Türkei: Was bedeutet die geplante Verfassungsreform von Präsident Erdogan?

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Von Euronews
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Die Türkei wird am 16. April über die Verfassungreform von Präsident Recep Tayyip Erdogan abstimmen, die ein Präsidialsystem in der Türkei einführen soll. Hier erklären wir die vorgesehenen Änderungen und Hintergründe.

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Die Türkei wird am 16. April über die Verfassungreform von Präsident Recep Tayyip Erdogan abstimmen, die ein Präsidialsystem in der Türkei einführen soll. Dies wäre eine der einschneidensten Veränderungen in der politischen Organisation des Landes seit der Ausrufung der Republik Türkei am 29. Oktober durch Atatürk.

Kritker befürchten eine Diktatur, während die Befürworter der Reform betonen, das geplante Präsidialsystem würde der Türkei mehr Stabilität bringen. Hier erklären wir die vorgesehenen Änderungen und Hintergründe.

Was sieht die Verfassungsreform vor?

  • Der Präsident wird nicht nur Staats-, sondern auch Regierungschef. Das Amt des Ministerpräsidenten entfällt.
  • Der Präsident darf künftig einer Partei angehören, was bisher nicht erlaubt war. Er wird nicht mehr vom Parlamentspräsidenten, sondern von einer vom Präsidenten zu bestimmenden Anzahl Vizepräsidenten vertreten.
  • Der Präsident ist für die Ernennung und Absetzung seiner Stellvertreter und der Minister zuständig. Stellvertreter oder Minister können nicht per Misstrauensvotum abgesetzt werden, lediglich Untersuchungen sind zugelassen.
  • Der Präsident kann zu Themen, die exekutive Regelungen betreffen, Dekrete erlassen, die mit Veröffentlichung im Amtsanzeiger in Kraft treten. Eine nachträgliche Zustimmung durch das Parlament ist nicht vorgesehen.
  • Der Präsident kann das Parlament auflösen und Gesetzesvorhaben mit seinem Veto blockieren. Zwar kann er auch selbst abgesetzt werden, dafür ist aber eine Dreifünftel-Mehrheit notwendig und es hätte ebenfalls eine Auflösung des Parlaments zur Folge
  • Die Amtszeiten des Präsidenten bleiben auf zwei beschränkt. Die Regierungspartei AKP hat aber eine Hintertür eingebaut: Sollte das Parlament in der zweiten Amtsperiode des Präsidenten Neuwahlen beschließen, kann der Präsident noch einmal kandidieren
  • Parlament und Präsident werden künftig am selben Tag für die Dauer von fünf Jahren vom Volk gewählt. Die zeitgleiche Wahl erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass der jeweilige Präsident über eine Mehrheit im Parlament verfügt.
  • Der Präsident bekommt auch mehr Einfluss auf die Justiz: Im Rat der Richter und Staatsanwälte kann der Präsident künftig vier der 13 Mitglieder bestimmen, das Parlament drei weitere.

Welche Argumente haben die Befürworter der Reform?/h3>

Erdogans Unterstützer sehen die Pläne als Garant für Stabilität in einer Zeit des Aufruhrs. Die Türkei sieht sich von Terroranschlägen des sogenannten Islamischen Staates und extremistischen Kurdengruppierungen bedroht, außerdem wüten Kriege im benachbarten Syrien und Irak.

Ihre Argument: Die Reform bringe mehr Sicherheit, außerdem sei sie eine Chance, die Verfassung der Türkei zu modernisieren. Die Entscheidungsfindung würde verbessert, da Konflikte zwischen Präsident und Premier vermieden würden.

Außerdem sei das geplante Präsidialsystem vergleichbar mit dem der USA und Frankreich – wobei es “hier doch einige Unterschiede gibt:“http://www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-worueber-recep-tayyip-erdogan-sein-land-abstimmen-lassen-will-a-1130689.html”

Welche Argumente gibt es gegen die Reform?

Das Argument der Stabilität ist nach Ansicht von Dr. Esra Özyürek, Professorin für Türkeistudien am European Institute der London School of Economics, wenig überzeugend. Entscheidend ist, dass die Verfassungsreform für die Türkei keine “Checks und Balances” wie in den USA oder eine starke Justiz wie in Frankreich vorsieht.

“Erdogan wird Staatsoberhaupt und Regierungschef in einem und bekommt die Vollmacht über die Justiz. Außerdem bekommt er die Macht, Dekrete zu erlassen, was das Parlament eigentlich überflüssig macht,” so Dr. Özyürek

Warum jetzt?

In der Türkei wird schon lange über die Einführung eines Präsidentschaftssystems gesprochen. 2007 wurde ein semipräsidentielles Regierungssystem eingeführt, seitdem wird der Präsident direkt vom Volk und nicht vom Parlament gewählt. Erdogan wurde damit der erste direkt gewählte Präsident der Türkei im Jahr 2014.

Doch Erdogan hat den Wunsch, ein vollpräsidentielles System einzuführen, und der gescheiterte Putschversuch letztes Jahr gab ihm laut Experten den Anlass, den er dafür brauchte.

“Nach dem Putschversuch sagte Präsident Erdogan, dass dies eine gottgegebene Gelegenheit sei”, erklärt Dr. Özyürek. “Er nutzte den Putschversuch als Vorwand, um die Demokratie weiter einzuschränken und die Oppositionen mit eiserner Faust zu bekämpfen.”

Seit dem Putschversuch im Juli vergangenen Jahres wurden laut turkeypurge.com: //turkeypurge.com/ 46.875 Menschen verhaftet, darunter 162 Journalisten, 4.070 Richter und Staatsanwälte und 7.316 Akademiker entlassen.

Wie ist die Stimmung in der Türkei vor dem Referendum?

Nach harten parlamentarischen Debatten über die Verfassungsreform, werden die Menschen nun von der Regierung dazu gedrängt, der Reform zuzustimmen, erklärt Brett Wilson, Experte für türkische Geschichte an der Central European University in Budapest.

“Aber viele wissen nicht wirklich, ob sie dieses Referendum billigen sollten”, sagte er. “Das zeigt auch die Tatsache, dass die Regierung eine sehr aggressive Sprache verwendet und versucht, die Menschen zu beschämen oder sogar zu bedrohen, dass sie “Ja” stimmen müssen und ein “Nein” keine patriotische Option ist.”

“Einige Imame, die Staatsangestellte sind, raten ihren Gemeindemitgliedern mit “Ja” zu stimmen”, sagte Dr. Özyürek. “Und Leute, die Broschüren für das “Nein” verteilen werden verhaftet. Fernsehstars, die öffentlich erklären mit “Nein” abzustimmen, werden unter Druck der Regierung gefeuert. Hier herrscht keine Atmosphäre freier Wahlen, wo verschiedene Positionen frei und fair verteidigt werden können.”

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