EU-Bürgerbeauftragte: "EU-Bürger sollten die Wächter über EU-Mittel sein"

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Von Sandor Zsiros
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Skandale und Korruptionsfälle erschüttern die Europäische Union: Wie steht es um das Vertrauen in europäische Institutionen? Die EU-Bürgerbeauftragte Emily O'Reilly dazu in The Global Conversation.

Zu Gast in The Global Conversation ist die EU-Bürgerbeauftragte Emily O'Reilly. Sie befasst sich mit Transparenz- und Ethikfragen im Rahmen der EU. Euronews-Reporter Sándor Zsiros sprach mit ihr vor allem über Korruption und Vertrauen in die europäischen Institutionen.

Euronews-Reporter Sándor Zsiros: Emily O'Reillyl, danke, dass Sie bei uns sind. Kürzlich haben wir den größten Korruptionsskandal in der Geschichte der Europäischen Union erlebt: Abgeordnete und Assistenten wurden mit großen Geldkoffern erwischt. Sind Sie von diesem Skandal überrascht worden?

Emily O'Reilly, EU-Bürgerbeauftragte: Ja und nein. Ich meine, der Skandal an sich ist ziemlich schockierend, er wird vor den belgischen Gerichten ausgetragen, all das muss man berücksichtigen. Aber ich nehme an, dass jeder, der das gesehen hat, ziemlich schockiert war, weil die Bilder ziemlich dramatisch waren. Wir sahen buchstäblich Euro-Noten, Geldkoffer. Uns allen wurde eine Art cartoonartige Korruptions-Vorstellung serviert. Das war ziemlich dramatisch. Aber ich nehme an, wenn man sich das Parlament so anschaut, dass viele der Regeln und Kodizes, die das Parlament vor Korruption schützen sollen, obwohl es viele davon gibt, nicht wirklich durchgesetzt und überwacht werden. Das war also ein Skandal oder ein Unfall, der früher oder später passieren musste. 

Euronews: Dieses Netzwerk gibt es im Parlament schon seit langem. Wie ist es möglich, dass das nicht intern in der EU, sondern von der belgischen Polizei aufgedeckt wurde?

Emily O'Reilly: Soweit ich weiß, waren es die Nachrichtendienste eines anderen Landes, die die Informationen an die belgischen Behörden weitergaben. Die Betrugsbekämpfungsbehörde der Europäischen Union, das Europäisches Amt für Betrugsbekämpfung OLAF hatte schon immer ein Problem damit, seine Befugnisse gegenüber dem Parlament drchzusetzen. Wenn OLAF zum Beispiel den Verdacht hat, dass jemand in einer anderen Institution, in einer anderen EU-Agentur, etwas Falsches tut, haben sie das Recht, in diese Institutionen, in die Büros der Leute zu gehen, ihre Computer, alles zu überprüfen. Fast wie Polizisten. Aber das Parlament hat immer abgelehnt, was OLAF als sein gesetzliches Recht ansieht. Die Frage ist also: Hätte OLAF das Recht gehabt, die Büros der Abgeordneten zu durchsuchen, wenn der Verdacht besteht, dass etwas Unrechtes getan wurde, wäre der Skandal vielleicht aufgedeckt worden, bevor er von den belgischen Behörden entdeckt wurde. Aber wir wissen es nicht. Das ist reine Spekulation.

Euronews: Das Europäische Parlament versucht nun, diesen Skandal aufzuklären. Wird genug getan?

Emily O'Reilly: Ich habe beobachtet, was im Dezember im Parlament passierte, als der Skandal aufflog, alle reagierten richtig. Alle sagten: 'Das ist schrecklich. Wir müssen das in Ordnung bringen.' Aber jetzt sind schon ein paar Monate vergangen und wir warten immer noch darauf, zu sehen, wie genau das Problem behoben wird.

Euronews: Lassen Sie uns über das große Ganze sprechen, darüber, was dieser Korruptionsskandal für die gesamte Europäische Union bedeutet, denn er untergräbt offensichtlich das Vertrauen in die Institutionen. Was sind die langfristigen Auswirkungen?

Emily O'Reilly: Sie haben recht. Vertrauen ist sehr wichtig. Ohne moralische Autorität gibt es keine politische Legitimität. Man kann auch keine politische Legitimität haben, wenn die Menschen einem nicht vertrauen. Wir sind in Brüssel. Für die meisten Menschen ist Brüssel eine Idee. Eine Idee, die sehr weit weg ist. Man versteht diese Idee nicht so, wie man Regierungen, Verwaltungen im eigenen Mitgliedstaat kennt. Und deshalb ist man geradezu prädestiniert, Brüssel zu misstrauen, weil man es nicht versteht. Daher ist das Vertrauen der EU-Bürger in die Europäische Union ziemlich fragil. Und wenn die Verwaltung, wenn die EU Dinge tut, die dieses Vertrauen beschädigen, kann das den Glauben der Menschen an die EU erschüttern. Man muss den Zusammenhang sehen zwischen den kleinen Vorfällen, die man vielleicht nicht für besonders wichtig hält, und dem großen Ganzen, der Art und Weise, wie sie zu einem Misstrauen der Bürger gegenüber dem gesamten Projekt der Europäischen Union führen oder führen können. Das wird auch von Menschen genutzt, die der EU skeptisch oder feindlich gegenüberstehen. Es ist also sehr wichtig, dass die EU nach den höchstmöglichen ethischen Standards handelt, um ihre politische Legitimität zu schützen.

Qatar-Gate: Was läuft falsch?

Euronews: Es gab einen weiteren Skandal, als der ehemalige Generaldirektor des Transport Department der EU-Kommission (DG MOVE), Henrik Hololei neunmal nach Katar flog. Und diese Reisen wurden von der Regierung Katars bezahlt. Zu der Zeit, als die Europäische Union mit Katar über die Luftfahrtindustrie verhandelte. Ging es das um Transparenz oder Lobbyarbeit? Gab es Fehler?

Emily O'Reilly: Das war außergewöhnlich, denn es war nicht nur die Europäische Union, die diese Open-Skies-Politik entwickelte, die direkt Qatar Air zugutekommen sollte, den Leuten, die diesem Herrn die kostenlosen Flüge nach Katar ermöglichten. Aber es war seine Abteilung, seine Generaldirektion, die die Verordnungen ausarbeitete. Es gab also einen klaren Interessenkonflikt. Doch als der Sprecher der Kommission gefragt wurde, wer darüber entschied, ob ein Interessenkonflikt vorlag oder nicht, stellte sich heraus, dass er es war. Er fragte sich also, ob ein Interessenkonflikt vorlag, und offensichtlich sagte er nein und flog nach Katar.

Transparenz und Rechenschaftspflicht

Euronews: Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat auch in privaten Textnachrichten mit dem  Pfizer-Chef über die Beschaffung von Impfstoffen gesprochen. Diese Textnachrichten wurden nicht archiviert und nicht veröffentlicht. Wie sehen Sie diese Themen in der Zukunft? Sollte man mit dieser Art von Nachrichten anders umgehen?

Emily O'Reilly: Wir haben uns alle daran gewöhnt, unsere Nachrichten über Whatsapps und Snapshats usw. zu versenden. Das ist zwar sehr effizient, aber die Transparenz und der Rechenschaftspflicht ist problematisch, wenn öffentliche Verwaltungen und Politiker diese Methoden der Kommunikation nutzen. Die Frage ist: Wie können wir das erfassen?

Wohin fließen EU-Mittel?

Euronews: Sprechen wir über Geld, denn Hunderte Milliarden an Steuergeldern fließen in den Wiederaufbau und die Widerstandsfähigkeit von Einrichtungen. Auch die Europäische Union unterstützt die Verteidigung der Ukraine mit Milliardenbeträgen. Können europäische Steuerzahler nachzuverfolgen, wohin diese Gelder fließen?

Emily O'Reilly: Das sollte auf jeden Fall möglich sein. Das klappt noch nicht ganz. Wir haben gute Arbeit mit den Geldern geleistet, mit den Covid-Mitteln in Höhe von 700 Milliarden Euro. Wir können sagen, dass dieses Geld an die Mitgliedsstaaten verteilt wurde. Es liegt auf der Hand, dass, wenn Geld in dieser Höhe im Umlauf ist, die Möglichkeit der Korruption besteht. Es besteht die Möglichkeit, dass es nicht richtig verwendet wird. Deshalb sollten die Bürger auch die Wächter über diese Gelder sein.

Euronews: Ihre Organisation hat gerade den Jahresbericht für 2022 veröffentlicht. Wenn man all diese Entwicklungen zusammenzählt, Transparenz, Lobbyismus, ethische Probleme, Qatargate - war das ein Wendepunkt in der Wahrnehmung der Europäischen Union?

Emily O'Reilly: In Bezug auf Qatar Gate ist es eine interessante Geschichte, weil dieser Fall sehr einfach zu verstehen war, es war dramatisch, es gab die Bilder von den Geldkoffern. Aber das spiegelt auch die wachsende Bedeutung der Europäischen Union wider. Vor dem Hintergrund der Polarisierung in den USA, des Brexits und derEreignisse in Großbritannien, Russland, China: Noch nie war es für Europa so wichtig, sich weltweit zu behaupten. Aber dafür braucht man eine moralische Autorität. Und ich nehme an, dass das mit vielen der Themen zusammenhängt, die Sie gerade angesprochen haben.

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