Grenzzäune und kontrolllierte Demokratie - wird Ungarn ein Exportschlager? Interview mit Jean Quatremer

Grenzzäune und kontrolllierte Demokratie - wird Ungarn ein Exportschlager? Interview mit Jean Quatremer
Von Euronews
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Jean Quatremer ist seit 25 Jahren Brüsseler Korrespondent der französischen Tageszeitung Libération . Wir sprachen mit ihm über die Rolle Ungarns in

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Jean Quatremer ist seit 25 Jahren Brüsseler Korrespondent der französischen Tageszeitung Libération . Wir sprachen mit ihm über die Rolle Ungarns in der gegenwärtigen Lage der Europäischen Union.

euronews:
Ein EU-Mitgliedsland nach dem anderen führt wieder Grenzkontrollen ein, vielerorts werden neue Grenzanlagen gebaut. Man hat wirklich den Eindruck, dass die ungarische Methode überall in der EU Schule macht..

Jean Quatremer:
Sechs Monate nach dem Beginn der Flüchtlingskrise erleben wir in der Tat eine Evolution, die sogar revolutionäre Züge trägt. Der ungarische Ministerpräsident Orban war der erste, der als Reaktion auf die Krise mit dem Mauerbauen anfing, was allen sofort ins Auge fiel, denn es ist ja schon bemerkenswert, dass das Land, das als erstes den Eisernen Vorhang des Kalten Krieges durchbrach, nun als erstes die Grenzen zu seinen Nachbarn Serbien und Kroatien zumauert. Da haben erst einmal alle mit dem Finger auf Orban gezeigt und gesagt, naja, was kann man von so einem autoritären Regierungschef auch erwarten. Demgegenüber wurde Angela Merkel dafür gelobt, dass sie sehr schnell die Grenzen öffnete und sagte: ‘wir müssen diesen Menschen aus den humanitär katastrophalen Situationen, wie im Bahnhof in Budapest oder in den österreichischen Alpen, heraushelfen’. Ein halbes Jahr später sind die Grenzkontrollen wieder eingeführt, errichten Länder Grenzzäune, und niemand beschwert sich.
Wir lassen die Menschen im Mittelmeer
ertrinken, jeden Tag sterben Kinder wie der kleine Aylan, und niemand schert’s.
Jetzt heißt es, ‘vielleicht hatte Orban ja von Anfang an Recht mit seiner Methode, mit dem Mauerbau, mit den Wachtürmen und den elektrischen Zäunen’. Und: ‘wir wollen diese Muslime nicht’ – in der Slovakei und in Polen lässt man sie überwachen, und sogar das großzügige Schweden ist überfordert und macht seine Grenzen dicht.
Das alles ist schon sehr beängstigend, denn es stellt eine Rückkehr zum ‘jeder für sich’ dar. Manche glauben sogar, dass eine nationale Antwort das Problem lösen kann, das Europa noch nicht lösen konnte.

euronews:
Und in ihrem Bemühen, Schengen zu retten, wird die EU-Kommission in den Hauptstädten ignoriert…

JQ
Die Kommission tut wirklich ihr Bestes, und auch Präsident Juncker ist zu loben für sein Engagement zur Rettung des Aquis Communitaire, des Erreichten. Aber das ist zweitrangig gegenüber der neuen egoistischen Haltung der Mitgliedsländer: Frankreich ist ganz zufrieden, dass Italien das Problem hat, Italien ist zufrieden, dass es in Griechenland liegt, und so weiter, jeder reicht einfach nur die glühenden Kohlen weiter. Die Konsequenz daraus ist aber, und das mag sich in einem Monat oder zwei, in einem halben Jahr oder auch erst in einem Jahr zeigen: unbeherrschbare geopolitische Konflikte zwischen den EU-Mitgliedsstaaten.
Es ist so, wie es ein deutscher Diplomat vor ein paar Monaten mir gegenüber formulierte: die Flüchtlingskrise ist die Wurzel aller künftigen Konflikte.

euronews:
Kann man also von einem politischen oder eher von einem ideologischen Sieg Orbans sprechen?

JQ
In meinen Augen ist das ein ideologischer Sieg. Mittlerweile ergreift wirklich jeder mehr oder weniger seine Maßnahmen, selbst die französische Linke. Ganz zu schweigen von der slowakischen Linken, die dabei ist, Orban noch rechtsaußen zu überholen.
Überall wird die Freiheit und der Rechtsstaat eingeschränkt, das erinnert sehr an die Dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts: die Rückkehr der Nationalgrenze, gepaart mit dem Willen, die Demokratie zu überwachen und die Meinungsfreiheit einzuschränken.

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