Immigranten - Italiens Reizthema

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Von Euronews
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Zuwanderer in heruntergekommenen Häusern und Zeltlagern - und viele Italiener wollen sie nicht. Unsere Reportage aus Rom und Castel Volturno.

*Wirtschaft und Jobs waren die großen Themen im Wahlkampf vor der Parlamentswahl am 4. März. Aber das Thema, das die wohl hitzigsten Debatten auslöste, war Zuwanderung. Durch seine Nähe zu Nordafrikas Küste nimmt Italien die höchste Zahl von Migranten in ganz Europa auf. Die humanitäre Krise wurde von einigen Parteien, insbesondere den rechten, im Wahlkampf genutzt, um Migranten für die Wirtschaftskrise verantwortlich zu machen und für die vermeintlich steigende Kriminalität.
Wir machen eine Reise durch Italien, um den Wählern auf den Zahn zu fühlen und herauszufinden, wie das Land auf den Zustrom von Migranten – mal besser, mal schlechter – reagiert.*

Kurz vor Mitternacht in Rom. Aktivisten kleben Wahlplakate. Nicht die üblichen mit den bekannten Gesichtern der Politiker, die um ein Parlamentsmandat werben. Sondern Porträts von Migranten, die in Italien leben und arbeiten. Mit ihrer persönlichen Geschichte und der Bitte “Stimmen Sie für mich!” Aktivist Valerio Gatto Bonanni: “Das Gefühl von Unsicherheit und Gefahr ist weit verbreitet, und viele machen die Zuwanderer dafür verantwortlich. Sie sind das schwächste Glied in der Gesellschaft. Also ist es einfach, sie für unsere Ängste und Sorgen verantwortlich zu machen. Und im Wahlkampf die Karte der Angst vor Migranten auszuspielen, ist die einfachste Art, um Stimmen zu gewinnen.”

Migranten-Gesichter neben Plakaten für stramm rechte Politiker

Die provokative Kampagne wurde von einer Gruppe Guerilla-Künstler auf Sardinien eingeläutet. Sie wollen, dass die Italiener das andere Gesicht der Zuwanderung sehen. Illegale Plakatierung kann in Italien mit Bußgeldern von Hunderten von Euro bestraft werden. Aber diese Aktivisten sind überzeugt, dass es wichtig ist, auf die Not der Migranten aufmerksam zu machen, und dass es das Risiko wert ist.

Die Initiative breitete sich schnell in ganz Italien aus, auch in Rom. Wasser aus einem der römischen Brunnen, ein bisschen Klebstoff dazu – und schon prangen die nächsten Plakate neben denen der Fratelli d’Italia, der “Brüder Italiens”. Eine stramm rechte Partei, die Zuwanderung klar ablehnt und gute Aussichten hat, Teil der nächsten Regierung zu werden. Bei einer Wahlkampfveranstaltung der Brüder Italiens kürzlich in Rom listete Parteichefin Giorgia Meloni auf: “Im vergangenen Jahr haben hunderttausend Italiener Italien verlassen, zumeist junge Hochschulabsolventen. Im selben Jahr kamen 180.000 illegale Migranten nach Italien.”

Zwischenruf aus dem Publikum: “Kannibalen!”

“Zumeist ungebildete Afrikaner”, fährt sie fort. “Immigranten machen 8,3 Prozent der Bevölkerung aus, sind aber für 50 Prozent der Verbrechen und Diebstähle verantwortlich, für 40 Prozent der Raubdelikte, für 37 Prozent der sexuellen Gewaltstraftaten, für 25 Prozent der Morde und für 50 Prozent anderer Verbrechen wie Prostitution und Pädophilie. Gibt es da einen Zusammenhang zwischen illegaler Zuwanderung und der Zunahme der Straftaten?”

Das Publikum johlt: “Si!”

Die Fratelli d’Italia sind Teil der Rechts-Allianz, die in den Umfragen führt und die Parlamentswahl gewinnen könnte. In ihrem Wahlprogramm fordern die Brüder Italiens den Stopp der Suche und Rettung von Migranten im Mittelmeer, die Abschaffung des Schutzprogramms für Asylbewerber und die Rückführung illegaler Zuwanderer. Ihre Anhänger stimmen ein: “Wir müssen einen Zensus abhalten. Diejenigen, die illegal hier sind, sollten in ihr Land zurückgeschickt werden. Wenn sie illegal hier sind, können sie ja offenkundig keinen Weg finden, wie sie ihren Unterhalt finanzieren, und werden am Ende kriminell.” Ein anderer Anhänger der ‘Brüder’ klagt: “600.000 von denen sind hier. Wir müssen klären, wer bleiben kann und wer nicht. Ob von diesen 600.000 niemand das Recht hat, zu bleiben. Sie müssen alle zurückgeschickt werden. Sonst müssen wir nach Brüssel gehen und denen sagen: Verehrte Herren, wenn Sie diese Leute nicht in ihre Länder zurückschicken wollen, dann müssen wir sie unter uns aufteilen!”

Die Misere in den Zelten

Was diese Italiener aufbringt: Die vielen illegalen Zeltlager in Rom. Familien aus Afrika und dem Nahen Osten, die zum Beispiel seit Monaten unter den Kolonnaden der Basilika der Zwölf Apostel im Herzen Roms kampieren. Unter ärmlichsten Bedingungen. Ohne große Aussicht auf eine richtige Herberge. Eine von ihnen, Bassey Nyo Agu aus Nigeria prangert – fließend auf italienisch – an: “Viele Häuser stehen leer, niemand wohnt da, niemand nutzt sie. Wenn man diese Häuser für uns öffnete, könnte man uns helfen, das wäre nützlich. Man sollte jemandem im Leben als Allererstes einen Ort anbieten, an dem er duschen kann und einen Schlafplatz hat, denn wer müde ist, muss sich zurückziehen und schlafen können. Ein warmes Essen – gerade jetzt, wo es so kalt ist. Es gibt keinen Ort, an dem wir bleiben können. Und da stehen leere Häuser. Macht sie auf!”

Castel Volturno: Die Hälfte sind Zuwanderer

Wir fahren weiter Richtung Süden. Was in der Hauptstadt Misere ist, wird im Rest des Landes zum dringlichen Problem. Schätzungsweise eine halbe Million illegale Zuwanderer sind in ganz Italien untergekommen. Zehntausend von ihnen leben in behelfsmäßigen Camps, oft ohne festes Dach über dem Kopf, ohne Essen und ohne Trinkwasser. Viele andere hausen unter erbärmlichsten Bedingungen.

In Castel Volturno, einer Stadt in der Gegend von Neapel, sind inzwischen fast die Hälfte der Einwohner Zuwanderer, die meisten stammen aus Afrika. Die Koexistenz mit den Einheimischen führte zu Rassismus, inspirierte aber auch Akte der Solidarität.

In einer Radiosendung mit Hörer-Anrufen schimpft ein Mann namens Martino: “Wo immer diese Migranten hingehen, machen sie eine Müllkippe daraus. Europa hat Italien zu einem Zigeunerlager gemacht. Als Italiener hätte ich gern, dass Italien sich zuerst einmal um seine eigenen Grenzen kümmert. Wenn ein italienischer Fischer mit seinem Boot in libysches Territorium gerät, vierzig Meilen vor der Küste, dann schießt die Küstenwache auf ihn oder nimmt ihn fest. Und immer noch nehmen wir diese dreckigen Leute auf, zu wessen Nutzen auch immer. Sie kommen nach Italien, um uns im Gegenzug zu verdrecken.”

Mieter für verfallene Häuser, die sonst keiner will

In Castel Volturno sind wir zu einem besonderen Stadtrundgang verabredet. Sergio Serraino ist Koordinator des örtlichen Zweigs der Nichtregierungsorganisation Emergency. Sie bietet Bedürftigen kostenlos medizinische Versorgung an. Hier in Castel Volturno sind vor allem die Zuwanderer darauf angewiesen. “Wir schätzen, dass hier zehn- bis fünfzehntausend Ausländer leben – fast die Hälfte der Stadtbevölkerung”, sagt Serraino, während er uns durch heruntergekommene Viertel fährt. “Seit 2013 haben mehr als 8.000 Leute bei uns medizinische Betreuung in Anspruch genommen. Die meisten kommen aus Ghana und Nigeria, das sind die beiden größten Gruppen hier. Unsere weiblichen Patienten sind gewöhnlich sehr jung und Opfer von Sexschmugglern.”

Und weiter: “Wenn Sie durch Castel Volturno fahren, werden Sie schnell diese verfallenen Häuser bemerken, in denen Ausländer wohnen. Sie zahlen Miete für ein Bett, aber die Häuser sind völlig heruntergekommen. Oft mit kaputten Fenstern, kein Wasser, Klempnerarbeiten, die nötig wären, Feuchtigkeit im Haus.Theoretisch dürfte man diese Häuser nicht vermieten. Das sind unbewohnbare Häuser, zumindest nicht nach den Standards, die wir in Italien haben.”

Mehr afrikanische Pfingstgemeinen als katholische Kirchen

Eine Stadt, gespalten in zwei Hälften – in denen Einheimische und Zuwanderer kaum aufeinandertreffen. Serraino hat ein treffendes Bild: “Es ist, als ob sie durch eine durchsichtige Plastikmauer getrennt wären. Sie sehen einander, aber sie berühren sich nicht. Man kann in Castel Volturno leben, ohne Kontakt mit Italienern zu haben – außer für das absolut Notwendigste. Und dann gibt es die Kirchen. Castel Volturno ist voll von afrikanischen Pfingstkirchen.”

In Castel Volturno gibt es mehr afrikanische Pfingstgemeinden als katholische Kirchen. Einer der wenigen Orte, an denen sich die Zuwanderer zuhause fühlen. Und für ein besseres Leben beten können…

Pastor Prosper Doe: “Die Schwierigkeiten oder die Herausforderungen, denen wir hier gegenüberstehen, sind, dass wir keine Gemeinschaftseinrichtungen haben. Einrichtungen, die Leben verändern können. Wir haben keine Schulen, keine bezahlten, professionellen Kurse, keine Aussichten auf eine Arbeit. Eine Aufenthaltserlaubnis zu bekommen, ist für die Ausländer hier zum Problem geworden. Immerzu hören und lesen wir es in den Zeitungen, im Fernsehen, von den Journalisten: Es wird immer nur Negatives über die Ausländer hier berichtet. Womit ich nicht einverstanden bin. Denn wir tragen viel zum Leben hier bei, wir zahlen unsere Miete, bezahlen Rechnungen, wir leben in Häusern, die wir mieten. Wir leben hier nicht kostenlos. Sogar in leerstehenden Häusern bleiben die Leute und zahlen oft sogar Miete für Einrichtungen, die nicht in Ordnung sind und ungeeignet dafür, dass Menschen dort leben. Aber wir haben keine Wahl, also bleiben die Leute.”

Bei den Italienern, die hier ihr ganzes Leben verbracht haben, weckt das nicht unbedingt Mitleid: “Das sind keine Asylsuchenden. Das sind Wirtschaftsmigranten”, meint ein Lieferant. “Sie suchen ein besseres Leben, eine Arbeit. Aber wir haben keine – außer auf den Feldern! Sie kommen, weil man sie lässt. Hier bekommen sie Hilfe, Hilfe vom Staat. Immer hilft ihnen jemand. Ich frage mich manchmal, ob es für einen Italiener nicht besser wäre, zu gehen und als illegaler Zuwanderer wiederzukommen. Vielleicht hätte er dann ein besseres Leben in diesem Land!”

Hoffnung für die zweite Generation?

Wie können Einheimische und Zuwanderer das gegenseitige Misstrauen überwinden? Die Zuwanderer der zweiten Generation haben vielleicht eine Antwort auf die Frage. Die Jugendlichen, die wir in einer Sporthalle beim Basketballspiel filmen, wurden alle in Italien geboren. Und fanden im vergangenen Jahr heraus, dass die meisten von ihnen nicht in der Basketball-Jugendliga spielen konnten, weil sie offiziell immer noch als Ausländer gelten. Laut Gesetz müssen sie warten, bis sie achtzehn sind, und können dann die italienische Staatsbürgerschaft beantragen.

Die Entdeckung sorgte für Aufruhr. Und die Regierung gab daraufhin ein spezielles Dekret heraus, das den Kindern von Zuwanderern dieselben Rechte zugesteht wie denen von Einheimischen – zumindest beim Sport. Trainer Massimo Antonelli bekräftigt: “Meine Erfahrung mit den Jungs hier in Castel Volturno hat mir gezeigt, dass man aus etwas wirklich Kleinem heraus unglaubliche Resultate erzielen kann. Wichtig ist, daran zu glauben, und seine Rechte einzufordern. Durch Sport das Bewusstsein der Leute zu schärfen und die Spielregeln zu ändern.”

Während Italiener wie Zuwanderer hier in Castel Volturno und im Rest Italiens den Weg zur Integration anscheinend verpasst haben, liegt die letzte Hoffnung auf der nächsten Generation. Auf diesen Migrantenkindern, die hier in Italien geboren und aufgewachsen sind, und die hoffen, eines Tages einfach ‘Italiener’ genannt zu werden.

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