Michail Gorbatschow: "Selbst Putin kann den Wandel nicht aufhalten"

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Von Euronews
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Vor mehr als 20 Jahren ist die Sowjetunion untergegangen und man könnte denken, mit ihr auch ihr Staatschef. Aber obwohl Michail Gorbatschow keine aktive politische Rolle mehr spielt, kommentiert er weiterhin die Politik seines Landes. Zuletzt kritisierte er in zunehmenden Maß Putin und riet ihm zurückzutreten.
Mit unserem Moskau-Korrespondent Alexandre Shashkov sprach er über Russlands Wahlen und den sozialen Wandel.

Alexandre Shashkov für euronews: “Die Präsidentschaftswahlen liegen hinter uns und jetzt ist klar, dass Dmitri Medwedew und Wladimir Putin in zwei Monaten die Posten tauschen werden. Wie beurteilen Sie den Wahlkampf und was halten Sie vom Wahlergebnis?”

Michail Gorbatschow, Ex-Präsident der Sowjetunion: “Was bei diesen Wahlen anders lief als bei den vorherigen, ist, dass während des Wahlkampfs klar wurde, dass die Gesellschaft aus einer Art Wachkoma erwachte. Die Menschen beginnen, das Programm des Ministerpräsidenten, des zukünftigen Präsidenten und der Duma zu beeinflussen. Die Frage nach einer echten Veränderung des Systems, seiner Demokratisierung und nach einer Reform des Wahlsystems steht immer noch ganz oben auf der Tagesordnung. Früher – und das ärgerte mich oft – wurde das System oft zum Schlechteren reformiert, in dem die zu wählende Person abgelehnt oder aus dem Wahlprozess geworfen wurde. Aktuell sollte es umgekehrt sein. Präsident Medwedew nutzte seine letzten Amtstage für den Vorschlag, eine verfassungsgebende Versammlung einzuberufen, um das herrschende System unter Berücksichtigung der jüngsten Proteste und der Reformforderungen der Wählerschaft zu korrigieren. Und ich hoffe, es war nicht nur ein Vorschlag.”

euronews: “Glauben Sie, Medwedew wird erfolgreich sein, wird er genug Zeit für diese Veränderungen haben?”

Michail Gorbatschow: “Ich glaube nicht, weil uns die Erfahrung mit dieser Art von Veränderungen fehlt. Wir kennen die Verfassung, wie sie ist – aber wie verändert man sie, in welcher Weise? Obwohl die Art und Weise ja schon deutlich wird. Zum Beispiel müssen wir die von Putin abgeschafften Wahlen der regionalen Gouverneure wieder einführen. Wenn diese Politiker nicht vom Kreml ernannt, sondern vom Volk gewählt werden, werden sie keine Angst haben, sich einzumischen, sie werden für ihren Standpunkt kämpfen. Natürlich wird es schwieriger, mit ihnen umzugehen, sie werden selbstsicherer und politisch unabhängiger sein – aber ehrlich gesagt, genau das ist es, was wir brauchen. Die Menschen vertrauen uns, wählen uns, aber wir haben kein Vertrauen in das Volk. Wenn unsere Bürger mehr Mitspracherecht verlangen, dann sind sie reif genug, um zu handeln. Und das ist eine positive Veränderung.”

euronews: “Glauben Sie, dass Putin als Präsident Medwedews Weg der Demokratisierung fortsetzen wird, um das politische System zu reformieren?”

Michail Gorbatschow: “Der gewählte Präsident – ich denke, wir können ihn bereits so nennen – hat schon oft gesagt, dass die Fragen des Wahlprozesses, des Wahlrechts und ganz allgemein der politischen Prozesse einen großen Teil seines Programms ausmachen werden. Nun, das ist das, was er ankündigt. Auch wenn er manchmal sagt: ‘Lasst uns vorher noch dieses oder jenes für die Wirtschaft tun’. Nein, nichts darf davor kommen. Und das Ausmaß dieser vom Präsidenten angekündigten Veränderungen – wenn wir ihn ernst nehmen und das Ganze nicht für eine Show halten – werden von der Exekutive und der Legislative sowie von der gesamten Bevölkerung eine enorme Anstrengung erfordern.
Und, um ganz offen mit Ihnen zu sprechen, selbst wenn Putin diese Probleme nicht angehen wollte, wenn er zu alten Gewohnheiten zurückkehren wollte, kann er den Wandel nicht aufhalten. Außerdem denke ich, dass schon bald die Frage nach vorgezogenen Parlamentswahlen auftreten wird, in Anbetracht der Umstände, unter denen das aktuelle gewählt wurde. Wir brauchen ein aktives und effektives Parlament, wir brauchen ein neues Parlament.”

euronews: “Blicken wir zurück. Medwedew ist am Ende seiner Amtszeit. Was können Sie über seine vier Jahre an der Macht sagen?”

Michail Gorbatschow: “Ich halte Medwedew für einen Mann der Zukunft, für einen Mann mit Perspektiven, aber ihm fehlt Erfahrung und die Zeit, sie zu sammeln. Er sagte einmal zu mir: ‘Ich habe Jahre vor mir”. Das bedeutet, dass er seinen Kurs fortsetzen will. Wenn das der Fall ist, gut für ihn. Aber es wäre besser für ihn gewesen, wenn er noch entschiedener gehandelt hätte, das hätte ihn in eine noch prominentere als die jetzige Position gebracht. Aber er ist selbst Schuld daran, dass er das nicht geschafft hat, und ich hoffe, er lernt daraus.”

euronews: “Welchen der Präsidentschaftskandidaten ziehen Sie vor?”

Michail Gorbatschow: “Prochorow – vielleicht weil wir von den anderen die Nase voll haben. Er hat frische Ideen und er geht neue Wege, um seine Vision zu präsentieren. Außerdem hat er enorme Wirtschaftserfahrung. Von diesem Standpunkt aus gesehen, gehört er einer neuen Generation an und das ist es, was mich interessiert. Aber ich glaube, dass er wie wir alle noch viel lernen muss. Und was noch viel wichtiger ist, für eine Reform unseres Wahlsystems müssen wir neue Gesichter zulassen. Und dafür brauchen wir Wettbewerb und Offenheit. Das sind aktuell unsere wichtigsten Aufgaben.”

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