir das Herz.” Dorottya und ihre Familie haben sich sehr schnell eingelebt, u.a. weil so viele Ungarn in Wien leben. Musik ist das beste Mittel gegen Heimweh. Sie versammeln sich oft, um gemeinsam zu tanzen, in Erinnerungen zu schwelgen und auch um die altbekannten Lieder an ihre Kinder weiterzugeben.

Auch den Zahnarzt Zoltán Máté in London lässt die Heimat nicht los: “Was auch immer in Ungarn passiert, es ist trotzdem meine Heimat. Ich komme von dort, es ist meine Kultur. Hier in London werde ich mich nie so zu Hause fühlen.” Péter Szőke und Melinda Márkus können es sich allerdings nicht vorstellen nach Hause zurückzukehren.

Es sind die Jungen und gut Ausgebildeten, die gehen – und immer öfter nicht zurückkehren wollen. Der Schaden für Wirtschaft, Gesellschaft und die Zukunft des Landes ist enorm.

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