"Charge Mentale" ist in Frankreich ein Begriff für ein Phänomen, das sehr viele Frauen belastet. Eine Aktivistin erklärt uns, warum.
So viele Dinge zu erledigen, besser eine To-Do-Liste machen: Paket bei der Post abholen, Schule der Kinder anrufen, ein Paket bei der Post abholen, für's Abendessen einkaufen, das Bad putzen, eine Wäsche machen, weil am Wochenende Besuch kommt und die Laken gewaschen werden müssen...
Kommt Ihnen das bekannt vor? Dann sind Sie wahrscheinlich eine Frau, die mit einem Mann zusammenlebt, den gemeinsamen Haushalt aber größtenteils allein managt. Französische Feministinnen haben dafür in den 1980ern einen Begriff gefunden: die Charge Mentale, was übersetzt so viel heißt, wie "gedankliche Last" und das Phänomen beschreibt, dass Frauen in geteilten Haushalten meistens für die Planung desselbigen zuständig sind. Selbst wenn der Mann Aufgaben übernimmt, sind sie oft diejenigen, die vorausplanen und die Arbeit verteilen. Sie sind im Kopf also ständig damit beschäftigt, sich zu organiseren. Entspannung gibt es selten.
Charge Mentale: Hast du dran gedacht?
Auch Coline Charpentier kennt das und hatte irgendwann genug davon. Die französische Geschichtslehrerin beschloss, ihre eigenen Erfahrungen und die ihrer Freundinnen auf Instagram zu teilen. Ihr Konto "T'as pensé `à", auf Deutsch: "Hast du dran gedacht?", hat mittlerweile 115.000 AbonnentInnen. Einer der Einträge lautet: "Charge Mentale bedeutet für mich, dass ich mir immer Zeit nehme, um die Dinge zu erledigen, während du die Dinge dann erledigst, wenn du Zeit hast." "So wahr", lautet einer der Kommentare.
Charpentier veröffentlichte auch ein Buch, "Hast du dran gedacht? Anleitung zur Selbstverteidigung gegen Charge Mentale". Eine Selbsthilfebuch für Paare mit Tipps gegen die ungleiche Lastenverteilung.
Wir haben mit Coline Charpentier über das Phänomen und mögliche Lösungen gesprochen:
Was ist die Charge Mentale?
"Charge Mentale bedeutet denken, nicht tun. Männer machen zwar immer mehr, aber sie antizipieren nicht. Das ist glaube ich das Hauptproblem. Wenn ich zum Beispiel einkaufen gehe, habe ich mir vorher Gedanken darüber gemacht, was ich brauche. Und man macht das ja auch nicht einfach irgendwie. Man geht einkaufen, wenn man die Zeit hat, samstagmorgens zum Beispiel, oder dann, wenn wenig los ist. Einkaufen bedeutet also planen."
Ist der Begriff neu?
"Über die Charge Mentale wird seit den 1970er Jahren geredet. ohne dass der Begriff verwendet wird. Man sprach vom doppelten Arbeitstag der Frauen. Das ist fast 50 Jahre her. Die Dinge haben sich seit dem nicht so sehr verändert. Nach 1968 gab es einen Slogan der Frauenbewegung, ,Wir werden nicht eure Socken waschen, während ihr die Revolution vorantreibt!" Die Sockenfrage war also schon da."
Charge Mentale ist ein abstrakter Begriff. Ist er deswegen schwerer zu erklären als der simple Streit über die Verteilung der Hausarbeit?
"Das Phänomen ist unsichtbar, deswegen ist es schwer zu begreifen. Viele verwechseln es mit Hausarbeit, aber darum geht es nicht unbedingt. Ich hatte zum Beispiel eine Followerin, die jedes Mal eine SMS schrieb, wenn sie an etwas dachte, dass sie zu Hause erledigen muss: Sie schrieb 300 SMS pro Tag."
Gibt es die ungleiche Geschlechteraufteilung überall?
"Charge Mentale betrifft alle, unabhängig von Religion, Klasse und so weiter. Aber es wird nicht überall gleich mit ihr umgegangen. In den oberen Schichten gibt man den Stress der Frauen eher an andere Frauen ab, die man dafür bezahlt. In vielen Fällen sind das nicht-weiße Frauen, was weitere politische und ethische Fragen aufwirft.
In unteren Schichten ist die Last laut SoziologInnen besser verteilt, weil man ohnehin auf's Geld achten muss. Solidarität in der Familie spielt eine große Rolle. In der Mittelschicht gibt es beides. Wenn es zu viel wird, beschäftigt man jemanden."
Frauen sind gut im Multitasking, heißt es - ist das eine Erfindung des Patriarchats?
"Tatsächlich glaube ich, dass das erfunden wurde, um Frauen unter Druck zu setzen, wenn sie sich fragen, ,aber meine Schwester, meine Mutter, meine Freundin schaffen das auch, warum ich nicht?' Ganz einfach, weil es unmöglich ist. Eine Person kann nicht für vier oder fünf Menschen mitdenken.
Man sagt, das Gehirn von Frauen kann alles gleichzeitig machen, das von Männern nicht. Das ist sexistisch. Das würde ja bedeuten, dass Männer nur eine Sache zur Zeit können. Ich habe aber den Eindruck, dass sie es auf der Arbeit ganz gut schaffen, mehrere Dinge gleichzeitig zu tun und dass das auch anerkannt wird. Schlie´ßlich werden sie besser bezahlt als wir."
Welche Auswirkungen hat es auf die Gesellschaft, dass vor allem Frauen an alles denken müssen?
"Wir könntes vieles ändern, wenn wir die gedankliche Last besser verteilen würden. Frauen hätten mehr Kapazitäten, um sich anderen Dingen zu widmen oder mehr Zeit für sich zu haben. Mit dieser Zeit könnten wir die Welt verändern. Wenn all diese Frauen nur einen Bruchteil der Energie und Zeit, die sie aufwenden, um zwischen Haushalt und Arbeit zu jonglieren, abgeben könnten, könnten sie Freiwilligenarbeit machen, sich politisch engagieren, die Gesellschaft verändern, neue Beziehungen aufbauen."
Warum haben Sie ein Instagram-Konto zu dem Thema geschaffen?
"Vor allem, um mit Frauen zu reden. Ich sehe mich nicht als jemand, der den Menschen Lektionen erteilt. Ich sage den Frauen nicht, dass sie sich besser organisieren müssen oder mal loslassen sollen. Es geht auch nicht darum zu sagen, dass alle Männer doof sind. Aber ich glaube, dass es gut ist zu sehen, dass man nicht alleine ist mit dieser Last, weil das Problem mit vielen Schuldgefühlen verbunden ist. Das ist mein Ziel."
Haben Sie ein Beispiel für einen Lösungsvorschlag?
"Meiner Meinung nach braucht es drei Schritte: Erstens muss man sich bewusst werden, ob man betroffen ist. Zweitens müssen die Partner oder Partnerinnen dieser Person glauben und das Problem nicht herunterspielen. Drittens braucht es gemeinschaftliche Lösungen. Zum Beispiel, dass man sich am Sonntagabend zusammensetzt und die Woche plant. Kinder können auch mitmachen. Man kann auch über Gefühle reden. So lernt man auch darüber zu sprechen, was nicht gut läuft. Das zeigt Kindern, dass Erwachsene nicht unfehlbar sind. Ich glaube das ist gut für das Gleichgewicht in einer Familie."
Charge Mentale - auch im Comic beschrieben
Der Begriff Charge Mentale ist in den vergangenen Jahren vor allem dank der Comiczeichnerin Emma bekannt geworden. Hier gibt es ihre Zeichnungen auf Englisch.