Cohn-Bendit: Türkei und Europa brauchen einander

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Von Euronews
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Auch wenn der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan sich angesichts eines EU-Beitritts eher bedeckt hält, könnte Daniel Cohn-Bendit einer seiner besten Fürsprecher sein. Auf seiner Reise nach Istanbul Anfang November versuchte der Chef der Grünenfraktion im EU-Parlament dem Beitrittsprozess neuen Schwung zu geben. Um das Thema war es in letzter Zeit still geworden.
Zumindest für die Grünen hat die Türkei nach wie vor ihren Platz in Europa.

Christophe Midol-Monnet, euronews: Wir befinden uns hier auf der europäischen Seite des Bosporus. Wie nimmt die Türkei Europa wahr?

Daniel Cohn-Bendit, europäischer Grünen-Politiker: Man hat hier einige Schwierigkeiten, Europa zu verstehen. Der Beitrittsprozess wurde in der Türkei – oder zumindest in einem Teil des Landes – sehr hoffnungsvoll verfolgt. Nun allerdings hat man den Eindruck, dass Europa die Türkei ausbremst. Deswegen übt Europa auf die Türkei keinen großen Reiz mehr aus. Das ist nicht gut.

euronews: Wir wissen, dass Sie einen Beitritt der Türkei befürworten. Verstehen Sie sich selbst als eine aussterbende Spezies?

Cohn-Bendit: Die, die einen möglichen Beitritt der Türkei befürworten, sind in der Minderheit; sie sind zwar keine aussterbende, aber eine bedrohte Spezies. Wenn man aber heutzutage die Wichtigkeit der Türkei betrachtet – ihre diplomatische, politische und wirtschaftliche Bedeutung, dann sollte Europa sich einige Fragen stellen. Denn in die Beziehungen zwischen Europa und der Türkei werden mehr und mehr Dinge vermischt. Wir können uns aus diesem Prozess jedoch nicht mit einem einfachen “Nein” verabschieden. Ich glaube, die Zukunft wird zeigen, dass Europa die Türkei braucht und umgekehrt.

euronews: Aber politisch gesehen klafft ein Graben, der sich durch die Bevölkerung und die politischen Klassen zieht.

Cohn-Bendit: Wenn wir die Aufgaben betrachten, die momentan vor uns liegen – wie der Nahost-Konflikt, die Probleme im Dialog mit dem Iran, so braucht die Türkei Unterstützung aus Europa und den USA, um weiter ihre Rolle zu spielen.
Und ihre Rolle wird anerkannt, weil es einen Verhandlungsprozess mit Europa gibt. Wenn dieser Prozess gekappt wird, könnte die Türkei ihre Rolle nicht spielen. Wir werden meiner Meinung nach in den kommenden Monaten ein entspannteres Klima haben, das es heute so noch nicht gibt.

euronews: Nichtsdestotrotz treten die Verhandlungen auf der Stelle.

Cohn-Bendit: Die Beitrittsverhandlungen treten auf der Stelle. Im Juni stehen Wahlen in der Türkei an.
Man muss zunächst das Problem mit Zypern lösen. Zypern ist nicht das größte Hindernis, aber es legt vieles lahm. Die Verhandlungen brauchen neuen Anschub. Es muss direkten wirtschaftlichen Austausch mit Nordzypern geben. Dazu muss Europa Druck ausüben, damit Hafen und Flughafen in Nordzypern geöffnet werden. Die Türken werden dann für die griechischen Zyprer die Häfen und die Flughäfen öffnen. Ankara muss seine Truppen in Nordzypern reduzieren. Mit politischem Willen wäre das möglich. Unsere Rolle besteht darin, entsprechenden Druck auf den politischen Willen zu machen.

euronews: Wie überzeugen Sie persönlich einen Staatsbürger von der Bedeutung des türkischen EU-Beitritts?

Cohn-Bendit: Vor den EU-Bürgern müssen die Politiker überzeugt werden. Dem Bürger muss klar gemacht werden, dass ein mächtiges Europa im Zeitalter der wirtschaftlichen Globalisierung die Unterstützung der Türkei braucht, um Wirtschaft und Umweltfragen zu regeln. Und angesichts der Probleme mit islamischen Ländern sowie einer Radikalisierung des Islam und in Hinblick auf den Nahostkonflikts kann die Türkei uns gewisse Vorteile bringen, die wir auch brauchen. So müssen die EU-Bürger überzeugt werden.

euronews: Müssen wir auch mit den Klischees über Schleier aufräumen?

Cohn-Bendit: Türkinnen tragen keine Schleier, sie tragen Kopftücher. Auf dem Land trugen Französinnen vor ungefähr 50 Jahren auch ein Kopftuch. Es handelt sich hier nicht um einen Schleier, sie sind nicht verschleiert, sondern tragen ein Kopftuch. Meines Erachtens besteht das Problem nicht im Kopftuch, sondern in dem, was im Kopf passiert. Haben wir es hier mit einem von der Kirche losgelösten Staat zu tun?
Die Debatte in der Türkei über die nächste Verfassung, die nach den Wahlen im Juni verfasst wird, wird von fundamentaler Bedeutung sein. Ein Staat, der die Freiheit aller Individuen schützt, der die Freiheit jedes Glaubens und ein Recht auf Atheismus garantiert, der gleichgeschlechtliche Beziehungen ermöglicht, genau wie es die grundliegenden europäischen Menschenrechte vorsehen. So sieht die Zukunft in der Türkei aus – mit oder ohne Kopftuch, aber ohne Schleier. Niemand in der Türkei ist verschleiert.

euronews: Wir sind an einem Tiefpunkt der türkisch-europäischen Beziehungen angekommen. Wann, falls überhaupt, kann es wieder bergauf gehen?

Cohn-Bendit: Hören Sie, ich kann nicht hellsehen. Aber natürlich wird es wieder bergauf gehen, weil es gemeinsame Interessen gibt, beide Seiten sind sehr involviert. Aber wann? Keine Ahnung. Unsere Politik muss Druck machen, damit die Verhandlungskapitel wieder geöffnet werden, damit die nötigen türkischen Gesetze beispielsweise zu Gewerkschaften vom Parlament verabschiedet werden. Und damit es nach den nächsten Wahlen im Juni einen wahrhaften Verfassungsdurchbruch gibt…

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