Europas tickende Zeitbombe: Lohnungleichheit

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Europas tickende Zeitbombe: Lohnungleichheit
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Von Fanny GauretCharlotte Kan
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Die Ungleichheit nimmt zu, weil Besserverdiener in Europa das Fünffache von dem der unteren Einkommensschicht verdienen.

Wir wissen, dass Ungleichheit das Ergebnis eines schnelleren Einkommenswachstums an der Spitze und eines unterdurchschnittlichen Wachstums bei Niedrigverdienern ist. Und seit der Finanzkrise ist das langsame Lohnwachstum der Niedrigverdiener das Hauptproblem in Europa. In Ländern wie Rumänien und Portugal sind die Auswirkungen am stärksten zu spüren, aber auch in Italien und sogar in Deutschland. Hier kommt ein Überblick über die Lohnunterschiede in Europa:

Mindestlöhne für Familien sind in ganz Europa unterschiedlich.

Die Mullers leben in Ländern, in denen sie 1.450 Euro oder mehr im Monat verdienen (in Belgien, Frankreich, Deutschland, Irland, Luxemburg, den Niederlanden und in Großbritannien).

Die Potamianos verdienen zwischen 650 und 900 Euro (in Griechenland, Malta, Portugal, Slowenien und Spanien).

Die Baditas verdienen 500 Euro oder weniger (in Kroatien, Tschechische Republik, Estland, Ungarn, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien und der Slowakei).

Anne und Jodi Newman verdienen weniger als Männer - sie kämpfen mit einem geschlechtsspezifischen Lohnunterschied. Anne lebt in Estland, wo das geschlechtsspezifische Lohngefälle am größten ist (25,3 %), für Jodi in Rumänien ist es am kleinsten. (5.2 %).

Die Familie Newman arbeitet wie ein Großteil der Europäer im Dienstleistungssektor und erzielt hohe Löhne. (Seit 2013 sind 71 % der Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor).

Europas konsumgetriebenes Wachstum bedeutet eine Menge Arbeitsplätze für Menschen wie Steve Newman - aber im Niedriglohnsektor.

Um mehr zu verdienen, will er wie andere Europäer in ein anderes Land ziehen. (12% der Europäer sind Wanderarbeiter).

In Osteuropa oder einigen Mittelmeerländern würde Steve weniger als 9.000 Euro im Jahr verdienen. In den EU-15-Ländern mehr als 25.000 Euro jährlich. Und wenn er es unter die ein Prozent der Spitzenverdiener in Frankreich, Großbritannien, Deutschland oder Italien schafft, könnte Steve mehr als 62.000 Euro pro Jahr verdienen.

Von den seit 2013 in Europa entstandenen Arbeitsplätzen wurden gut drei Millionen in der so genannten Hochlohnkategorie geschaffen, rund 800.000 Arbeitsplätze mit Durchschnittslöhnen, und rund 1,5 Millionen Jobs in der Niedriglohnkategorie. Man sieht diesen Trend in ganz Europa - von Österreich über die Tschechische Republik, die Niederlande und sogar Litauen, wo junge Menschen in Scharen in Länder abwandern, die bessere Einkommen versprechen.

Lettland: höhere Löhne, damit die Jugend bleibt

Diese jungen Leute in Riga starten ihre berufliche Karriere in ihrem Heimatland: Keine einfache Wahl, denn die Gehälter in Lettland sind niedrig.

Mit vier Euro ist der Stundenlohn dreimal niedriger als der europäische Durchschnitt. Auch die Einkommensungleichheit ist ausgeprägter als in der übrigen Union. Die Jugend verlässt nach und nach das Land, um woanders bessere Arbeitsmöglichkeiten zu finden.

Im Januar dieses Jahres erhöhte die lettische Regierung den Mindestlohn auf 430 Euro pro Monat. Eine Möglichkeit, den einkommensschwächsten Gruppen zu helfen, denn Lettland ist in punkto Lohnungleichheit und Beschäftigung ein tief gespaltenes Land:

"Nimmt man das Pro-Kopf-BIP, um das Einkommen zu vergleichen, ist das Niveau in Riga im Durchschnitt ähnlich dem des Einkommens in Großbritannien. Schaut man aber in den östlichen Provinzen, nur etwa vier Autostunden entfernt, liegt das Pro-Kopf-BIP auf dem gleichen Niveau wie in Südafrika. In Riga beträgt die Arbeitslosigkeit 4-5 Prozent, in Latgale etwa 18 Prozent. Die Berufsaussichten, die Karriereaussichten und das Einkommensniveau Lettlands sind so viel niedriger als in Ländern wie Großbritannien, Deutschland, Frankreich. Es wird zu einem  Land der Alten", sagt Vjačeslavs Dombrovskis, Certus Policy Think Tank.

Damit die Jugend bleibt, setzt das Land auf Bildung. Das wirkt sich in Lettland stärker auf die Beschäftigungsaussichten und Löhne aus, als in vielen anderen EU-Ländern. Daher ist es wichtig, die Bevölkerung zu qualifizieren, insbesondere in zukunftsträchtigen Bereichen wie der Informations- und Kommunikationstechnologie:

"Es ist eine wachsende Branche, die Regierung investiert, weil die Handelsregeln und Steuergesetze wettbewerbsfähig sind, wettbewerbsfähiger als in unseren Zielmärkten, so dass wir wirklich leichter als in unseren Zielmärkten bestehen können. Die Aussichten für ein IKT-Unternehmen wie das unsere in Lettland sind 100% positiv - 100% positiv", sagt Janis Rocens, Präsident von SWH SETS.

Höhere Löhne, mehr Qualifikationen für bessere Berufsaussichten und sogar ein Ministerium für die Diaspora, um die Abwanderung der Jugend einzudämmen - Lettland versucht, dauerhafte Lösungen zu finden, um jungen Arbeitnehmern eine bessere Zukunft zu bieten und seine Bevölkerung vor dem endgültigen Niedergang zu bewahren.

Was machen andere Länder?

Euronews interviewte in Brüssel den Generalsekretär des Europäischen Gewerkschaftsbundes, Luca Visentini, zu diesem Thema.

Euronews-Reporterin Maithreyi Seetharaman: "Luca wir haben Ihnen einen Gegenstand mitgebracht, der Ungleichheit symbolisiert. Was glauben Sie ist es?"

Luca Visentini: "Dieses schöne Fahrrad, es war mein erstes Geschenk, nachdem ich 2015 zum Generalsekretär des EGB gewählt wurde. Für mich ist es ein Symbol für meinen Weg zur Gleichstellung. Ich muss strampeln, um Gleichheit zu erlangen. Und ich habe beschlossen, meine belgische Sozialversicherungskarte in den Fahrradkorb zu legen, die nicht für jeden zugänglich ist und von der nicht jeder profitieren kann. Das ist ein weiteres Symbol für den langen Weg, der für eine wirkliche Gleichstellung noch vor uns liegt, selbst in einem Land wie Belgien, das in Bezug auf Sozialschutz und soziale Rechte weit vorangeschritten ist."

Euronews: "Glauben Sie wirklich, dass Ungleichheit das Wachstum der Länder beeinflusst?"

Luca Visentini: "Auf jeden Fall! Ungleichheit drückt die Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit, der Arbeitsmarkt wird ineffizent, leider. Denn die öffentlichen Haushalte müssen viel Geld ausgeben, um prekäre Arbeitnehmer zu unterstützen, die am Ende ihres Arbeitslebens keine Rente bekommen, die kein Arbeitslosengeld bekommen, die mit ihren Familien in Armut leben, so dass sie von der öffentlichen Hand unterstützt werden müssen. Es werden also verfügbare Ressourcen für Investitionen herausgenommen. Am Ende ist es also ein Teufelskreis, der das Wachstumspotenzial der Wirtschaft zerstört."

Euronews: "Ist das für Sie ein Thema, dass es eine Schwächung der Tarifverhandlungen in ganz Europa zu geben scheint?"

Luca Visentini: "Das Problem ist nicht, dass die Gewerkschaften nicht mehr stark sind, das Problem ist, dass die Tarifverhandlungssysteme während der Sparmaßnahmen und der Krise angegriffen wurden und der Abbau von Tarifverhandlungseinrichtungen zu schwachen Gewerkschaften, aber auch zu schwachen Arbeitgeberverbänden führt. Und wenn die Sozialpartner schwach sind, ist es sehr schwierig, die Entwicklung der Wirtschaft so zu steuern, dass man die Ungleichheiten verringert."

Euronews: "Das sagen Sie, weil Sie der Chef der Gewerkschaften in Europa sind - aber im weltweiten Vergleich setzt die Globalisierung die Löhne schon von Natur aus unter Druck."

Luca Visentini: "Wenn man sich die Anteile an den Produktions- und Exportkosten ansieht, ist der Lohnbestandteil sehr niedrig, 5 bis 15% - der Rest sind Investitionen.... vor allem in die technologische Innovation, in die Digitalisierung der Prozesse, aber auch in die Qualität der Produktion, das sind die Elemente, die den Unterschied im globalen Wettbewerb ausmachen. Der Export ist nur die Hälfte des Bildes, die andere Hälfte des Bildes ist der Binnenkonsum, die interne Nachfrage.... Wenn wir die Löhne entsprechend der Produktivität erhöhen, steigern wir den Export, aber gleichzeitig auch die Binnennachfrage, das macht unser Wirtschaftswachstumsmodell langfristig wirklich nachhaltig. Wenn die Sozialpartner Teil des Ganzen sind, können sie Teil der Lösung sein. Wenn wir dieses Bündnis schaffen, können wir das Vertrauen in die Europäische Union zurückgewinnen."

Real Economy | Inequality

Journalist • Maithreyi Seetharaman

Cutter • Richard Topping

Weitere Quellen • Cameramen London: Richard Topping; Brussels: Pierre Hollande, Bert Degraeve; Riga: Marc Semaan; Soundman: Jeroen Dejonghe; Graphics: Monsieur Girafe

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