Frankreichs schlaflose "Aufrechte" kurz vorm Einschlafen?

Frankreichs schlaflose "Aufrechte" kurz vorm Einschlafen?
Von Valerie Zabriskie mit Margitta Kirstaedter (dt. Fassung)
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Seit Ende März diskutieren die Nuit-debout-Aktivisten auf der Place de la République in Paris allabendlich über eine bessere Welt. Doch können sie wirklich etwas bewegen?

Demonstrieren hat in Frankreich Tradition. Derzeit geht es um die geplante Arbeitsmarktreform. Die Regierung hofft, damit mehr Beschäftigung zu schaffen, die Kritiker fürchten das Gegenteil. Proteste und Streiks sind landesweit an der Tagesordnung. Daraus hervor ging die Bewegung Nuit debout, was so viel heißt wie “die Nacht auf den Beinen”, “die Nacht aufrecht”, aber auch als “schlaflos” und “sich nachts erheben” verstanden wird. Seit Ende März halten die Nuit-debout-Anhänger den Platz der Republik in Paris besetzt, und diskutieren dort allabendlich über eine bessere Welt. Doch es werden weniger, und der Rückhalt in der Bevölkerung sinkt. Ein Strohfeuer – oder das Sprungbrett für eine neue politische Bewegung wie in Spanien?

“Nuit debout repräsentiert das Volk, das sich bewusst wird, dass das politische System ihm nicht mehr gerecht wird, und es letztlich an ihm selbst liegt, die Politik in die Hand zu nehmen”, erklärt eine Aktivistin auf der Place de la République. “Viele Leute sehen die Stärke von Nuit debout darin, ein Gesprächsforum zu schaffen, in dem die öffentliche Rede auch wieder öffentlich wird, und dies schon als Selbstzweck”, erläutert eine andere.

Ce soir on fait du bruit contre la #LoiTravail ! #CasserolesDebout#NuitDebout Tous-tes devant les mairies à 19h30

— Nuit Debout (@nuitdebout) June 17, 2016

https://twitter.com/nuitdebout ### Das Volk soll seine Stimme zurückbekommen

Im wirtschaftlich schwächelnden Frankreich wächst der Frust vieler Leute, dass Gesetze über ihren Kopf hinweg gemacht werden. Was für Nuit debout zählt, ist, dem Volk die Stimme zurückzugeben. Ganz ohne Gewalt geht es auch bei diesen Protesten nicht ab, Zusammenstöße mit der Bereitschaftspolizei gab es auch hier. Und der Philosoph Alain Finkielkraut wurde beschimpft, angespuckt, und vom Platz gejagt. Doch grundsätzlich kann bei der allabendlichen Generalversammlung auf dem Platz jeder sprechen, mit derselben Redezeit – ob Kapitalismusgegner oder Obdachloser. Gleichheit ist das Postulat. Abgestimmt wird per Handzeichen. Die meisten hier sind jung, links, weiß und gut gebildet. Es treibt sie um, wie man eine bessere Welt von morgen schaffen könnte.

Nuit deboutSeit Beginn der Bewegung vor zweieinhalb Monaten schossen die Debout-Ableger wie Pilze aus dem Boden. Jeder ist “debout” und erhebt sich: Man findet auf der Place de la République gibt es das “Orchester debout”, “Ökologie debout”, “Anti-Kommerz debout”, “Anwälte debout” – Kommissionen und Kommitees, bei denen jeder etwas sagen kann. Die Bewegung weitete sich auf andere Städte in Frankreich aus und fand Nachahmer im Ausland.

Kann Nuit debout ohne Agenda und politische Führung gesellschaftlichen Einfluss bekommen?

Das wollten wir bei der Nuit debout in Marseille wissen vom Journalisten und Dokumentarfilmer François Ruffin. Er ist auch Herausgeber der linken Zeitung “Fakir” und hat mit dem Film Merci Patron!! Danke, Boss! die Nuit-debout-Bewegung mit angestoßen. In der Dokusatire “Merci Patron” trifft er auf ein Ehepaar in Nordfrankreich, das nach Schließung der Textilfabrik, in der beide arbeiteten, ohne Arbeit und mit Schulden dasteht und sein Haus zu verlieren droht. Dafür verantwortlich ist letztlich der Chef der Luxusgruppe Louis Vuitton Moët Hennessy, Bernard Arnault. Und bei dem persönlich will Ruffin nun um Geld für das Paar bitten…

Mit dieser Demonstration sozialer Ungerechtigkeit traf er den Nerv vieler Landsleute: “Während der gesamten Vorpremieren-Tournee für ‘Merci Patron!’ haben wir in den Kinosälen gespürt, dass es da geballte Energie gab, und die Leute fragten uns danach, was können wir tun?” erzählt Ruffin. “Und da gab es den Vorschlag, dass man am Ende der nächsten Demonstration gegen das Gesetz zur Arbeitsmarktreform einen Platz besetzen könnte. Und so wurde am 31. März der Platz der Republik besetzt, und zum Auftakt wurde im übrigen der Film ‘Merci Patron!’ gezeigt, am selben Abend.”

Über die Wirkung von Nuit debout denkt er: “Ich bin für die Politik der kleinen Schritte. Aber ich weiß auch, wie stark gleichzeitig das Gefühl der Ohnmacht ist. Zuerstmal muss man zeigen, dass man auch gewinnen kann. Der Film hat das schon angestoßen, man hat den Mächtigen jetzt etwas entgegenzusetzen: Die Leute sagen jetzt, vielleicht sind wir stärker, als wir denken, und die Mächtigen verletzlicher, als wir glauben. Und diese Lehre muss man weitergeben, aber noch viel massiver. Mit dem Kampf gegen das Arbeitsgesetz wird das versucht.”

Das reiche aber nicht, meint der Debout-Anhänger Kamel Bendjeguellal in Marseille: Die Bewegung sei bislang noch zu sehr von Intellektuellen getragen: “Nuit debout sind für mich die Bürger, die die Dinge wieder in die Hand nehmen. Neben diesen Bürgern haben wir Schriftsteller, Theaterstücke, den Film ‘Merci Patron!’ – jeder steuert seinen Teil bei. Aber ich denke, dass diese intellektuelle Welt mit der sozialen Welt in Einklang kommen muss – das ist das Wichtigste.”

Vorbild Podemos?

Seit Beginn wurde Nuit debout mit Bewegungen wie Occupy Wall Street oder den Indignados in Spanien verglichen. Dort entstand die Partei Podemos. Bleibt es in Frankreich bei einem Straßenprotest von Utopisten? Muss sich daraus eine politische Partei formieren, um echte Schlagkraft zu entwickeln? Der Politikwissenschaftler Gaël Brustier, der die Bewegung wochenlang beobachtete und ein Buch darüber schrieb, sieht den immanenten Widerspruch: “Manche bei Nuit debout denken, dass Podemos das Schlimmste wäre, was ihnen passieren könnte. Denn Podemos ist das, was sie die neuen radikalen Parteien nennen. Und es sind die Parteien, die den Gedanken der Indignados verraten haben. Nämlich, dass man die Welt verändern kann, ohne die Macht zu übernehmen. Jedes Bestreben, an die Macht zu kommen, ist von Natur aus ein Verrat an den fortschrittlichen, revolutionären Ideen. Und das ist in der Bewegung sehr präsent, seit Anbeginn. Andere dort halten es hingegen für notwendig, in die Institutionen hineinzukommen, und denken, dass man nur so schrittweise etwas ändern kann.”

Die meisten auf der Place de la République wollen sich von keiner Organisation oder Partei vereinnahmen lassen.

Mehrheit der Franzosen sieht Bewegung der Schlaflosen kurz vor dem Einschlafen

Die französische Regierung hält bei allen Zugeständnissen nach den Protesten an ihrer Arbeitsmarktreform fest. In der Bevölkerung ist nach anfänglicher Begeisterung die Unterstützung gesunken. Gut zwei Drittel erwarten laut Umfrage, dass die Bewegung der Schlaflosen bald einschläft.

Das abendliche Sit-in der Weltverbesserer nur ein Strohfeuer?
Debout-Aktivistin Helena Aujames sieht auf jeden Fall einen Erfolg: “Ich weiß nicht, ob Nuit debout weiterbesteht. Ich weiß nur, egal was geschieht – es wird hinterher diese Erfahrung geben, die den Leuten bewusst gemacht hat, dass sie etwas zu sagen haben, dass sie in der Politik etwas einzubringen haben. Wenn Nuit debout scheitert, gibt es sicher später andere Protestbewegungen. Die Leute werden sich daran erinnern, was hier gewesen ist, und dass sie als Bürger Macht haben. Das wird unsere Errungenschaft sein.”

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