In Montmartre ist die Wohnung, in der einer der bedeutendsten französischsprachigen Dichter lebte, durch ein Projekt zur Erweiterung des angrenzenden Moulin-Rouge bedroht. In einem Interview mit Euronews verteidigt Préverts Enkelin das Erbe ihres Großvaters.
"In mein Haus, das nicht mein Haus ist, wirst du kommen".
Weiß getünchte Wände mit Nischen, gebogene Ecken, Parkett und mit provenzalischen Fliesen belegte Böden, mitten auf dem Montmartre. Darin ein Schreibtisch, unzählige Bilder und Bücher, eine mit Reißzwecken befestigte Werbung für einen Fernsehsender, Bleistifte, verstreute Porträts von Brigitte Bardot, General de Gaulle und des Papstes.
Jacques Préverts Wohnung in der Cité Véron 6bis im Hinterhof des Moulin-Rouge: hell, aber nicht luxuriös. Die Wohnung, die seit jeher berühmten Zeitgenossen und anonymen Freunden des Dichters offen stand, könnte bald verschwinden.
Ein Kampf um Erinnerung
Der Eigentümer des Ortes, das Varieté Moulin-Rouge, möchte diese Wohnung zusammen mit der gegenüberliegenden, in der Boris Vian lebte, für ein Erweiterungsprojekt abreissen lassen.
"Ich finde, das ist kein Respekt vor der Geschichte", sagt die Enkelin des Dichters, Eugénie Bachelot-Prévert, gegenüber Euronews. Sie wacht über seine Archive und mobilisiert Unterstützer, damit die Wohnung nicht "als Schutthaufen" endet, sondern im Gegenteil "besichtigt und geschützt werden kann".
Eine entsprechende Petition, die von seinem Verein "Chez Jacques Prévert" ins Leben gerufen wurde, hat bereits mehr als 36.000 Unterschriften gesammelt.
Parallel dazu wurde ein offener Brief an Kulturministerin Rachida Dati gerichtet, in dem für eine Einstufung der Räume als historisches Denkmal plädiert wurde. Der Nobelpreisträger für Literatur Patrick Modiano, der Filmemacher Costa-Gavras und die Sängerin Patty Smith unterzeichneten den Brief.
"Zu einem Zeitpunkt, an dem die Pariser und insbesondere die Bewohner des Montmartre den Verlust der Authentizität eines öffentlichen Raums beklagen, der dem Übertourismus ausgeliefert ist, wäre das Verschwinden der Wohnung von Jacques Prévert wie auch der seines Nachbarn Boris Vian, die Gegenstand desselben Projekts ist, völlig unverständlich", heißt es in dem Schreiben an die Kulturministerin.
In Frankreich ist der Begriff "Museum" frei verwendbar. Auch ohne staatliche Anerkennung ist es möglich, die Wohnung des Dichters zu erkunden, indem man über die Plattform HelloAsso einen Gruppenbesuch bucht. Eugénie Bachelot-Prévert, die Enkelin, empfängt bis zu zwei Personen pro Woche. "Punktuell werden auch Termine mit Wissenschaftlern vereinbart, die sich mit dem Werk von Jacques Prévert beschäftigen", erzählt sie.
Keine "Zerstörung", so Moulin-Rouge.
Die Familie Prévert ist seit dem Jahr 1955 Mieter der Räumlichkeiten. Im September des vergangenen Jahres erfuhr Eugénie Bachelot-Prévert durch einen Brief, der von einem Gerichtsvollzieher gebracht wurde, dass der Ende 2024 auslaufende Mietvertrag nicht verlängert werden würde. Die Frist für die Räumung der Wohnung wurde auf den 31. März 2026 festgesetzt.
Laut der Vorsitzenden des Vereins "Chez Jacques Prévert" erklärt die Gesellschaft Moulin-Rouge den Beteiligten nicht, was sie mit dem betroffenen Wohnraum wirklich vorhat, auch wenn die Renovierung des Saals, in dem die französische Schauspielerin namens Mistinguett, der Star der Années folles, auftrat, erwähnt wird.
Auf Anfrage von Euronews bestätigte das Varieté Montmartre, dass es über ein Sanierungsprojekt nachdenkt, das es - unter anderem - ermöglicht, das Erbe von Mistinguett aufzuwerten, [...] eine Frau, die allzu oft unsichtbar gemacht wird, obwohl sie eine wichtige Figur des Pariser Kulturlebens ist"
"In diesem Bemühen haben wir nie die Zerstörung der Wohnungen der Herren Prévert und Vian erwähnt", fügt das Moulin-Rouge hinzu.
Eugénie Bachelot-Prévert will nicht, dass das Innenleben der Wohnung ihres Großvaters an einen anderen Ort gebracht wird. "Das käme einer Fälschung gleich", betont sie."Wir möchten die Wohnung in ihrer Authentizität erhalten".
Kulturministerum zwischen den Stühlen
Die Erbin des Dichters behauptet, keinen Kontakt zur Kulturministerin zu haben, die ihrer Meinung nach dem Moulin-Rouge"nahesteht".
Rachida Dati hat in diesem Jahr einen "Kabarettplan" ins Leben gerufen, um"das Schaffen zu unterstützen", "die Sichtbarkeit und das Wissen" über diese Welt zu "stärken" und schließlich ihr Erbe"aufzuwerten ".
Die wichtigste Maßnahme des Plans, eine "dem Varieté gewidmete Saison", die laut Ministerium im Herbst 2026 mit "regionalen und nationalen Höhepunkten" stattfinden wird.
Auch wenn sie diese Politik für legitim hält, bittet Eugénie Bachelot-Prévert darum, auch ihrem eigenen Anliegen Gehört zu schenken. Sie sieht das weltbekannte Varieté als "starken wirtschaftlichen Faktor", den das Ministerium offenbar nicht kränken wolle.
Soll der Staat eingreifen?
In einem von Euronews eingesehenen Wunsch, der im November letzten Jahres auf Vorschlag der kommunistischen Fraktion im Pariser Stadtrat abgegeben wurde, forderten die Abgeordneten der Hauptstadt den Staat auf, "schnell einzugreifen, damit die Wohnung von Jacques Prévert anerkannt und in situ geschützt wird, um ihre vollständige Erhaltung, ihren Schutz vor jeglicher schädlichen Veränderung und ihre Öffnung für Besucher zu gewährleisten, unter Achtung ihres Gedächtnisses, ihres kulturellen Erbes und der Geschichte von Montmartre".
Das Kulturministerium erklärte Euronews auf Anfrage, dass ein Antrag auf Denkmalschutz für die Wohnung von Jacques Prévert von der Regionaldirektion für kulturelle Angelegenheiten (DRAC) Île-de-France geprüft werde.
"Das Ministerium [...] verfolgt diese Angelegenheit aufmerksam: Es tauscht sich derzeit mit den Rechtsnachfolgern von Jacques Prévert, mit denen von Boris Vian und mit den Eigentümern des Moulin Rouge aus, damit eine Lösung gefunden werden kann, die die Entwicklung des Kabarettprojekts ermöglicht und gleichzeitig dafür sorgt, dass das mit diesen beiden emblematischen Schriftstellern verbundene Kulturerbe geschützt wird", hieß es in der Rue de Valois, dem Sitz des französischen Kulturministeriums.
Das Moulin-Rouge erklärte seinerseits, dass es sich "regelmäßig mit den staatlichen Stellen" austausche und fügte hinzu, dass"sehr bald" ein Treffen mit Eugénie Bachelot-Prévert geplant sei.
Zur Bedeutung von Jacques Préverts Kunst
Jacques Prévert war antiklerikal, anarchistisch, stand den Kommunisten nahe und sträubte sich lange gegen die Idee, Hausbesitzer zu werden. Er ist unter anderem für seine Sammlung "Paroles" weltberühmt und schrieb das Drehbuch für Marcel Carnés Kultfilm "Les enfants du paradis" (dt. "Die Kinder des Paradieses").
Was ihm manchmal vorgeworfen wurde - die Einfachheit seiner Verse, ein zu direktes Engagement - ist heute genau das, was seine Modernität und Bedeutung ausmacht.
Über das Klischee des "Lieblingsdichters der Schulkinder" hinaus spricht Eugénie Bachelot-Prévert von einem Mann, der "den Krieg anprangert" und "den ganzen Wahnsinn des 20. Jahrhunderts gesehen hat". Sie lobt die"Lebendigkeit" seiner Gedanken, "die sehr stark widerhallen", und ruft "zur Freiheit, zu einer anderen Welt" auf.
Für die Hüterin des Andenkens an Jacques Prévertist die Kunst ihres Großvatersnach wie vor bedeutend. Er wurde in 40 Sprachen übersetzt und ist "über Frankreich hinaus von Bedeutung", wie sie versichert.
Auch Préverts Verlag nimmt Stellung
Auf Anfrage äußerte sich auch der Verlag des Künstlers Éditions Gallimard.
„Prévert ist ein Nationaldichter, genau wie Éluard oder Char“, erklärt Alban Cerisier, Generalsekretär des Verlags Éditions Gallimard, gegenüber Euronews. „Er genießt jedoch aufgrund der sehr großen Verbreitung seines ersten Gedichtbands 'Paroles', der seit 1946 insgesamt mehr als 4,5 Millionen Mal verkauft wurde, einen besonderen Status.“
„Das ist ein sehr ungewöhnliches Phänomen, das allein schon zeigt, welchen Platz Prévert in den Hausbibliotheken einnimmt“, betont der Konservator des Kulturerbes.
Laut Alban Cerisier liegen die jährlichen Verkaufszahlen der Gedichtbände des Dichters bei etwa 50.000 Exemplaren, „die überwiegend aus Verkäufen von „Paroles“ bestünden.
Der Verleger und Historiker stellt auch die „Präsenz“ von Jacques Prévert „durch die Anzahl der Bibliotheken, Kulturzentren und Bildungseinrichtungen, die seinen Namen tragen“ fest – Euronews hat fast 500 davon gezählt.
„Die Gedichte von Prévert sind weit verbreitet und leben durch die Stimmen der Kinder weiter“, fügt Alban Cerisier hinzu. „Le Cancre“, „En sortant de l’école“, „Page d’écriture“. Ebenso wie die legendären Dialoge des Dichters für das Kino.
„Ich glaube, Prévert verdankt seine anhaltende Bekanntheit der Tatsache, dass seine Gedichte, obwohl sie sehr fein komponiert sind und an eine französische poetische Tradition (insbesondere den Surrealismus) anknüpfen, einen einfachen, freien und musikalischen Ausdruck menschlicher Gefühle vermitteln“, erklärt der Experte.
Dichter in Italien sehr bekannt
"Mit seiner einfachen und direkten Sprache hat [Prévert] die Herzen vieler Italiener berührt, vor allem was seine Liebesgedichte betrifft", erklärt Paolo Levi, Paris-Korrespondent der italienischen Nachrichtenagentur Ansa, ebenfalls auf Anfrage von Euronews.
"Ich weiß nicht, ob das für die jüngeren Generationen noch zutrifft, aber jahrzehntelang war es in Italien üblich, Menschen zu treffen, die ganze Gedichte, mindestens aber Verse von Prévert auswendig zitierten", fügte der Journalist hinzu.
Die Petition zur Rettung der Wohnung von Boris Vian können Sie hier einsehen.
Sophia Khatsenkova hat zu diesem Artikel beigetragen.