Auf den Spuren des Kalten Krieges

Auf den Spuren des Kalten Krieges
Von Euronews
Diesen Artikel teilenKommentare
Diesen Artikel teilenClose Button

Mit dem Fahrrad quer durch Europa, auf den Spuren des Kalten Krieges: Wir suchen die Reste des Eisernen Vorhanges, Reste der historischen Teilung des Kontinents in Ost und West. Und wir suchen Antworten auf die Frage: Ist der Kalte Krieg wirklich vorbei?

Beginnen wir unsere Radtour durch Vergangenheit und Gegenwart in Estland. Erster Zwischenstop ist Hara, der geheime U-Boot-Hafen aus Sowjet-Zeiten. In den letzten goldenen Strahlen der Abendsonne liegen flachgestreckte Betonkonstruktionen vor uns im Wasser der vormals verbotenen Bucht. Dort wo sich früher nukleargetriebene Spionage-U-Boote der Sowjets versteckten, sitzen heute friedliche Angler. Sie gehören zur russischsprachigen Minderheit Estlands.

Vor 25 Jahren feierte die Welt den Mauerfall und bald darauf das Ende der Sowjetunion. Doch militärische Konflikte in Georgien und der Ukraine stellen die alte Frage neu: Ist der Kalte Krieg vorbei oder nicht? “Ich denke nicht”, entgegnet bereitwillig einer der Angler dick gefütterter Kaputzenmütze, erfreut über den kleinen Schwatz mit dem radelnden Reporter, “ich denke nicht, dass der Kalte Krieg wiederkommt, denn Russland ist nicht die Sowjetunion, die gibt es nicht mehr. Zwar gibt es nach wie vor eine kommunistische Partei in Russland, doch die ist nicht länger an der Macht, in Russland regiert mittlerweile eine ander Partei.”

Die Sonne sinkt rasch, es wird kühl, kehren wir dem bröckelnden Beton den Rücken, bis zur Unterkunft sind es noch etliche Kilometer. Es geht nicht länger um eine kommunistische Bedrohung. Es geht um wachsende Spannungen zwischen dem Russland Putins und dem westlichen Verteidigungsbündnis NATO: Im Balktikum nahm die Zahl der kleineren und mittleren Zwischenfälle und Störmanöver erheblich zu, in den vergangenen Wochen und Monaten, sowohl zu Wasser wie auch zu Lande und in der Luft.

Der Radwanderweg “EuroVelo 13 – Eiserner Vorhang” wurde vor zehn Jahren im Europaparlament beschlossen. Unmöglich die zehntausend Kilometer in einer Woche zurückzulegen, beschränken wir uns auf Estland, Litauen und Deutschland.

Richtung Tallinn, die Hauptstadt Estlands. Die Regierung beschwert sich über Luftraumverletzungen durch russische Kampfflieger. Die NATO bestätigt das: die Provokationen über dem Baltikum nehmen seit einigen Wochen zu.

Viele Esten fürchten eine Destabilisierung der Region und Moskauer Versuche, die russische Minderheit zu instrumentalisieren. Hinzu kommen Internet-Angriffe und ungeklärte Grenzzwischenfälle, auch hier vermutet Tallinn die Drahzieher in Moskau.

Im Yachtclub von Tallinn treffen wir Kalev Vapper, gerade eben hat er mit seinem Team die ORC-Weltmeisterschaft im Segeln gewonnen, in Kiel war das. Der alte Seebär kennt den Eisernen Vorhang noch aus eigener Anschauung, aus Kindheitstagen: “Da waren riesige Bojen im Wasser”, erinnert sich Vapper, “mit vier oder fünf Metern Durchmesser, zwischen denen verlief eine dicken Metallkette. Und unter Wasser war dort tatsächlich so etwas wie ein Eiserner Vorhang – gegen U-Boote. Die Lage damals war gefährlich: Ich hatte gerade mit dem Segeln begonnen, auf einem dieser kleinen Optimist-Boote. Ich war zehn oder elf und nahm an einem Wettsegeln teil. Als ich als Erster die Flussmündung erreichte, standen dort schwerbewaffnete Grenzsoldaten: die haben ihr Maschinengewehr auf mich gerichtet und gesagt: wenn Du auf das Meer raussegeln willst, erschiessen wir dich.”

Der Eiserne Vorhang ist Geschichte. Doch ein Ende der Geschichte gibt es nicht: Am Tallinner Flughafen treffen wir den früheren Geheimdienstchef Estlands. An der Grenze haben russische Agenten einen estnischen Polizisten nach Moskau verschleppt, berichtet er. Und zwar von estnischem Territorium. Der Polizist war mit der Aufklärung eines Schmuggelfalles betraut. Offenbar wurde ihm eine Falle gestellt, berichtet Eerik-Niiles Kross. Jetzt sitzt der Este in einem Moskauer Gefängnis. Russland stellt dem eine andere Version entgegen: der estnische Polizist sei gar kein Polizist sondern ein Spion. Und er sei auch nicht von russischen Spezialkräften aus Estland entführt, sondern auf russischem Territorium verhaftet worden. – Estland beharrt auf seiner Sichtweise und beschuldigt Moskau, ganz bewusst die Spannungen schüren zu wollen, um die Reaktion des Westens, der EU und der NATO zu testen.

Je länger man Kross zuhört, umso mehr hat man tatsächlich den Eindruck, der Kalte Krieg beginne erneut. Kross ist extrem gut vernetzt und gilt als einer der bestinformierten Diplomaten und Politiker des Estlands. “Russland ist dabei, seine Position als imperialistische Macht wiederherzustellen”, bewertet Eerik-Niiles Kross die Situation. “Es ist eine ungute Situation: Russland denkt, dass der Kalte Krieg weitergeht, der Westen tut so, als ob er vorbei sei. Der Westen scheint nicht zu wissen, wie er mit einem aggressiven, unberechenbaren Russland umgehen soll.”

Die Familie Kross hat so ihre Erfahrungen gemacht mit totalitären Gewaltherrschern: 1944 wurde der Vater von Eerik-Niiles Kross, Jaan Kross, von den Nazis eingesperrt, zwei Jahre später dann erneut, diesmal von den Sowjets. Hier, im Tallinner Patarei-Gefängnis, saß er ein, so wie viele andere Dissidenten, die für demokratische Grundwerte eintraten. Nach einiger Zeit hinter den Mauern des Patarei-Baus wurde Kross’ Vater deportiert, nach Sibirien. Jaan Kross überlebte, kehrte zurück nach Estland, wurde international anerkannter und in viele Sprachen übersetzter Schriftsteller.

Kross Junior erinnert sich an den November 1989, den Tag, an dem ein Lichtstrahl fiel in die Dunkelheit der Sowjet-Herrschaft: Damals studierte Eerik-Niiles Kross an der Universität in Hamburg: “Ich hatte mir gerade ein Busticket nach Berlin gekauft, es war reiner Zufall. Als ich in Berlin ankam, fiel die Mauer. Ich habe dabei mitgemacht, als Mauerspecht. Und die westdeutschen Grenzschützer reichten Sektflaschen durch das Loch in der Mauer. Es war eine einzige Party: die Leute kamen durch die Löcher in der Mauer, es gab Freibier, es war einfach unglaublich.”

Nächste Station auf unserer Mega-Radtour auf dem “Iron Curtain Trail”: Litauen. Durch endlose Wälder fahren wir mit der früheren litauischen Verteidigungsministerin Rasa Jukneviciene zu einer ehemaligen Abschussbasis für sowjetische Atom-Raketen. Mit EU-Geldern wurden die vier 30 Meter tiefen Raketensilos umgebaut in ein “Museum des Kalten Krieges”, der Geschichtstourismus floriert.

Rasa Juknevicienes kennt die Geschichte des Kalten Krieges aus ganz eigener Anschauung, er ist Familiengeschichte. Ihre Großeltern wurden nach Sibirien deportiert, ihr Opa starb im Lager. Ihre Oma konnte fliehen, sich auf einen Güterzug schmuggeln, zurück nach Litauen kommen.

Die frühere Verteidigungsministerin ist selber eine “historische Figur”: Rasa Jukneviciene ist eine der Unterzeichnerinnen der litauischen Unabhängigkeitserklärung 1990.

Auch Jukneviciene beschuldigt den russischen Präsidenten Putin, den früheren sowjetischen Einflussbereich wiederherstellen zu wollen und somit EU und NATO zu bedrohen. Moskaus Machtstreben sollte eingedämmt werden. “Seit etwa 2008 beobachten wir, dass Russland seine Streitkräfte rings um die baltischen Staaten verstärkt, umstrukturiert und modernisiert”, kritisiert Jukneviciene. “Das fängt an im Norden und geht rüber bis nach Kaliningrad. Außerdem verfügt Russland in der Region über die größte Anzahl nuklear bewaffneter Streitkräfte und atomarer Sprengköpfe.”

Der Radwanderweg Eiserner Vorhang trägt die EuroVelo-Radwegnummer 13. Es gibt Lücken und wird noch Jahre dauern, bis die zehntausend Kilometer durchgehend befahrbar sind. Einige Abschnitte – beispielsweise in Estland, Litauen und Berlin – sind fast durchgehend ausgeschildert und der Fahrweg ist in ausgezeichnetem Zustand. Im hohen Norden Europas, im dünnbesiedelten Skandinavien, gibt es noch so einige Probleme, ebenfalls in Polen (Stichwort: Sandwege…), auch Lettland muss noch nachbessern. Die Tschechen, Slowaken und Slowenien haben Fortschritte gemacht beim Ausbau des “Iron Curtain Trail”, auch die Österreicher.

Oberbaumbrücke Berlin. Wir machen uns auf die Suche nach Mauer-Resten… und nach einer nahrhaften Currywurst mit Pommes. Das ist übrigens das Leibgericht von Michael Cramer. Cramer? Das ist der Mann, der sich das alles ausgedacht hat: zuerst den “Berliner Mauerweg”. Dann kopierten alle Europäer das Konzept – sogar das Europaparlament unterstützt die Idee. Dort ist Cramer übrigens Abgeordneter für die Grünen.

“Auf diesem Radweg kann man Geschichte, Politik, Natur und Kultur im wahrsten Sinne des Wortes er-fahren”, meint Cramer, nachdem er seine Currywurst aufgegessen hat. “Und Wilhelm von Humboldt hat einmal gesagt: nur wer seine eigene Vergangenheit kennt, der hat eine Zukunft. Wir wollen alle eine Zukunft haben, deshalb müssen wir uns alle mit der Vergangenheit auseinandersetzen, die war schlimm… aber die war auch toll, weil sie durch die Menschen selbst überwunden wurde. Die Politik in Ost und West hat auf die friedlichen Revolutionen in Ostmitteleuropa nur reagiert, reagieren müssen. Die Menschen haben die Welt verändert und das dürfen wir nicht vergessen.”

Mit Cramer fahren wir den Mauerweg im Berliner Zentrum ab: “2014 denken wir an den Beginn des ersten Weltkrieges vor hundert Jahren, an den Beginn des zweiten Weltkrieges vor 75 Jahren, an den Fall der Berliner Mauer und des Eisernen Vorhanges vor 25 Jahren und an die EU Osterweiterung vor zehn Jahren. Alle diese Daten gehören zusammen: Ohne den ersten Weltkrieg hätte es den zweiten Weltkrieg nicht gegeben, ohne den zweiten Weltkrieg wäre es nicht zur Spaltung Europas in Ost und West gekommen… Das Iron-Curtain-Trail-Projekt verbindet im Grunde die Geschichte der vergangenen hundert Jahre.”

Am Brandenburger Tor kommt uns Michael Paul von der Stiftung Wissenschaft und Politik entgegen. Paul weiß alles über sensible Sicherheitsfragen und problematische Ost- Westbeziehungen, alles über Streitkräftedialog und Nuklear-Strategien, alles über Auf- und Abrüstung, über Russlands Beziehungen zur NATO und der EU… Also, was ist jetzt mit dem Kalten Krieg? Vorbei oder nicht vorbei?

“Der Kalte Krieg ist vorbei”, meint Michael Paul entschieden, “das hat Putin vor 13 Jahren im Deutschen Bundestag ausdrücklich erklärt.” Eine Neuauflage des Kalten Krieges werde es nicht geben. “Allerdings gibt es verschiedene Formen neuer Kriege, hybride Kriege, es gibt Diskussionen über Containment-Strategien wie im Kalten Krieg – und es gibt eine Globalisierung der Unsicherheit.” Michael Paul weiter: “Ich glaube nicht, dass Putin eine Neuauflage der Sowjetunion versucht, er verfolgt keine imperialistischen Ziele, dazu ist Russland im Gegensatz zur Sowjetunion auch gar nicht mehr in der Lage.”

Brauchen EU und NATO eine neue Eindämmungspolitik gegenüber Russland? Michael Paul verneint: “Eine Eindämmungspolitik ist unter den gegebenen Umständen nicht mehr möglich. Die Volkswirtschaften sind zu sehr miteinander vernetzt. Russland ist von den Öllieferungen nach Europa abhängig, Europa ist wiederum von Russland abhängig, eine Containment-Strategie trägt heute nicht mehr.”

Einerseits plädiert Paul für einen Neuanfang, einen Dialog mit Russland. Andererseits stellt er aber auch klar: “Die NATO steht und fällt mit der Beistandsverpflichtung (Artikel 5), insoweit wäre die NATO gehalten und auch willens, im Falle einer russischen Agression gegen baltische Staaten einzuschreiten.”

Radeln wir rüber zum Berliner Mauermuseum. Dort treffen wir Rudi Thurow. Der frühere DDR-Soldat wollte nicht auf Menschen schießen und kletterte selbst über die Mauer. Anschließend schloss er sich einer Westberliner Fluchthelfergruppe an: Durch Tunnel, in umgebauten Autos oder mit gefälschten Pässen verhalf er Ostbürgern zur Flucht in den Westen. Ostberlin schickte Killer. Rudi sollte sterben.

“Ich sollte schon ein Jahr nach meiner Flucht auf Westberliner Gebiet fachmännisch ermordet werden. Ich sollte in Berlin Zehlendorf abends auf dem Nachhauseweg mit einem Tausend-Gramm-Hammer erschlagen werden, dann sollte alles so hingerichtet werden, dass es nach Raubmord ausgesehen hätte”, berichtet Rudi Thurow und zeigt uns dabei den Mordbefehl, den er nach der Öffnung der Archive in den Stasi-Unterlagen entdeckte.

Per Zufall entrann Rudi den Stasi-Killern: Er hatte kurz zuvor die Adresse gewechselt, die Mörder lagen hinter dem falschen Gebüsch.

Andere hatten weniger Glück. An der Mauer wurde geschossen bis zuletzt, bis 1989. Der Europaabgeordnete Michael Cramer erinnert an Chris Gueffroy: “Am fünften Februar 1989 in der Nacht ist der Chris erschossen worden, der wollte flüchten, mit einem Freund. Der Freund wurde festgenommen, doch Chris wurde mit zehn Schüssen von vorne erschossen, man hätte ja auch ihn festnehmen können, aber er wurde erschossen.”

Kann eine Neuauflage des Ost-Westkonfliktes vermieden werden? Vielleicht ist das Chris Gueffroys Vermächtnis: respektiert europäische Grundwerte, Freiheit, Demokratie. Und hört auf zu schießen.

BONUS 1: Eerik-Niiles Kross: Wir brauchen eine neue Eindämmungspolitik gegenüber Russland

Euronews traf den früheren Geheimdienstchef Estlands, Eerik-Niiles Kross am Tallinner Flughafen, um über die Entwicklung der Sicherheitslage in Mittel- und Osteuropa zu sprechen. Das komplette Interview (auf Englisch) können Sie hier hören.

BONUS 2: Rasa Jukneviciene: Putin stoppen

In Plokstine, auf der früheren Raketenabschussbasis für sowjetische Atomraketen, sprach Euronews mit der ehemaligen Verteidigungsministerin Litauens, Rasa Jukneviciene, über die Frage, ob Europa heute, 25 Jahre nach Fall der Mauer, eine Neuauflage des Kalten Krieges erlebt. Das Interview (auf Englisch) können Sie hier sehen.

BONUS 3: Rasa Jukneviciene: Russland rüstet auf

Rasa Jukneviciene, Unterzeichnerin der litauischen Unabhängigkeitserklärung und frühere Verteidigungsministerin Litauens, warnt vor einer russischen Bedrohung für das Baltikum. Das Interview mit der litauischen Abgeordneten zeichnete Euronews im “Museum des Kalten Krieges” auf, einer ehemaligen Raketenabschussbasis für sowjetische Atomraketen in Plokstine. Das Interview (auf Englisch) ist hier zu hören.

BONUS 4: Michael Paul (SWP): Der Kalte Krieg ist vorbei

Am Brandenburger Tor erläutert uns Michael Paul von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) seine These vom Ende des Kalten Krieges: Russland heute sei nicht mehr in der Lage, die Sowjetunion wiederzubeleben. Das Interview (auf Deutsch) können Sie hören, wenn Sie diesen Link verwenden.

BONUS 5: Fluchthelfer Rudi Thurow: Die Stasi wollte mich erschlagen

Rudi Thurow war DDR-Grenzsoldat, aber fliehende Menschen wollte er nicht töten, deshalb kletterte er selber über die Mauer. Von Westberlin aus verhalf er dann Dutzenden Ostbürgern zur Flucht, durch Tunnel, in umgebauten Fahrzeugen und mit gefälschten Reisepässen. Dann setzte Ostberlin ein Killerkommando der Stasi auf Rudi an… Rudi Thurow erzählt uns die Geschichte seines Lebens (Interview auf Deutsch).

www.eurovelo.org
www.ironcurtaintrail.eu
www.berliner-mauer-gedenkstaette.de
www.mauermuseum.de

Diesen Artikel teilenKommentare

Zum selben Thema

Michael Paul (SWP): Der Kalte Krieg ist vorbei

Fluchthelfer Rudi Thurow: Die Stasi wollte mich erschlagen

Hat Frankreich aus den Terroranschlägen von 2015 seine Lehren gezogen?