Leticia Mata Mayrand warnt vor Cybermobbing

Leticia Mata Mayrand warnt vor Cybermobbing
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Von Hans von der Brelie
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Gewalt gegen Jugendliche nimmt zu, insbesondere in "sozialen Medien". Euronews sprach in Madrid mit der Direktorin der Telefon-Kindernothilfe ANAR.

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Das Internet ist ein Ort voller Hass und Gewalt – auch gegenüber Kindern und Jugendlichen. Soeben gelang der spanischen Guardia Civil ein spektakulärer Schlag gegen einen Kinderpornoring, bei einer landesweiten Razzia wurden über 100 Verdächtige festgenommen. Es handelt sich um einen der wichtigsten Schläge gegen die Pädophilen-Mafia in Spanien, bei 92 Hausdurchsuchungen wurden Tausende Datenträger beschlagnahmt. – Euronews-Reporter Hans von der Brelie sprach in Madrid mit Leticia Mata Mayrand, Direktorin der spanischen Telefon-Nothilfe ANAR, eine der ältesten telefonischen Kindernothilfe-Einrichtungen weltweit. Dutzende von Psychologen, Sozialarbeitern und Juristen helfen jugendlichen Gewaltopfern per Telefon. Während des Gesprächs ist zu beobachten wie, getrennt durch eine schalldichte Scheibe, permanent Notrufe in der Zentrale eingehen, einige Psychologen sind in lange Beratungsgespräche vertieft, in einem Nebenraum werden Psychologiestudenten fortgebildet und auf die Telefonbetreuung vorbereitet. Das “rote Telefon”, Symbol von ANAR, steht niemals still: Tags- wie nachtsüber greifen Minderjährige zu diesem letzten Rettungsanker.

euronews:
Internetkriminalität ist technisch gesehen oft hochkompliziert, wie kommen Sie den Tätern auf die Spur?

Leticia Mata Mayrand:
Wir haben in Spanien hochspezialisierte Internet-Cops, eine Polizei-Einheit, die das Expertenwissen hat, Verbrecher, die sich im Internet herumtreiben, aufzuspüren. Wann immer wir über unsere Telefonhilfe-Nummer Kenntnis bekommen von einem Fall, in den ein Teenager verwickelt ist, informieren wir diese Spezialeinheit der Polizei, so dass diese Internet-Cops die Spur des Täters aufnehmen und verfolgen können.

euronews:
Wenn Sie so einen Notfall am Telefon haben, was tun sie dann zuallererst?

Leticia Mata Mayrand:
Wenn uns ein Kind in Not anruft, dann ist es extrem wichtig, sofort jeglichen Kontakt zwischen Agressor und Teenager zu unterbinden. In einem ersten Schritt machen wir dem Opfer klar, dass die problematischen Nachrichten, Fotos oder Sonstiges zur Beweissicherung benötigt werden, damit das Verbrechen auch als solches strafrechtlich verfolgt werden kann. Wir sagen dem Kind am Telefon, dass es einen Screenshot machen und (für die Strafverfolgungsbehörden) aufheben soll. Mit diesem Beweismaterial soll es dann zur Polizei gehen. Erst dann sollten, in einem zweiten Schritt, die (kriminellen) Inhalte aus den sozialen Netzwerken gelöscht werden.

euronews:
Warum ist es so wichtig, derartige Bilder so vollständig wie nur möglich aus den Netzwerken zu entfernen? Wie erleben Jugendliche “virtuelle Gewalt”?

Leticia Mata Mayrand:
Es ist extrem wichtig, dass derartiges Material komplett verschwindet. Die Kinder brauchen die Gewissheit, dass diese Bilder vollständig gelöscht werden, dass die niemand mehr die sehen kann, nie mehr. Manchmal bekommen wir Anrufe von Kindern, die uns sagen: Wir haben hier so ein (kriminelles) Video, was sollen wir denn jetzt damit machen? – Die Antwort unserer Telefonberater: Auf gar keinen Fall teilen oder versenden: Lösche das jetzt. – Denn man muss sich das wie eine Kettenreaktion vorstellen, durch das Teilen geht das immer weiter und weiter… Der Schaden, der dadurch angerichtet wird, ist ein ganz anderer Schaden verglichen mit dem, wenn jemand verprügelt wird. Bei einer Prügelei leidet man einmal, in der Situation der Schlägerei selbst. Doch die Gewalt, die in den sozialen Medien zugefügt werden kann, ist ganz anders, es ist eine andauernde, permanente, oft endlose Gewalt – solange, bis der kriminelle Inhalt gelöscht ist, und zwar überall und vollständig.

euronews:
Mal ganz ehrlich: Arbeiten die Betreiber der sozialen Medien gut mit Ihnen zusammen oder gibt es da Probleme? Wenn Sie Alarm auslösen: Wird dann wirklich alles gelöscht?

Leticia Mata Mayrand:
Nun, ganz ehrlich geantwortet, das hängt davon ab… Wenn es um sexuelle Inhalte geht, also um Fotos oder Videos Minderjähriger, dann ist der Löschvorgang schnell und effektiv. Aber wenn es um beleidigende Nachrichten geht, um Cypermobbing, dann hängt das oft vom jeweiligen Verwalter des jeweiligen Netzbetreibers ab. Einige Administratoren bewerten Cybermobbingfälle als unproblematisch, dann bleiben die im Netz stehen. Andere widerum nehmen derartige Fälle wirklich Ernst, brauchen aber eine ganze Weile, bevor sie auf die Löschtaste drücken. Aus unserer Perspektive ist es wichtig, dass derartiges Material, auch wenn es um Beleidigungen oder Cybermobbing in schriftlicher Form geht, vollständig, schnell und effektiv entfernt wird.

euronews:
Hält das spanische Strafrecht eigentlich Schritt mit der rasanten technologischen Entwicklung?

Leticia Mata Mayrand:
Hier in Spanien existiert ein weit verbreitetes Problembewusstsein, was Cybermobbing und Internetkriminalität betrifft. Die Medien greifen derartige Fälle fast täglich auf. Aus unserer Sicht, also aus der Perspektive der Kinderschutzverbände, bräuchten wir ein Gesetz, das diverse Paragraphen im Zusammenhang mit Gewalt gegen Kinder zusammenfasst. Doch es geschieht bereits viel. Im Zusammenhang mit Belästigung und Internet-Mobbing gibt es Änderungen im Strafgesetzbuch und 2013 wurde erstmals “Grooming” strafrechtlich definiert. Vor diesem Zeitpunkt war es schwierig, derartiges strafrechtlich zu verfolgen. Auch die Strafen für das Teilen und Weiterverbreiten kinderpornographischer Inhalte werden schärfer. Spanien wird in dieser Hinsicht besser, auch wenn immer noch ein langer Weg vor uns liegt.

euronews:
Internet-Grooming? Können Sie uns das kurz erläutern?

Leticia Mata Mayrand:
Das Wort gibt es in Spanien seit etwa 2010 und beschreibt folgendes Phänomen: Ein Erwachsener nimmt über die sogenannten sozialen Medien und unter Zuhilfenahme neuer Internet-Techniken Kontakt mit einem Minderjährigen auf. Der Erwachsene gibt vor, selber ein Jugendlicheer zu sein, schleicht sich in das Vertrauen des jungen Chat-Partners ein und bittet schließlich um intime Fotos oder Videos. Hat er das dann erhalten, beginnt die Erpressung, der Täter verlangt von dem Kind weitere Bilder, weitere Videos, pornographisches Material. In einigen Fällen versucht der Erwachsene, direkten Sexualkontakt zu dem Minderjährigen herzustellen. – Wir brauchen sehr viel mehr Vorbeugung.

euronews:
Derartige Fälle sind überall in Europa ganz klar als Verbrechen kategorisiert. Wie sieht es hingegen mit schriftlichen Beleidigungen, Cybermobbing per elektronischer Post und ähnlichen Fällen aus? Gilt das in Spanien als Vergehen oder als Verbrechen?

Leticia Mata Mayrand:
Das sind Verbrechen, selbst wenn es unter Jugendlichen geschieht, allerdings müssen etliche Bedingungen erfüllt sein, damit diese Kategorisierung zutrifft. Punktuelle, vereinzelte Belästigungen fallen nicht in diese Definition, es muss schon ständig und über einen gewissen Zeitraum belästigt werden. Wenn jemand versucht, über einen anderen Menschen die totale soziale Kontrolle zu erlangen und sich dabei sozialer Medien bedient, dann ist das eine schwere Straftat. Denn die Opfer werden davon schwer veletzt, haben oft Probleme, ihren Weg zurück in ein normales Alltagsleben zu finden, benötigen psychologische Hilfe.

euronews:
Und welche Rolle spielen dabei Telefon-Notdienste wie ANAR?

Leticia Mata Mayrand:
Der entscheidende Punkt ist, dass die Jugendlichen einfach, direkt und schnell Alarm schlagen können.

euronews:
Sie und Ihre Mitarbeiter haben einen langen, mehrjährigen Erfahrungsschatz. Nimmt die Gewalt gegen Jugendliche in Spanien zu oder ab?

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Leticia Mata Mayrand:
Gewalt ist Gewalt, ob das nun direkte physische Gewalt ist oder virtuelle Gewalt im Internet. Wir stellen fest, dass es innerhalb der Familie immer noch viel Gewalt gibt. Doch seit etwa drei Jahren bekommen wir mehr und mehr Anrufe von Jugendlichen, die von Gewalt zwischen Teenagern berichten. Und wenn man sich dieses Segment einmal genauer ansieht, dann stellt sich heraus, dass bei dieser zunehmenden Gewalt zwischen Jugendlichen immer öfters Internettechnologien und soziale Medien eine zentrale Rolle spielen.

euronews:
Nachdem wir im Laufe des Gesprächs den Ausdruck Cybermobbing oder Internetmobbing verwendet haben, könnten Sie sich an einer Definition versuchen?

Leticia Mata Mayrand:
Cybermobbing ist, wenn eine Gruppe von Freunden oder Schulkameraden oder auch nur ein Freund oder ein Schulkamerad eine Bekannte oder einen Bekannten aus dem sozialen Umfeld angreift und dabei Internettechniken verwendet. Das können Beleidigungen sein oder Drohungen, es kann dabei um die Verbreitung entwürdigender Videos oder Fotos gehen. Wenn derartige Aktionen über einen längeren Zeitraum andauern, dann können dadurch schwere psychologische Schäden verursacht werden, die über Jahre hinweg bleiben. Die betroffenen Mädchen oder Jungen leiden enorm darunter.

euronews:
Sie haben vorhin erwähnt, dass Sie seit drei Jahren eine Veränderung beobachten. Können Sie darauf noch einmal etwas genauer eingehen?

Leticia Mata Mayrand:
Wir denken, dass es sich seit etwa drei Jahren nicht mehr um nur vereinzelte Fälle handelt – sondern um ein neues Phänomen. Oft werden Applikationen wie WhatsApp oder andere neue Applikationen der sozialen Netzwerke verwendet. In der “alten Zeit” endete das Mobbing mit der Schule. Wer nach Hause kam, der hatte kein Mobbing-Problem mehr, das war dann vorbei. Doch heute ist das anders. Die Belästigung unter Verwendung sogenannter sozialer Medien geht auch nach Schulschluss weiter. Die Belästigung, das Mobbing klebt sozusagen an der Telefonnummer des Opfers, bleibt bei ihm, ständig, bis zur Schlafenszeit. Und dieses moderne Dauermobbing richtet verheerende Schäden bei den Kindern an.

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euronews:
Ist denn das Mobbing zwischen Gleichaltrigen genauso problematisch wie Internetgewalt gegen Jugendliche, die von Erwachsenen ausgeht?

Leticia Mata Mayrand:
Es gibt einige wissenschaftliche Studien, die zeigen, dass Internetmobbing zwischen Jugendlichen, also Teenager, die andere Teenager in den sozialen Netzwerken bloßstellen, sogar größeren Schaden anrichten kann, als Gewalt eines Erwachsenen gegen ein Kind. In 92 Prozent aller Fälle von Mobbing zwischen Gleichaltrigen kommt es zu psychologischen Störungen: Angstanfälle, Traurigkeit, Depression, niedriges Selbstwertgefühl, Schlafprobleme, Essstörungen und bei schweren Mobbingfällen auch Selbstverstümmelungen. Das kann bis hin zur Selbstmordgefährdung reichen, weil die betroffenen Jugendlichen die für sie extrem schmerzhafte Situation beenden wollen, egal wie.

euronews:
Welchen Rat können Sie denn zum Abschluss dieses Gesprächs geben?

Leticia Mata Mayrand:
Wir müssen die Eltern an Bord holen. Anders formuliert: Kinder sollten sich trauen, ihre Eltern um Hilfe zu bitten. Manchmal fragen sie zu spät, erst dann, wenn das Leiden schon chronisch ist. – Viele Teenager haben ein geringes Risikobewusstsein, weshalb sie viel zu viel von ihrer Intimsphäre im Internet preisgeben. Selbst sexuelle Inhalte werden geteilt, in Form von Fotos oder Videos, denn viele Jugendliche sind sich des damit verbundenen Risikos nicht bewusst, dass ihnen die Kontrolle über dieses Material völlig entgleiten kann. – Wir brauchen Vorbeugung. Und da sind die Eltern gefragt. Wenn Eltern ihren Kindern schon Mobiltelefone geben, dann sollten sie unbedingt im Detail mit ihren Kindern über die damit verbundenen Risiken für die Intimsphäre sprechen, ihnen erklären, wie sie diese Intimsphäre schützen sollten. Und sie sollten ihren Kindern auch erklären, was gegenseitige Rücksichtnahme bedeutet, warum Respekt gegenüber anderen Menschen so wichtig ist.

Wer sich mit ANAR in Madrid in Verbindung setzen möchte, findet alle Kontaktdaten unter dieser Internetadresse: www.anar.org .

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