Polen und Covid: Beispiele für die erstarkte Rolle der öffentlichen Meinung

Polen und Covid: Beispiele für die erstarkte Rolle der öffentlichen Meinung
Copyright MATEUSZ SLODKOWSKI/AFP
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Von Stefan Grobe
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Die neueste Ausgabe unseres Wochenend-Magazins State of the Union beschäftigt sich mit der nächsten Runde im Kampf zwischen der EU und Polen sowie einer Analyse des europäischen Entscheidungsprozesses während der Pandemie.

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Man hatte es irgendwie seit mehr als fünf Jahren kommen sehen. In dieser Woche eskalierte der Europäische Gerichtshof den anhaltenden Streit mit Polen und verurteilte das Land zur Zahlung von einer Million Euro pro Tag - dafür, dass das Land ein früheres Urteil ignorierte, seine umstrittenen Justizreformen zurückzunehmen. Sollte sich Polen weigern, zu zahlen, wird die Strafe noch höher.

Die Entscheidung der Luxemburger Richter wurde in Warschau sogleich als "Erpressung" gebrandmarkt. Dagegen griff die polnische Opposition die rechtsgerichtete Regierung scharf an - diese höhle die Demokratie aus.

Der Europäische Gerichtshof glaubt, dass die polnische Justizreform die Unabhängigkeit von Richtern ernsthaft kompromittiert. Deshalb seien Maßnahmen gegen Polen notwendig, so das Gericht, um die Rechtsordnung der Europäischen Union zu schützen und den wichtigsten Grundwert, auf dem diese Union errichtet wurde - nämlich den Rechtsstaat.

Und deswegen kann es auch keinen Kompromiss geben, sagen die übrigen Mitgliedsstaaten. Alexander De Croo, belgischer Ministerpräsident: "Die überwältigende Mehrheit der Mitgliedsstaaten, von der Ostsee bis nach Portugal, ist sich einig, dass die EU eine Union von Werten ist und kein Geldautomat. Man kann nicht das ganze Geld einstecken und sich den Werten verweigern."

Es ist nicht klar, wie es nun weiter gehen soll. Da fast 90 Prozent der Polen von der EU eine positive Meinung haben, zögert die Regierung in Warschau, eine Brexit-Strategie der verbrannten Erde zu verfolgen. Es ist also nur der starke Wille der polnischen Bevölkerung, der die Dinge zusammenhält - noch.

Eine ähnlich starke Rolle der öffentlichen Meinung haben wir während der Covid-Pandemie gesehen, als die Politik in EU und Mitgliedsstaaten anfangs nicht wirklich wußte, wie man auf die Krise reagieren sollte.

Wie sich der europäische Entscheidungsprozess von Improvisation zu wirklicher Staatsführung entwickelte, ist Thema eines neuen Buchs des niederländischen Historikers und politischen Philosophen Luuk van Middelaar (“Pandemonium – Saving Europe”; deutsch "Das europäische Pandämonium: Was die Pandemie über den Zustand der EU enthüllt").

Euronews sprach mit ihm in Brüssel.

Euronews: Die Covid-Krise ist alles andere als vorbei, und schon haben Sie eine faszinierende Analyse des europäischen Entscheidungsprozesses während der Pandemie vorgelegt. Die Frage ist also: warum dieses Buch und warum jetzt?

Middelaar: Ich denke, es war wichtig zu verstehen, wie Europa auf die Krise reagiert hat. Was mich wirklich beeindruckt hat, war die schnelle Anpassung an die Situation.

Am Anfang geschah praktisch nichts, sehr enttäuschend. Aber dann geschah binnen Monaten eine bemerkenswerte Kehrtwende zwischen dem Frühjahr und dem Sommer 2020.

Am Ende setzte die EU zwei weitreichende Entscheidungen durch, einmal zum Coronavirus-Wiederaufbaufonds, zum anderen zum gemeinsamen Ankauf von Impfstoffen für alle Bürgerinnen und Bürger in der EU, 450 Millionen Menschen. Letzteres war vielleicht die bemerkenswerteste Entscheidung. Beide Entscheidungen zeigten die EU in Hochform.

Euronews: In einem Kapitel schreiben sie von einer größeren Wahrnehmung von EU-Themen in der Bevölkerung und der starken Rolle, die die öffentliche Meinung während der Krise gespielt hat. Warum ist das bemerkenswert?

Middelaar: Angesichts der anfänglichen Brüsseler Trägheit und der Eigensucht in nationalen Hauptstädten und den Mitgliedsstaaten gab es einen öffentlichen Aufschrei nach Hilfe und Solidarität. Es war also wirklich die öffentliche Meinung, die einige der Entscheidungen ausgelöst hat, und das war neu.

Auch gab es etwa Interviews von Politikern, die sich nicht an ihre eigenen Bürger gewandt haben, sondern an die der Nachbarstaaten. Denken sie an die italienischen Bürgermeister, die Anzeigen in deutschen Zeitungen schalteten, um für deutsche Unterstützung für das stark betroffene Italien zu werben.

Ich freue mich also, zu einem wirklich europäischen Fernsehsender zu sprechen und dabei auch die positive Rolle der Medien zu erwähnen. Ich fand also die entstehende gemeinsame öffentliche Sphäre faszinierend.

Euronews: Wie erklären Sie dann, dass die aktuelle Konferenz zur Zukunft Europas, die ja ein Bürgerforum sein soll, bislang von den Menschen praktisch ignoriert wird?

Middelaar: Ich denke, die Öffentlichkeit glaubt nicht, dass eine derartige Veranstaltung die Arbeitsweise der EU nachhaltig ändert. Es ist gut, einen Input geben zu können, aber das ist schon auf nationaler Ebene schwer zu organisieren. Es funktioniert indes auf lokaler Ebene bei Themen, die die Menschen direkt betreffen. Aber hier, muss ich sagen, hatte ich nie sehr hohe Erwartungen.

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