Corona lässt Gewalt gegen Frauen explodieren

Corona lässt Gewalt gegen Frauen explodieren
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Von Monica PinnaSabine Sans
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Der Lockdown führt zu vermehrten Misshandlungen von Frauen, die Dunkelziffer ist hoch, Zahlen schwer abzuschätzen.

Weltweit werden etwa sechs Frauen pro Stunde von ihrem Partner, Ex-Partner oder einem Familienmitglied getötet. Der Lockdown hat die bereits alarmierende Situation partnerschaftlicher Gewalt noch verschärft. Thema in Unreported Europe.

Gewalt gegen Frauen in Zeiten von Corona

In Familien ist es während der Coronapandemie zu einer auffälligen Häufung von Gewalt gegen Frauen gekommen. Laut Studien nahmen die Fälle zu. Die Gefahr, zum Gewaltopfer zu werden steigt mit äußeren belastenden Faktoren wie finanzielle Sorgen.

Eveline* erzählt: _"Ich wurde von meinem Ex-Partner angegriffen, der zu meinem Arbeitsplatz kam und mir drohte, mich umzubringen. Er schlug mir mit einem Axtgriff heftig auf den Kopf. Es war überall Blut. Mein Stirnbein war gebrochen. Meine Augenbraue war aufgeplatzt. Ich glaube, ich bin wegen einer Kollegin noch am Leben. Sie wollte gerade gehen, war aber noch auf dem Parkplatz. Sie hat mich schreien hören. Sie kam hoch und vielleicht hat das die Sache beendet. Auf jeden Fall sagte er zu mir, ich bringe dich ins Krankenhaus. Ich hatte Angst und dachte, er würde mich im Auto erledigen."  *_Name geändert.

Euronews-Reporterin Monica Pinna sagt: "Die Geschichte von Eveline ist nur eine von Tausenden in der aktuellen Pandemie. In normalen Zeiten wird eine von drei Frauen von einem Partner, Ex-Partner oder einem Familienmitglied körperlich misshandelt. Im Durchschnitt sterben jeden Tag hundert Frauen - getötet von jemandem, den sie kannten. Der Lockdown führte zu einer Explosion der Gewalt. In einigen europäischen Ländern nahm der Missbrauch etwa um ein Drittel zu."

Häusliche Gewalt in Europa während des Lockdowns

In Europa ist es schwierig abzuschätzen, welche Auswirkungen die Pandemie auf häusliche Gewalt hat. Daten werden nicht systematisch erhoben. In Italien berichtete das Innenministerium von elf Tötungsdelikten in den elf Wochen des Lockdowns. Die 27-jährige Lorena, angehende Ärztin, wurde von ihrem Freund, einem Krankenpfleger, getötet, der sie beschuldigte, ihn mit COVID-19 infiziert zu haben.

In Spanien wurden vier Frauen während des Lockdowns getötet. Seit Januar wurden zwanzig Femizide verzeichnet, laut inoffiziellen Quellen sind es doppelt so viele.

In Frankreich reichen nur 20 Prozent der Opfer häuslicher Gewalt Klage gegen ihren Angreifer ein. Sie fürchten die Folgen, mit denen sie nach diesem Schritt konfrontiert werden. Evelines Angreifer wurde zwei Tage nach dem Anschlag freigelassen. Er war vor dem Prozess einen Monat lang auf freiem Fuß. ((In Frankreich führt die Vereinigung "Féminicides par compagnons ou ex " Buch über die Tötungen. Seit Anfang des Jahres waren es etwa 40 Tötungsdelikte.

Interview mit einem Opfer

Euronews-Reporterin trifft Eveline* in einem Park. Die Frau hat die Attacke ihres Mannes überlebt:

Euronews:
Gab es irgendwelche konkreten Maßnahmen, um zu garantieren, dass Ihr Ex-Partner sich von Ihnen fernhält?

Eveline:

Er hatte nur nicht das Recht, sich mir zu nähern oder mich in irgendeiner Art und Weise zu kontaktieren - das ist gut gemeint, reicht aber nicht aus.

Euronews:
Gab es etwas im juristischen Verfahren, das sie schockiert hat?

Eveline:
Dass die Aussage des Opfers absolut nicht gehört wird. Dass Entscheidungen getroffen wurden, ohne mich vorher davon in Kenntnis zu setzen. Und, dass meine Sicherheit in keiner Weise gewährleistet wurde.

Euronews:

Darüber, dass er freigelassen wird?

Eveline:
Als sie mich anriefen, war er bereits entlassen worden. Es hätte alles passieren können.

Frankreich wird aktiv

Im vergangenen Jahr veröffentlichte das französische Justizministerium einen Bericht, in dem 88 Morde oder Mordversuche untersucht wurden. In 65 Prozent dieser Fälle wurde vorher die Polizei kontaktiert. Der Justizminister ordnete an, die Funktionsstörungen im System zu finden. Euronews sprach mit einer auf Opferschutz spezialisierten Familienanwältin über das Thema:

"Es gibt Maßnahmen, die ergriffen werden können", erklärt Bénédicte del Vecchio-Zinsch. "Das Problem ist, dass es viele Klagen gibt. Die Gerichte haben viel zu tun und es gibt nur sehr wenig Leute, die in der Lage sind, Klagen entgegenzunehmen und zu bearbeiten. Und es mangelt an personellen und materiellen Kapazitäten, um die misshandelten Menschen zu schützen."

Angesichts der steigenden Zahl der Femizide erlebte Frankreich 2019 ein Jahr der Proteste, das in einer sogenannten "Grenelle" zur häuslichen Gewalt gipfelte, einer dreimonatigen offenen Diskussion zwischen Verbänden und Politikern zur Einführung konkreter Maßnahmen. Auch während der Pandemie wurden neue konkrete Instrumente eingeführt.

Neue Maßnahmen

Zum Beispiel wurden Apotheken zur Anlaufstelle für Opfer. Dort sollen Frauen mit einem Codewort um Hilfe bitten können. Euronews fragte die Vorsitzende der Apothekergewerkschaft im Departement Rhône, ob die Maßnahme greift:

"In meiner Apotheke gab es keine Fälle", sagt Veronique Nouri. "Ich habe mich bei Kollegen im Departement umgehört, auch dort gab es keine Fälle. Es ist überraschend, dass es in keiner Apotheke Fälle gab. Meiner Meinung nach hätte es welche geben müssen. Haben sich die Frauen nicht getraut zu kommen?"

In Supermärkten in ganz Frankreich wurden Anlaufstellen eingerichtet. Die einzige in der Region Lyon, die auf der Regierungs-Webseite aufgeführt ist, war nicht leicht zu finden. Nach Ablauf des Lockdowns wurde sie geschlossen.

Bei Hilfsorganisationen liefen die Drähte heiß: Bei der Lyoner Frauenrechtsgruppe VIFFIL gingen in den sieben Wochen des Lockdowns über tausend Anrufe ein. Darunter waren 230 Frauen, die sich noch nie zuvor an den Verein gewandt hatten. Die Zahl derer, die in sichere Unterkünften untergebracht wurden, verdoppelte sich:

"Es gibt nicht genügend Notunterkünfte für Frauen". so VIFFIL-Direktorin Elisabeth Liotard. "Wärend des Lockdowns gab es Mittel, die vom Staat, von der Region mobilisiert wurden. Der Staat stellte 60 Plätze für Frauen zur Verfügung, die Opfer von Gewalt geworden waren. Wir hatten also Lösungen für Frauen, die wir normalerweise nicht haben. Wenn wir heute zehn freie Wohnungen hätten, würden meiner Meinung nach zehn Frauen ihr Zuhause verlassen. D.h. in normalen Zeiten bleiben sicherlich Frauen zu Hause, weil es manchmal keine Unterkunftslösung gibt."

Die Pandemie ist weltweit ein Weckruf

In Europa arbeitet man verstärkt daran, rechtliche Rahmenbedingungen zu überarbeiten, um polizeiliche Reaktionen und die Dienste für die Sicherheit von Frauen zu verbessern.

34 Mitgliedstaaten des Europarates haben bereits die Istanbul-Konvention ratifiziert, die eine umfassende Maßnahmen-Liste zum Schutz der Frauen enthält:

"In den vergangenen Jahren gab es weitreichende Änderungen in den nationalen Gesetzgebungen. Es wurden immer mehr spezifische Straftaten eingeführt", sagt Johanna Nelles, Geschäftsführerin Istanbul-Konvention, Europarat. "In vielen Ländern, die die Istanbul-Konvention umsetzen, kam ein echter Bewertungs-Prozess in Gang - , ob die Finanzierung ausreicht, ob die Dienstleistungen ausreichend sind oder ob neue Dienste eingerichtet werden müssen. In vielen Ländern gibt es jetzt Anlaufstellen für Opfer sexueller Gewalt, die es vorher nicht gab."

Ungarn lehnt Konvention zum Schutz von Frauen ab

Ungarn hat Anfang Mai nach u. a. Bulgarien, der Slowakei und Lettland abgelehnt, die Istanbul-Konvention zu ratifizieren. Das Parlament unterstützte die Regierungs-Position, dass das Übereinkommen "destruktive Gender-Ideologien" und "illegale Migration" fördere. Budapest stimmt zwar der Konvention generell zu, sagt aber, die Maßnahmen nicht nötig zu haben.

"Diese Institutionen und Maßnahmen sind bereits im ungarischen Rechtssystem vorhanden, die meisten von ihnen wurden von unserer Partei geschaffen (Fidesz - Anm. d. Red.)", so Gergely Gulyás, Büroleiter des Ministerpräsidenten. "Darüber hinaus sind diese Gesetze meist viel strenger als die Anforderungen in der Istanbul-Konvention."

Die Frauenrechtsorganisation NANE hat bereits mehrmals für die Umsetzung der 2014 von Ungarn unterzeichneten Konvention demonstriert:

"Die Istanbul-Konvention könnte einen umfassenden Ansatz gegen häusliche und sexuelle Gewalt ermöglichen", meint Györgyi Tóth von NANE. "Es ist ein großer Verlust, dass es stattdessen nur "ad hoc" und punktuelle Bemühungen gibt, mit dem Phänomen umzugehen."

Häusliche Gewalt gibt es in allen Milieus und in jedem Alter. Die Opfer fordern, dass ihre Stimmen gehört werden, um Leben zu retten.

Journalist • Monica Pinna

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