Exklusivgespräch mit Shimon Peres: "Siedlungspläne sind Provokation"

Exklusivgespräch mit Shimon Peres: "Siedlungspläne sind Provokation"
Von Euronews
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In dieser Ausgabe von “The Global Conversation” ist euronews zu Besuch im Präsidentenpalast in Jerusalem, um mit dem israelischen Präsidenten Shimon Peres zu sprechen.

Jon Davies, euronews
Ich möchte Sie zunächst nach Ihrer Meinung fragen zu den jüngsten Äußerungen des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan. Er hatte den Zionismus mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit gleichgesetzt. Was sagen Sie zu diesen Äußerungen?

Shimon Peres
Ich bedauere das außerordentlich. Das beruht auf Ignoranz. Es stachelt zum Hass auf. Es war unnötig und entbehrt jeglicher Grundlage.

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Die Beziehungen mit der Türkei waren in den letzten Jahren nicht leicht. Das Klima zwischen der Türkei und Israel hat sich sogar noch verschlechtert. Sind die Äußerungen Teil dieses Prozesses?

Shimon Peres
Grundsätzlich glaube ich, dass die Menschen in der Türkei, wie in Israel, Frieden und Verständigung wollen. Sie ziehen keine lange Schlussfolgerungen aus der Vergangenheit. Es ist für niemanden leicht. Aber wir unterstützen mit aller Kraft den EU-Beitritt der Türkei und wir waren bei vielen Gelegenheiten hilfreich. Ich selbst habe viel Dank für diese Bemühungen erfahren. Ich denke heutzutage ist ein vereintes Europa nicht nur ein christliches Europa. Auch der Nahe Osten, so wie er ist, ist, meiner Meinung nach, keine rein muslimische Region. Ich denke, wir leben in einer Welt der Unterschiede, nicht in einer Welt der Ähnlichkeiten. Demokratie bedeutet meiner Ansicht nach, nicht nur gleich zu sein, sondern auch das gleiche Recht zu besitzen, unterschiedlich zu sein. Und eine Person, die das nicht begreift, versteht nicht, was vor sich geht und wie die Zukunft unserer Welt aussieht.

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Ist es das, was Sie den europäischen Staats- und Regierungschefs über die Türkei sagen werden?

Shimon Peres
Nein, mit denen sollte ich die Beziehungen oder Probleme besprechen, welche Europa und den Nahen Osten verbinden. Und Europa kann dabei eine wichtige Rolle spielen. Das tat es in der Vergangenheit und das kann es weiterhin tun, noch mehr und besser.

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Ein eher besorgniserregender Bericht wurde in der letzten Woche veröffentlicht, verfasst von europäischen Diplomaten. Der Bericht war für Brüssel bestimmt und kam zu dem Schluss, der israelische Siedlungsbau in den besetzten Gebieten sei die größte Bedrohung für den Aufbau eines palästinensischen Staates, die größte Bedrohung für eine Zwei-Staaten-Lösung. Wenn Sie die europäischen Staats- und Regierungschefs treffen, werden Sie vielleicht einiges tun müssen, sie zu überzeugen, dass alles gut ist in Israel.

Shimon Peres
Wir haben nicht nur einer Zwei-Staaten-Lösung zugestimmt, sondern mehr oder weniger auch der Art und Weise, wie sie erreicht werden soll. Die Zwei-Staaten-Lösung hängt unmittelbar mit der Siedlungsfrage zusammen. Wir stimmten bei den Gesprächen, die in Washington stattfanden, unter der Leitung von Präsident Clinton, einem Plan zu, wonach es drei Gebiete für Siedlungen oder Siedler geben wird im Westjordanland. Die Palästinenser sollen dafür entsprechend territorial entschädigt werden. Ich teile die sehr pessimistische Sicht nicht, dass die gegenwärtige Situation eine richtige Lösung verhindert. Meiner Ansicht nach denken wir immer, es gebe mehr Probleme als Lösungen. Aber wenn Sie sich die Geschichte anschauen, sind die Probleme am Ende verschwunden, nur die Lösungen sind übriggeblieben.

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Der Siedlungsbau in der Zone E1 ist, meiner Meinung nach, für diejenigen Palästinenser besonders ärgerlich, die sagen, dass eben genau dieses Stück Land für eine Zwei-Staaten-Lösung bedeutsam ist.

Shimon Peres
Nun, auch da mag es Meinungsverschiedenheiten geben. Aber ich denke, die israelische Regierung hat nicht angekündigt, sie werde anfangen zu bauen. Meiner Meinung nach hat die Regierung lediglich mitgeteilt, sie plane zu bauen. Und zwischen Planen und Bauen gibt es einen Unterschied, da gibt es eine Lücke. Es hängt davon ab, ob wir die direkten Verhandlungen wieder aufnehmen. Wenn das geschieht, denke ich, kann man da auch eine vernünftige Lösung finden.

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Es gibt einen Unterschied zwischen dem Planen und dem tatsächlichen Bauen. Aber das Planen könnte als Provokation angesehen werden, als aggressiver Akt. Als ob man sagt: “Das haben wir vor. Ihr mögt es nicht, aber wir planen es trotzdem.”

Shimon Peres
Nun ich denke die Ankündigung der Pläne war eine Reaktion auf den einseitigen Antrag der Palästinenser auf Anerkennung bei den Vereinten Nationen. Ich stimme Ihnen zu, dass das ein wenig provokativ war. Aber Israel sieht den einseitigen UN-Antrag als eine Art Provokation. Wir müssen das beenden, das sehe ich auch so. Wenn das nicht aufhört, meine ich, wird es einen Austausch von Provokationen geben und, das ist unnötig.

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Und wo wird das enden, Herr Präsident.

Shimon Peres
Ich denke, Sie sollten fragen, “wo wird es beginnen”. Es hat längst aufgehört. Es gibt meiner Ansicht nach mit der neuen israelischen Regierung echte Chancen, wieder Verhandlungen aufzunehmen. Ich habe das Gefühl, beide Seiten haben eine gewisse Reife erreicht. Sie sehen ein, dass mit neuen Verhandlungen nicht alle Probleme gelöst werden. Neue Verhandlungen bedeuten, all das zusammenzufassen, worüber bereits Einigkeit besteht und nach Lösungen zu suchen.

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Wie fühlen Sie sich 20 Jahre nach dem Friedensvertrag von Oslo, an dessen Entstehen sie so maßgeblich beteiligt waren. Noch immer gibt es viele ungelöste Probleme, nicht so viele wie vor 20 Jahren aber viele davon sind die Gleichen geblieben.

Shimon Peres
Ich wünschte mir, es ginge schneller. Aber ich habe gelernt, geduldig zu sein – ohne die wichtigsten Ziele aufzugeben. Ich weiß, dass es schwieriger sein kann, als man denkt, an einem bestimmten Punkt anzukommen. Es kann länger dauern als es richtig oder vernünftig ist. Aber lasse das Ziel nie aus den Augen – und ich gebe nicht auf. Ich bin nicht beeindruckt. Aber ich bedaure, dass es so lange dauert. Doch das ist kein Grund aufzugeben. Ich bin überzeugt, weder wir noch die Palästinenser haben eine echte Alternative, es gibt keine andere Lösung.

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Die Gegenwart verändert sich ständig, das gilt besonders für diese Region. In den letzten zwei Jahren wurden Regierungen rund um Israel gestürzt. Das politische Klima bei Ihren Nachbarn verändert sich. Wie beeinflusst das Israels Einstellung?

Shimon Peres
Wenn Sie sehen, was im Nahen Osten passiert, womit soll man das vergleichen? Mit der Vergangenheit oder mit der Zukunft? Wenn das aus der Vergangenheit resultiert, dann haben wir verloren. Aber wenn das ein Aufbruch in die Zukunft ist, dann werden wir gewinnen. Ich denke, all diese Veränderungen haben sich nicht wegen der Vergangenheit ereignet, sondern weil sich die Welt weiterentwickelt hat. Weil sie globaler, offener und wissenschaftlicher geworden ist. Meiner Ansicht nach ist die Technik heute wichtiger als die Strategien. Ich schaue, wer führt diese neue Revolution, diese Aufstände, in der arabischen Welt an. Es sind vor allem junge Menschen. Präsident Obama fragte mich vor den Wahlen, ob ich ihm einen Rat geben könnte. Ich sagte “ja”. Wenn jemand zu Dir kommt und sagt, die Zukunft gehört den jungen Menschen, schmeiß ihn raus. Sag ihm, die Gegenwart gehört den jungen Menschen. Die Zukunft gehört Leuten wie mir, die Zeit und Erfahrung haben. Ich glaube, die Gegenwart gehört den Jungen. Ich glaube jede Regierung, ob gewählt oder nicht, muss Lösungen für die Wirklichkeit finden. Sie muss sich um Arbeit kümmern, um Nahrung, Wohnraum und darum, dass man die Freiheit genießen kann. Sie kann da nicht aufgeben.

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Erleichtert das den Friedensprozess, dass die Macht in den Händen der Jungen liegt und nicht in den Händen der alten Diktatoren wie Ben Ali und Mubarak?

Shimon Peres
Das hängt nicht miteinander zusammen. Es mag als Entschuldigung gelten, aber es ist nicht der Grund. Was immer in Tunesien passiert ist, oder in Ägypten oder im Jemen oder in Syrien, hat nichts mit Israel zu tun. Die Probleme existierten in den Ländern. Also beten wir für Frieden, nicht nur zwischen uns und den Arabern. Sondern für Frieden in der gesamten Region.

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Aber das kann ja jetzt nicht alles sein, Herr Präsident. Ich schätze natürlich Ihr Gebet für Frieden in Syrien auf einer humanitären Ebene, aber praktisch gesehen ist das ja direkt vor Ihrer Haustür.

Shimon Peres
Wissen Sie, wir haben Präsident Assad für einen vernünftigen Mann gehalten, der an einer britischen Universität studiert hat. Entsprechend schockiert waren wir dann, als wir herausfanden, dass dieser angeblich so vernünftige Mann versuchte, einen Atomreaktor zu bauen. Ich denke, jeder ist erleichtert, dass zumindest diese nukleare Option gestoppt wurde. Stellen Sie sich vor, Assad hätte sowohl nukleare als auch chemische Waffen. Mein Gott! Und er geht ohne Gnade gegen sein eigenes Volk vor. Nun, wir können nicht eingreifen, weil sonst jeder sagen würde, wir würden in Syrien einmarschieren. Ich glaube, wer das Problem lösen und das Blutvergießen in Syrien beenden muss, ist die Arabische Liga. Syrien ist ein arabisches Land. Die Araber wissen viel besser, was dort vor sich geht. Wir anderen sind da Fremde. Ich denke, die Arabische Liga sollte eine Übergangsregierung einsetzen, für ein oder zwei Jahre. Das sollte von den Vereinten Nationen unterstützt werden, um das Blutvergießen sofort zu beenden. Und die Araber, die ich sehr respektiere, müssen verstehen, dass sie ihre Probleme selbst lösen müssen und nicht erwarten dürfen, dass andere das für sie tun. Denn wenn andere versuchen würden, sie zu lösen, kämen sofort die Vorwürfe, dies sei eine Invasion von außen. Es ist höchste Zeit für die arabische Welt, das syrische Problem in die eigenen Hände zu nehmen und es friedlich und intelligent zu lösen. Die Afrikaner versuchen etwas ähnliches in Mali, und zwar völlig zu Recht.

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Sie haben die Atomfrage angesprochen. Ein anderer Ihrer Nachbarn hier in der Region, der damit weltweit Besorgnis erregt, ist der Iran. Es gab beunruhigende Aussagen über einen möglichen Präventivschlag gegen den Iran. Würden Sie das gutheißen, würden Sie einen Militärschlag gegen eine iranische Atomanlage unterstützen?

Shimon Peres
Nun, man muss das ins richtige Verhältnis rücken. Unsere Politik gegenüber dem Iran ist es zunächst einmal, nicht zu schießen und alle nichtmilitärischen Mittel auszuschöpfen. Wirtschaftssanktionen, politischen Druck, sogar Verhandlungen. Ich denke, was fälschlicherweise vergessen wurde, ist der Aufruf für die Menschenrechte, der 1975 in Helsinki beim Treffen zwischen der Sowjetunion und den USA verfasst wurde. Damals kamen die Menschenrechte plötzlich auf den Tisch als eines der wichtigsten Themen von internationalem Rang. Das wahre Opfer dieser ganzen derzeitigen Iran-Geschichte ist das iranische Volk. Sie sind es, die leiden. Sie haben nicht genug zu essen, sie können ihre Kranken nicht pflegen, falls sie etwa an Krebs leiden. Und wofür das ganze? Weil eine kleine Gruppe religiöser Anführer Ambitionen entwickelt hat und ein religiöses Reich aufbauen will. Als allererstes sollte man also fordern, dass die Präsidentschaftswahlen im Juni frei sein sollen und dass sich die Anführer nicht wieder selbst wählen.

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Aber das Nuklearprogramm ist Anlass zur Sorge.

Shimon Peres
Sicher, und die mächtigsten Staats- und Regierungschefs unserer Zeit, angeführt von Obama, der eine Koalition mit den Europäern aufgebaut hat, und sogar Putin sagen, dass wir keine Atommacht Iran zulassen dürfen. Das wäre eine Gefahr für die ganz Welt, nicht nur für Israel. Ich denke, wenn die Welt wirklich versucht, den Iran zu stoppen, und wenn das auf friedlichem Wege geschehen kann, dann ist das sicher besser.

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Und wenn nicht?

Shimon Peres
Wenn nicht, dann möchte ich mit Obamas Worten sagen, dass alle anderen Optionen auf dem Tisch liegen. Die Iraner haben zwei Auslandsabteilungen. Die eine ist die Hisbollah im Libanon, die andere ist die Hamas in Gaza. Das Ergebnis von Hisbollah-Aktionen ist tragisch für den Libanon. Wir hatten immer gehofft, und hoffen es bis heute, dass der Libanon so etwas wie die Schweiz des Nahen Ostens werden könnte, ein multikulturelles Land. Die Menschen lebten hier friedlich zusammen. Aber die Hisbollah hat das Land ruiniert und die Menschen gespalten. Sie hat 20 Terroranschläge verübt, der letzte war in Bulgarien, fünf Israelis kamen dort durch die Hisbollah ums Leben. Und vor ein paar Tagen gab es erneut einen Attentatsversuch in Zypern. Es gab 20 Terrorakte der Hisbollah. Sie haben den Libanon umgebracht. Dieses Land ist auf vielerlei Weise eine europäische Schöpfung, und ich denke, Europa muss den Libanon retten. Wir werden mit der Hisbollah fertig, die Libanesen nicht.

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Außerhalb Israels sieht es so aus, als habe sich das Verhältnis zwischen den USA und Israel verschlechtert. Stimmt das, sehen Sie das genauso? Hat die Kommunikation zwischen dem Weißen Haus und der Knesset nachgelassen? Wie ist das Verhältnis zu den USA?

Shimon Peres
Zunächst einmal: Ich schätze Präsident Obama und die Unterstützung, die er Israel für seine Sicherheit hat zukommen lassen, aufs höchste. Er hat eine großartige Arbeit gemacht, und wir sind sehr dankbar. Mein Mentor war Ben Gurion, und er hat mir eine Sache beigebracht: Beurteile Menschen nach ihren Taten, nicht nach den Gerüchten, die sie umgeben. Wenn man sich also die Taten von Obama anschaut, dann habe ich die höchste Wertschätzung für das, was er tut.

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Es gibt viel Kritik an den israelischen Siedlungen und den Plänen für Ost-Jerusalem. Und diese Kritik kommt auch aus dem Weißen Haus.

Shimon Peres
Das ist eine bekannte Position des Weißen Hauses und sie stammt nicht erst von Präsident Obama. Das ist einer der Streitpunkte zwischen uns und den USA, aber wir werden uns zusammensetzen, und dann werden wir sehen, wie wir versuchen, das Problem zu lösen. Wissen Sie, es gibt da eine etwas falsche Vorstellung von Jerusalem. Das alte Jerusalem, dass auch das heilige Jerusalem genannt wird, ist zwei Quadratkilometer groß, auch wenn das niemand glauben will. Auf diesen zwei Quadratkilometern finden Sie gut einhundert heilige Stätten. Und niemand von uns würde wollen, dass eine Religion über die Stätten anderer Religionen herrschte. Aber auch hier sind wir einfallsreich, wir können miteinander reden und die Vergangenheit Vergangenheit sein lassen. Wir müssen nach vorn schauen und die verschiedenen Sichtweisen respektieren, um eine vernünftige Lösung zu finden.

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Herr Präsident, meine letzte Frage für Sie. Gibt es irgendetwas, was Sie nachts nicht schlafen lässt?

Shimon Peres
Gelegentlich die Sicherheit Israels, aber nicht immer. Denn die Dinge ändern sich so schnell, und die Sicherheitsfrage ist nichts, was man einmal regelt und dann ist es für immer erledigt. Wir haben neue Waffen, wir haben neue Strategien, wir haben neue Gegner. Und ich weiß, die beste Lösung für diesen Krieg ist Frieden. Aber ich versuche, meine vier, fünf Stunden pro Nacht so gut zu schlafen, wie ich kann, damit ich tagsüber munter und frisch bin und klar denken kann.

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Präsident Shimon Peres, vielen Dank für Ihre Zeit.

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