Eine Reise durch die Ukraine - auf beiden Seiten des Frontverlaufs

Eine Reise durch die Ukraine - auf beiden Seiten des Frontverlaufs
Von Euronews
Diesen Artikel teilenKommentare
Diesen Artikel teilenClose Button

Donezk sah im vergangenen Juli wie eine Geisterstadt aus. Nur wenige Geschäfte waren noch geöffnet. Die meisten Einwohner flohen vor dem Krieg. Anfang September gab es dann den in Minsk ausgehandelten Waffenstillstand, inzwischen haben die pro-russischen Militanten in der sogenannten Volksrepublik Donezk ihre eigenen Sicherheitskräfte aufgebaut.
Bergwerke und die Schwerindustrie waren einst die wirtschaftliche Stärke der Region. Doch jetzt sind die meisten Zechen beschädigt oder ganz zerstört, die Kumpel haben ihre Arbeit verloren. Auch in der Schwerindustrie liegen 60 Prozent der Werke still.

Trudivske ist ein Vorort von Donezk. Das örtliche Bergwerk litt unter dem Granatenbeschuss seit dem vergangenen Juli. Die Front verläuft nicht einmal einen Kilometer von hier entfernt. Zechendirektor Sergej Maltsew hat beschlossen, die Förderung einzustellen: “Am 2. August gab es einen weiteren heftigen Beschuss mit Granaten. Das ging den ganzen Tag so. Die Leute fürchteten sich und wollten nicht einfahren. Bis zum 15. August sind sie zur Arbeit gekommen. Ich als ihr Chef wollte sie auch nicht mehr unter Tage schicken, denn die Bomben und Granaten hätten die Schächte zerstören können, dann wären die Männer eingeschlossen worden, und wir hätten keine Möglichkeit gehabt, sie wieder rauszuholen”, sagt er.

Von den normalerweise fast 1600 Kumpeln arbeiten nur noch 200 hier. Sie reparieren in erster Linie die Schäden. Gregory Kalugin ist einer von ihnen. Nach der Schicht geht er wie immer nach Hause. Die Menschen, die noch hier sind, treffen sich auf der Straße. Die Milizen der Volksrepublick warnen sie vor weiterem Beschuss. Sie wissen, dass sie der Front sehr nahe sind. Manche Häuser wurden bereits zerstört, jedes andere könnte das nächste sein.

Gregory Kalugin ist Bergmann. Er wünscht sich nur eines: dass der Albtraum bald zu Ende ist: “Ich sehe das anders. Das hier ist weder Russland noch die Ukraine. Es ist ein unabhängiges Land, das gute Beziehungen zur Ukraine und zu Russland unterhält. Wir sollten eine Art Pufferzone sein, davon hat die Ukraine immer geträumt.”

Eine Frau in der Bergarbeitersiedlung berichtet: “Seit drei Monaten haben wir keinen Strom. Alle Leitungen wurden zerschossen oder zerstört. Es gibt keine Straßenbeleuchtung, Wasser gibt es nur zu bestimmten Zeiten, meistens aber nicht. Sie haben die Gasleitung gefilmt. Gas haben wir auch nicht, denn die Granatsplitter haben sie zerstört. Sie haben das Gas abgedreht.” Und Kalugin meint: “Wir arbeiten, aber wir wissen nicht, ob wir bezahlt werden. Wir fragen uns, ob wir zumindest irgendetwas bekommen.”

Die Bergarbeitersiedlungen von Trudivske liegen entlang des Frontverlaufs und sind unter Kontrolle der pro-russischen Milizen der Volksrepublik Donezk. Deren Männer haben ganz in der Nähe der Wohngebiete ihre Stellungen eingerichtet. Von dort aus beschießen sie die ukrainischen Stellungen und Straßensperren, die einige Kilometer entfernt hinter der von ukrainischen Truppen kontrollierten Stadt Mariinka liegen.

Kaum hatten wir Mariinka erreicht und die Straßensperren der Ukrainer und der pro-russischen Milizen überwunden, begannen beiden Seiten mit schwerem Artillerie- und Maschinengewehrbeschuss. Die Einwohner von Mariinka zeigten sich wütend und verbittert. Galina Malista lebt seit lengem hier: “Unsere Kinder hängen nur noch herum, sie können nicht zur Schule gehen. Eine Schule wurde zerstört, da hinten, wenn Sie dort hinunter gehen”, sagt sie. “Eine andere Schule hat keine Fenster, nichts. Die Kinder gehen nicht zur Schule, hier in Mariinka geht nichts mehr. Wir haben Gott sei Dank Strom, aber wir haben kein Gas, kein Wasser, wir überleben, wie wir können. Es ist gut, dass wir ein Fahrzeug haben, um uns mit Gütern zu versorgen. Ansonsten kümmert sich niemand um uns, weder die Milizen aus Donezk, denn die sind nicht hier. Noch die Ukraine, die braucht uns nicht. Sie brauchen uns einfach nicht.” Eine Freundin sieht das so: “Was sind wir für Ukrainer? Ich kenne die ukrainische Sprache sehr gut. Russisch auch. Das hat mir Josef Stalin beigebracht. Und jetzt sieht es hier so aus. Das ist ein Fluch.”

Die Front verläuft an der Hauptstraße bis nach Donezk. Auf dem Weg nach Donezk kommt man an einem Standort der ukrainischen Armee vorbei. Es handelt sich um einen Unterstand, dort wird die Hauptstraße überwacht. Die Soldaten sind nervös. Sie berichten, sie hätten gerade zwei Fahrzeuge der Separatisten aufgebracht, dabei sei es zu einer Schießerei gekommen. Der Befehlshabende sagt, zwei seiner Leute seien bei Granatenbeschuss in der vergangenen Nacht getötet worden. Wir wollen ihn “Sascha” nennen. Ihm fehlt ein wenig der Sinn für diesen Krieg: “Ich werde als Offizier der ukrainischen Armee antworten; als Vater, als Sohn, als Ehemann und als Kommandierender dieser Jungs habe ich hier gestanden. Wir reparieren nur die politischen und finanziellen Probleme der reichen Leute. Das ist den Preis nicht wert, den wir hier gezahlt haben”, ist er sicher.

Von Donezk aus sind wir über Ilovaisk nach Mariupol gefahren. Es war eine Reise, die von der einen Seite des Frontverlaufs auf die andere führte. Ilovaisk war im August Schauplatz eines Massakers an den ukrainischen Truppen. Es war der Wendepunkt für die von Kiew geführte Offensive gegen die Separatisten im Osten des Lands. Nach ukrainischen Angaben kamen 900 Männer ums Leben, nach Angaben der pro-russischen Seite sogar 3000. Womöglich waren auch russische Soldaten hier vor Ort. Russlands Präsident Wladimir Putin bot den Ukrainern einen “Grünen Korridor” an, damit sie die Region sicher verlassen konnten. Während des Abzugs wurden sie allerdings ständig beschossen.

Mariupol ist eine Hafenstadt am Asowschen Meer. Metinvest ist das größte Stahlunternehmen in der Industriestadt. Es gehört zur Region Donezk, liegt aber auf ukrainisch kontrolliertem Gebiet. Die Menschen hier befürchten, dass ihnen das Schlimmste möglicherweise erst noch bevorsteht. Wir haben die beiden Freunde Wladimir und Jewgeni getroffen. Der eine ist eher für die Ukraine, der andere für die pro-russische Seite. Wladimir: “Ich und mein Freund, wir sind verschieden. Ich unterstütze die Ukraine, er ist mehr für Russland. Wir haben völlig unterschiedliche Meinungen, aber wir sind Freunde. Wir sprechen miteinander, wir verstehen uns.” Jewgini: “Nicht wirklich… Ich bin nicht wirklich für Russland, ich bin gegen Blutvergießen.” Wladimir: “Wir wollen Frieden in Mariupol, in der Ukraine und in Donezk. Ich wünsche uns, ein Teil der Ukraine zu sein.” Jewgini: “Ich bin einverstanden. Ich arbeite bei Metinvest, und ich verstehe, dass es Konkurse geben würde, wenn wir hier Novorussia hätten. Es gäbe Pleiten, die Leute hätten kein Geld, ich bin also dagegen.”

40 Kilometer entfernt von Mariupol liegt der Stützpunkt des Asowschen Bataillions, eine leichte para-militärische Einheit, die dem Innenministerium in Kiew untersteht. Die Männer bezeichnen sich als treue, ukrainische Nationalisten. Unter ihnen sind auch Ausländer. Sie alle trauen den Politikern in der ukrainischen Hauptstadt nicht. “Die Ukraine muss unabhängig und womöglich auch nicht demokratisch sein. Zumindest nicht mit einer Demokratie, wie es sie derzeit gibt. Sie ist verantwortungslos und ungerecht. Die Ukraine muss moralisch gesund sein und offensichtlich eine starke Autorität haben”, meint einer von ihnen.

Die meisten Leute, die wir bei unserer Reise trafen, hatten das Gefühl, dass niemand die Probleme ihrer Region versteht – weder Kiew, noch Russland. Dennoch ziehen es die meisten Menschen, die in den ukrainisch kontrollierten Gebieten leben, vor, Teil der Ukraine zu bleiben.

Diesen Artikel teilenKommentare

Zum selben Thema

Hat Frankreich aus den Terroranschlägen von 2015 seine Lehren gezogen?

Deutschland im Energie-Wahlkampf: Wo weht der Wind des Wandels?

Halloumi: Kann Käse-Diplomatie Zypern einen?