Landminen - Todesfallen fordern Blutzoll in Bosnien

Landminen - Todesfallen fordern Blutzoll in Bosnien
Von Hans von der Brelie
Diesen Artikel teilenKommentare
Diesen Artikel teilenClose Button

Bosnien-Herzegowina wird es nicht schaffen, bis 2019 alle Minenfelder zu räumen. Die Gründe für die enormen Verzögerungen sind: Korruption, katastrophale Klimaschwankungen, kein Geld. Im Klartext: Heftige Unwetter und Erdrutsche verschoben im Frühling ganze Minenfelder – jetzt kann keiner mehr so genau sagen, wo die Todesfallen liegen. Die Regierung hält ihre finanziellen Zusagen nicht ein – weshalb hunderte Minenräumer arbeitslos sind, statt nach Minen zu suchen. Der Direktor der staatlichen Koordinierungsstelle BHMAC steht unter Korruptionsverdacht – er soll bei der Auftragsvergabe an Minenräumfirmen angeblich getrickst und Schmiergelder angenommen haben.

Unsere Reise ins Zentrum des bosnischen Landminen-Chaos beginnt in Tuzla. Dort, gleich gegenüber der Kirche, treffen wir Aladin. Voller Tatendrang verlässt der Mitfünfziger den Sitz der Nichtregierungsorganisation “Landmine Survivors Initiatives”. Aladin gehört zu den Gründern dieser Opferhilfegruppe. In den Armen hält er eine Prothese. Seine Prothese. Denn Aladin hat nur ein Bein. Das andere, das künstliche, muss wieder einmal ausgetauscht werden. Aladin hat zuviel Fußball gespielt.Praktischerweise hat er immer ein Ersatz-Bein im Kofferraum. Sein echtes Bein wurde von einer Mine zerfetzt. So viele Minen wie hier in Bosnien gibt es sonst nirgendwo in Europa. Aladin ist mobil: Ob Balltreten oder Autofahren mit Prothese, kein Problem. Aladins Job: Hoffnung spenden, den Landminenopfern Mut machen, zeigen, dass es weitergeht, auch mit einem Bein.

“Sobald ich einen Notruf bekomme, fahre ich los, direkt ins Krankenhaus. Dort helfe ich den Minen-Opfern und ihren Familien, spende Trost, Beistand, Hilfe bei Verwaltungsgängen. Ich helfe dem Opfer, seinen Schock zu verarbeiten. Später, nach der Entlassung aus dem Krankenhaus, halte ich den Kontakt, mache Hausbesuche so oft wie möglich”, erzählt Aladin Mujacic.

Mirnes freut sich über Aladins Besuch, zeigt ihm seine Arme: Sie funktionieren wieder. Der Achtzehnjährige wohnt auf dem Land, in Seljublje. Es geschah an einem dieser kalten Wintertage, im Januar. Sein Vetter Nedzad nahm ihn mit zum Holzfällen in den Wald. Mirnes Nisic erinnert sich: “Auf einmal gab es einen Riesenknall. Ich dachte noch: Jetzt ist die Kettensäge explodiert. Dann fiel ich um, mir wurde schwarz vor Augen. Nach zehn oder fünfzehn Minuten wachte ich wieder auf und verstand, was passiert war: eine Mine.”

Mirnes Mutter erinnert sich an jede einzelne Minute dieses düsteren Wintertages: “Ich war draußen auf dem Feld unterwegs, als ich eine Explosion hörte. Zuerst dachte ich: Da ist wieder mal ein Tier auf eine Mine getreten. Das passiert recht häufig hier bei uns und deswegen kennen wir alle dieses Geräusch. Zurück im Haus lud ich meine Schwester und Schwiegermutter zum Kaffeetrinken ein, erzählte von dem lauten Knall”, so Fatima Nisic.

Doch diesmal war es kein Reh. Die Mine verwundete Mirnes schwer an beiden Armen und seinen Vetter Nedzad an beiden Beinen. “Mein Vetter Nedzad bat mich, ihm das Bein abzubinden, um die Blutung zu stoppen. Doch ich konnte nicht wegen meiner Armverletzungen. Nedzad flehte mich an: Bleib bei mir, bis Hilfe kommt. Der Krieg ist seit fast zwanzig Jahren vorbei und diese Minen sind immer noch da, können jeden Moment explodieren, töten”, sagt Mirnes nachdenklich.

Nedzad starb wenig später im Krankenhaus. Mirnes bekam einen Teil seiner eigenen Beinmuskeln auf die Armwunde transplantiert. Aladin und seine Mutter halfen ihm, wieder Mut zu schöpfen, nach vorne zu blicken. Mirnes lernte erneut schreiben, seine Hand zu gebrauchen, den Arm zu beugen und zu strecken. Wochenlanges, monatelanges Training waren nötig. Heute lernt Mirnes am Küchentisch für seinen Führerschein, seine Mutter schaut ihm über die Schulter, wirft ein ermunterndes Wort ein. Ein halbes Jahr nach dem Unfall kann Mirnes wieder zupacken. Stolz gibt er Aladin Tipps zur Autoreparatur. Sein Berufstraum: Mechaniker. “Doch zuerst wirst Du Deine Schule beenden”, lächelt Mutter Fatima. Später wird Aladin vielleicht noch einmal helfen, wenn es darum geht, einen Kleinkredit aufzutreiben, um vielleicht eines Tages eine kleine Werkstatt zu gründen. Oder um bei der Jobsuche zu helfen. Als begeisterter Fan des runden Leders war Aladin vor seinem Minenunfall Langstreckenläufer – und auch hier, in seinem Beruf als Opferhelfer, bruacht Aladin einen langen Atem, Geduld, Stärke, Ausdauer. Minenopfer wie Mirnes brauchen Aladins Hilfe oft über Jahre hinweg, bis sie sich zurechtgefunden haben in ihrem neuen Leben.

Mirnes hat wieder Mut geschöpft. Doch die Opferhilfe in Tuzla sieht schwarz: nicht für Mirnes, sondern für Bosnien-Herzegowina. Das Land werde den Zeitplan zur Minenräumung wohl kaum einhalten können, meint der Direktor. “Bosnien steht vor einer ungeheuren Herausforderung: Bis 2019 sollen alle Minen geräumt sein. So steht es zumindest im ‘Nationalen Strategieplan zur Minenbeseitigung’. Doch es gibt ein Riesenproblem mit der Finanzierung, denn regionale und nationale Gebietskörperschaften Bosniens halten ihre Finanz-Zusagen nicht ein. Beispielsweise letztes Jahr, 2013 wurde von dem zugesagten Geld nur ein Viertel ausgezahlt”, sagt Amir Mujanovic von der gemeinnützigen Institution Landmine Survivors Initiatives (LSI).

Die Situation verschlimmerte sich im Frühling: Schwere Überschwemmungen und Erdrutsche verschoben ganze Minenfelder. Auf der früheren Frontlinie stehen Ruinen. Einige Häuser wurden renoviert, doch Minen sind immer noch überall, an Flussufern, auf Wiesen, in Wäldern… In Kovacica treffen wir uns mit den Minenräumern Zeljko, Dusko, Sanjin, Branislaw, Halid und ihren Kollegen. Das Achterteam ist eine verschworene Gemeinschaft, die Männer vertrauen einander blind. Jede Sekunde ihres Arbeitstages sehen sie einem tödlichen Risiko ins Auge. 200.000 Minen warten irgendwo da draußen, ein höllischer Job. Sanjin Matkovic, der für das Unternehmen Pro Vita aus Mostar arbeitet, sagt: “Ich möchte den Menschen ermöglichen, wieder zurückkehren zu können, dorthin, wo sie vor dem Krieg lebten. Na ja, und dann brauche ich eben Arbeit: Andere Jobs gibt es nicht.”

Seit Ende des Krieges wurden in Bosnien-Herzegowina fast 1700 Menschen von Munitionsresten und Minen verletzt oder getötet. Der Minenräumer entdeckt etwas, Metall im Boden, Sanjin ruft Team-Chef Dusko. Der Adrenalinspiegel schnellt in die Höhe. Dann die Entwarnung: Falscher Alarm, es war nur ein Stück Schrott. Die Suche geht langsam voran, unter der sengenden Sommersonne Bosniens schwitzen die Männer unter ihren schweren Schutzpanzern. Eine halbe Stunde können sie arbeiten, dann müssen sie Pause machen. Es geht um höchste Konzentration, um Zentimeterarbeit, um Geduld und Ausdauer.

Im Frühling veränderten etwa 5000 Erdrutsche die Landschaft. Dadurch änderte sich auch die Lage mancher Minenfelder. Teamleiter Dusko Skipina zeigt uns eines davon: “Das war ein ganz normales Feld, auf dem die Bauern ihr Heu mähten. Die schweren Regenfälle und Erdrutsche haben das Minenfeld von der früheren Frontlinie oben auf dem Hügel nach unten geschoben. Jetzt liegen die Minen irgendwo da drüben.”

Vor dem Krieg lebten 160 Familien in Kovacica. Heute sind es noch 18, erzählt uns einer der Rückkehrer. Der Bauer Stojan Stojanovic erinnert sich an die Brennholzsuche, an den Tag, an dem er dem Tod nahe kam, sehr nahe: zwanzig Zentimeter: “Ich war müde und setzte mich auf einen Holzblock, um zu rauchen. Die Zigarettenpackung fällt hin, ich will sie aufheben, sehe was Grünes, Seltsames, frage mich: was ist denn das, schiebe die Blätter weg – und da liegt eine Mine. Bis jetzt habe ich schon vier Minen gefunden – vier.” Zwei davon entdeckte er an der Stelle, an der jetzt Sanjin und die anderen Minenräumer arbeiten. “Ich bin froh, dass die jetzt hier sind”, meint Stojan und wirft einen Blick hinüber zum Waldrand. “Andererseits verstehe ich wirklich nicht, warum die erst jetzt kommen, vor zehn Jahren wäre die Suche einfacher gewesen.” Denn die Natur ist ein Problem für die Minenräumer: wuchernde Büsche und Bäume erschweren die Suche nach den Todesfallen.

In Sarajewo haben wir eine Verabredung in der staatlichen Koordinierungsstelle BHMAC. Mehrere Minensuchunternehmen beschuldigen den Direktor der Agentur: Er soll Schmiergeld genommen und bei der öffentlichen Auftragsvergabe getrickst haben. Sein Stellvertreter Ahdin Orahovac steht uns Rede und Antwort: “Seit unser Direktor verhaftet wurde, sehen wir uns einem extremen Druck ausgesetzt. Was soll ich sagen, hier bei uns lächelt inzwischen niemand mehr. Die Korruption schwebt wie eine dunkle Wolke über uns.”

Gleichzeitig verteidigt er sein Team: hier werde professionelle Arbeit geleistet. Die enormen Verzögerungen bei der Räumung der Minen könne man nicht BHMAC anlasten. Verantwortlich sei die Regierung, die ihre Finanzzusagen nicht einhalte. Und man dürfe die Dimension des Problems nicht aus den Augen verlieren: Bosnien-Herzegowina sei sogar weltweit gesehen eines der Länder mit dem schlimmsten Minenproblem, vergleichbar mit Afghanistan, Kambodscha…

Seit Jahren diskutiert Bosnien-Herzegowina über eine Gesetzesnovelle. Viermal scheiterte das neue Gesetz zur Minenräumung, konnte nicht verabschiedet werden. Kenner der bosnischen Polit-Szene meinen: hier werde ein echtes Problem wieder einmal zum Spielball der unfähigen Politiker-Kaste des Landes. Offenbar gibt es einige Parteien, die die zentrale Koordinierungsstelle in Sarajewo gerne zerschlagen, in den jeweiligen Landesteilen eigene Verwaltungsstellen stärken möchten. Hängen die Anschuldigungen gegen den BHMAC-Direktor damit zusammen? Oder geht es um persönliche Bereicherung? Die Liste der Minenräumunternehmen, die sich öffentlich über den BHMAC-Direktor beschwerten, ist lang. Forderte Dusan Gavran tatsächlich Geld als Gegenleistung für die Auftragsvergabe zur Minenräumung? Mehrere Wochen verbrachte er in Untersuchungshaft. Doch noch ist das Urteil nicht gefällt.

Während die Staatsanwaltschaft versucht, Licht in die dunklen Machenschaften zu bringen, unterhalten wir uns noch einmal mit Stojan und seiner Frau. Der Skandal ist Dorfgespräch auch in Kovacica. Die Menschen hier sind wütend, denn immer noch sind 1300 Quadratkilometer in Bosnien-Herzegowina minenverseucht. Auch hier in der Gegend starben Menschen, das Ehepaar verlor gute Freunde. “Ich selbst kann von zwei Fällen berichten: Ein Vater geht mit seinem Sohn in den Wald, die Mine tötet den Vater, der Sohn erleidet schwerste Verletzungen. Fall zwei: Drei meiner Freunde gehen zum Pilzesuchen, einer tritt auf eine Mine, er stirbt bei der Explosion”, erzählt Stojan Stojanovic trocken.

Hinter Stojans Haus trainiert Halid mit seinem Minensuchhund Ecos. In geraden Linien läuft er ein zehn Meter langes und zehn Meter breites Quadrat ab, die “Suchbox”, wie die Minenräumer das Areal nennen. Der Hund riecht den Sprengstoff in den Minen. Ecos Einsatz verringert das Risiko für die Minenräumer erheblich. Doch um die mühsame Suche per Hand kommt niemand herum. Gelegentlich kommt eine “Monstermaschine” zum Einsatz, gepanzert, dröhnend, im “Star-Wars-Look” erschüttert der Panzerwagen mit mechanischen Dreschflegeln den Boden, bringt Minen zur Explosion. Doch das funktioniert nur auf ebenen Feldern, nicht im Wald und Unterholz, hier müssen die Entminer ran, mit ihren Metalldetektoren und Handsonden.

Die chronische Unterfinanzierung hat zu einer absurden Situation geführt: Gerade einmal 500 Minensucher stehen in Lohn und Brot, während weit über tausend weitere arbeitslos sind.Würden diese hoch spezialisierten Arbeitskräfte eingesetzt, könnte Bosnien-Herzegowina womöglich doppelt oder dreifach so schnell von Minen geräumt werden.

Alle haben eine Pause verdient. Müde Gesichter, geteiltes Schweigen, die Gedanken schweifen ab – hin zu den Kollegen, die starben. Zeljko Pljevaljcic erzählt: “Ich habe einen Freund verloren, der starb. Andere Kollegen überlebten schwer verletzt und sind heute nicht mehr bei uns, weil sie sich nicht mehr aus eigener Kraft bewegen können.”

Und das Blutvergießen nimmt kein Ende: Seit Jahresbeginn gibt es vierzehn weitere Minenopfer zu beklagen, vier starben, darunter auch ein Kind.

Die Todesfallen in den bosnischen Wäldern warten geduldig auf weitere Opfer – so wie sie 20 Jahre auf Nedzad gewartet haben.

Wird Bosnien 2019 von Landminen frei sein? Amir Mujanovic, Geschäftsführer der gemeinnützigen Organisation Landmine Survivors Initiatives aus Tuzla, erklärt uns die Hindernisse, mit denen Bosnien-Herzegowina zu kämpfen hat: Schätzungsweise immer noch 200.000 Minen liegen in der Erde versteckt, aber es fehlt sowohl das Geld als auch der politische Wille, sie so schnell wie möglich zu räumen. Um das vollständige Interview (in englischer Sprache) zu hören, benutzen Sie bitte diesen Link.
Bonus interview: Amir Mujanovic, executive director of Landmine Survivors Initiative

Bosnien-Herzegowina steht bei seinem Kampf gegen die Landminen vor großen Schwierigkeiten. Was läuft falsch? In Sarajevo traf euronews Ahdin Orahovac, den stellvertretenden Direktor der Regierungsorganisation Mine Action Center (BHMAC). Um das vollständige Interview (in englischer Sprache) zu hören, benutzen Sie bitte diesen Link.
Bonus interview: Ahdin Orahovac, deputy director of Bosnia’s Mine Action Centre

Diesen Artikel teilenKommentare

Zum selben Thema

20 Jahre Kampf gegen Landminen

Hat Frankreich aus den Terroranschlägen von 2015 seine Lehren gezogen?

Deutschland im Energie-Wahlkampf: Wo weht der Wind des Wandels?