Reform der Fiskalregeln: ein neues Wachstumsmodell für Europa?

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Von Efi Koutsokosta, Guillaume Desjardins
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In dieser Folge von Real Economy bezeichnet EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni das fiskalische Regelwerk der EU als veraltet und reformbedürftig.

Der neue EU-Wirtschaftkommissar Paolo Gentiloni hat das fiskalische Regelwerk der EU als veraltet und angesichts der gegenwärtigen Ära des geringen Wachstums als überholungsbedürftig bezeichnet. Gibt es eine gemeinsame Basis für eine Reform? Das ist das Thema dieser Folge von Real Economy.

Viele Experten, EU-Finanzminister und EU-Beamte fordern eine Reform des fiskalischen Regelwerks. Euronews-Reporter Guillaume Desjardins recherchierte vor Ort, warum Deutschland unter Druck steht, mehr auszugeben. Und wir fragen den neuen EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni, ob es Zeit ist, die finanzpolitischen Regeln des Blocks zu lockern.

EU-Rahmen für die Fiskalpolitik

In Europa gibt es derzeit keine Länder mit einem übermäßigen Haushaltsdefizit (deutlich über 3 Prozent des BIP). Aber teilweise ist die Staatsverschuldung immer noch hoch - darunter Frankreich, Belgien, Italien, Spanien und Griechenland mit einer Schuldenquote von nahezu oder über 100 Prozent des BIP.

Die Europäische Kommission ist dafür verantwortlich, dass die öffentlichen Ausgaben und die Kreditaufnahme der EU-Mitgliedsstaaten bestimmte Grenzen nicht überschreiten. Aber sie kann kein Land zu Investitionen zwingen.

Angesichts des steigenden Investitionsbedarfs zur Ankurbelung der Binnennachfrage stehen einige europäische Regierungen wie Deutschland, die Niederlande und Finnland unter Druck, ihre Ausgaben zu erhöhen, da sie als einzige über den finanzpolitischen Spielraum dafür verfügen. Finanzpolitischer Spielraum ist wie Geld auf der Bank zu haben. Das heißt, diese Länder können ihre Ausgaben erhöhen oder die Steuern senken, ohne die Stabilität der öffentlichen Finanzen längerfristig zu untergraben.

Nachdem 10 Jahre lang die öffentlichen Ausgaben im Mittelpunkt gestanden hatten, stellt sich die Frage, ob zu viel Sparen das Wirtschaftswachstum bedrohen könnte. Guillaume Desjardins besuchte Deutschland. Es gehört zu den Ländern, die aufgefordert sind, mehr zu investieren.

Deutschland hat 2019 einen Haushaltsüberschuss von 1,2 Prozent seines BIP erwirtschaftet, d.h. etwa 13,5 Milliarden Euro. Dieser Notgroschen wurde durch eine sehr strenge Finanzpolitik in den vergangenen Jahren angehäuft. Zu streng laut einigen Stimmen.

Unter anderem der Internationale Währungsfonds und die Europäische Kommission haben Deutschland in jüngster Zeit aufgefordert, seinen Überschuss zu reduzieren, um die Wirtschaft anzukurbeln.

"Es gibt keinen Grund, warum ein Investitionsbudget von 1 oder gar 2 Prozent des jährlichen BIP nicht über die Aufnahme von Schulden finanziert werden sollte", meint Andrew Watt, Ökonom bei der Hans-Böckler-Stiftung. "Diese Investitionen würden einigen anderen europäischen Ländern helfen, denn Deutschland würde natürlich auch fehlende Dinge importieren."

Beispiel für mangelnde Investitionen: veraltetes Schienennetz

Ein Beispiel für fehlende Investitionen in Deutschland ist das veraltete Schienennetz. 2019 prangerten mehrere Berichte einen "enormen Rückstand bei der Erneuerung der Eisenbahninfrastruktur" und notwendige Investitionen in Höhe von fast 50 Milliarden Euro in diesem Sektor an. Torsten Westphal, Vorsitzender der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG), sagt:

"Da geht es wirklich nur darum, diesen Rückstau in der Infrastruktur zu beseitigen, das Gleis wieder dorthin zu bringen, wo es hin muss. Ganz konkret geht man davon aus, dass in den nächsten Jahren die Fahrgastzahlen massiv ansteigen werden. Dazu bedarf es auch eines weiteren Aus- und Neubaus der Infrastruktur. Gleiches gilt für den Güterverkehr. Auch dort soll es eine massive Verlagerung geben."

Die deutsche Regierung und die Deutsche Bahn haben vereinbart, in den nächsten zehn Jahren 86 Milliarden Euro für die Instandhaltung und Modernisierung der Schiene auszugeben.

"Die Schiene ist nur einer von vielen Sektoren in Deutschland, denen es an öffentlichen Investitionen mangelt. Die 86 Milliarden Euro für die Bahn sind ein erster Schritt, der Arbeitsplätze schaffen, den Schienenverkehr zwischen Deutschland und seinen Handelspartnern fördern und das Wachstum ankurbeln könnte", so euronews-Reporter Guillaume Desjardins. "Dazu eine Maßnahme für mehr Umweltschutz: Bis 2030 soll die Zahl der Fahrgäste verdoppelt werden."

EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni drängt auf Veränderungen

In Brüssel sprach euronews-Reporterin Efi Koutsokosta den neuen EU-Wirtschaftskommissar und ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten Paolo Gentiloni, der auf Veränderungen drängt.

Euronews:
Herr Kommissar, vielen Dank, dass Sie bei uns sind. Es gibt eine Debatte über notwendige Reformen des finanzpolitischen Regelwerks. Warum besteht ein solcher Bedarf? Was steht im Moment auf dem Spiel?

Paolo Gentiloni, EU-Wirtschaftskommissar:
Diese Regeln wurden in der Zeit der gefährlichsten und härtesten Wirtschaftskrise, die Europa nach dem Krieg erlebt hat, entworfen. Jetzt befinden wr uns in einer anderen Phase. Wir blicken auf mehr als sechs Jahre anhaltendes Wirtschaftswachstum zurück. Aber dieses Wachstum verlangsamt sich. Wir wollen keine Revolution. Aber meiner Meinung nach sollten diese Regeln an den neuen Rahmen und an diese neue Situation angepasst werden.

Euronews:
Bedeutet das eine Lockerung der Finanzpolitik. Oder stehen die finanzpolitische Regeln selbst infrage?

Paolo Gentiloni:
Nein, ich glaube nicht, dass das Ergebnis eine Lockerung oder Diskussion der finanzpolitischen Ziele sein sollte. Übrigens sind die finanzpolitischen Ziele in unseren Verträgen festgeschrieben, die berühmten 3 bzw. 60 Prozent. Das kann man nicht einfach wechseln wie ein Kleid. Es geht um drei verschiedene Ziele und Vorgaben: Erstens sollten diese Regeln einfacher umzusetzen sein, denn sie werden von Jahr zu Jahr komplexer. Zweitens sollten wir beispielsweise in Perioden des geringen Wachstums, wie gerade jetzt, zu einer expansiveren Finanzpolitik beitragen, und drittens müssen wir Investitionen fördern.

Euronews:
Aktuell hat die EU-Kommission das Recht, einige Regierungen zur Begrenzung der Ausgaben zu zwingen, aber sie kann nicht das Gegenteil tun. Sollte sich das ändern? Sind Sie bereit, die Hardliner davon zu überzeugen, ihre Einstellung zu ändern?

Paolo Gentiloni:
In einer Periode wie der jetzigen mit einem sehr geringen Wachstum, empfiehlt die Europäische Kommission seit mehreren Jahren, dass Länder mit einem finanzpolitischen Spielraum diesen für Investitionen nutzen sollten. Diese investitionsfreundliche Haltung würde sich nicht nur auf jeweilige Land auswirken, sondern hätte einen Effekt auf die gesamte Europäische Union.

Euronews:
Sie sind also der Meinung, dass all die grünen Investitionen, die von den Mitgliedsstaaten gefordert werden, von den Defizitverfahren ausgeschlossen werden sollten?

Paolo Gentiloni:
Solch ein Ausschluss ist vielleicht zu einfach, um zu beschreiben, wo es hingehen soll. Meiner Meinung nach sollten wir einige Regel-Klauseln überprüfen, insbesondere in Bezug auf die Flexibilität, um Investitionen zu erleichtern.

Euronews:
Wann erwarten Sie realistischerweise eine Einigung darüber?

Paolo Gentiloni:
Ich denke, dass wir nach dem Sommer Schlussfolgerungen ziehen und Vorschläge machen werden.

Euronews:
Sie glauben also, dass sich die Mitgliedsstaaten auf einen Kompromiss für eine endgültige Entscheidung einigen werden?

Paolo Gentiloni:
Ja. Ohne die Überbrückung von Differenzen, ohne Kompromisse, gehen wir nirgendwo hin.

Herr Gentiloni sprach sich klar für vereinfachte finanzpolitische Regeln aus, um neuen Herausforderungen wie dem Klimawandel oder der Notwendigkeit, das Wachstum zu beschleunigen, gerecht zu werden. Aber die größte Herausforderung bleibt die gleiche: die unterschiedlichen Ansätze der Mitgliedsstaaten.

Cutter • Nicolas Coquet

Weitere Quellen • Produktion: Fanny Gauret, Damien Girier; Kamera: Christophe Obert, Pierre Holland, Marc Sarrado; Motion Design: NEWIC

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