David Miliband: "Man sollte den europäischen Mainstream nicht abschreiben"

David Miliband: "Man sollte den europäischen Mainstream nicht abschreiben"
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Von Andrew Neil
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Der britische Politiker im Interview mit Euronews-Reporter Andrew Neil über das Abbröckeln der Mittelschicht, die aufstrebende Rechte und die Zukunft der etablierten Parteien - uncut, unbearbeitet.

Euronews-Gastreporter Andrew Neil hat den britischen Politiker David Miliband - jetziger Präsident des International Rescue Committee und früherer britischer Außenminister - zum Interview getroffen. Themen waren das Abbröckeln der Mittelschicht, die aufstrebende Rechte und die Zukunft der etablierten Parteien - uncut, unbearbeitet.

Euronews-Reporter Andrew Neil:"David Miliband herzlich Willkommen."

David Miliband:"Ich danke Ihnen."

Euronews:"Dieses Gespräch wird nicht geschnitten, es wird zwanzig Minuten dauern. Die Zuschauer werden eine unbearbeitete Version sehen. Also lassen sie mich anfangen. Wenn man sich heutzutage in großen Teilen der demokratischen Welt umsieht, beobachtet man ein Abbröckeln der Mitte. Es ist ein Untergang und Niedergang der Mainstream-Parteien. Warum?"

David Miliband:"Ich denke, es gibt zwei Gründe, warum sich der Druck auf die Mitte erhöht und eine Zersplitterung der Mitte stattfindet, ohne sie aber abschreiben zu wollen. Zum einen ist sie ein Opfer ihres Erfolgs. Die 70-jährige friedliche Nachkriegszeit hat einige Unterschiede zwischen rechts und links aufgehoben. Zum anderen ist sie ein Opfer des Versagens in der Finanzkrise, die gezeigt hat, dass man in einer vernetzten Welt nur so stark ist wie das schwächste Glied. Ich denke, dass es jetzt Dinge gibt, die fast normal erscheinen. Quantitative Lockerung wäre ein gutes Beispiel."

Euronews:"Das Drucken von Geld durch die Zentralbanken."

Abbröckeln der Mittelschicht

David Miliband:"Hätte ich vor zehn oder zwölf Jahren in Ihrer Show gesagt, dass quantitative Lockerung für die Weltwirtschaft auf der Tagesordnung steht, wäre das für Sie eine extreme Idee gewesen, die weit über die Norm hinausgeht. Ich denke auch, dass das Ausmaß der Ungleichheit und Instabilität, das durch das Zusammenwachsen der Weltwirtschaft in den letzten 20 Jahren entstanden ist, wirklich zu einem Umdenken über die Entwicklung einer für die moderne Welt angemessenen politischen Wirtschaft geführt hat. Ich habe gestern Tom Friedman gehört…"

Euronews:"Den Kolumnisten der New York Times."

David Miliband:"Den Kolumnisten der New York Times und meiner Meinung nach weist er auf einen wichtigen Punkt hin. Ich werde jetzt nicht die ganzen zwanzig Minuten für meine erste Antwort verwenden. Für ihn sind es nicht nur die beiden Faktoren, die ich beschrieben habe, sondern die technologische Revolution sei ein dritter Faktor für den Niedergang der Familien mit mittleren Einkommen. Er sagte aber auch, das Land mit mittlerem Einkommen. Er meint, dass es keine Mittelschicht mehr gibt."

Euronews:"Lassen Sie uns darauf näher eingehen. Die Finanzkrise im Jahr 2008 hat eindeutig Folgen. Wir leben immer noch mit den Auswirkungen, das war eine echte Krise des Kapitalismus. Es war eine Krise des Finanzkapitalismus, und jetzt ist es eine Krise der Linken. Es betrifft die Sozialdemokraten in Europa. Menschen wie sie. Sie leiden sogar noch mehr als die rechte Mitte. Warum?"

David Miliband:"Es betrifft nicht alle. Sie würden nicht sagen, dass das in Kanada passiert und sie würden nicht sagen, dass dies in Frankreich geschieht, nur als Beispiel."

Euronews: "Es ist in Frankreich passiert, die französische sozialistische Partei existiert kaum noch. Die italienische sozialistische Partei existiert kaum noch. Die griechische sozialistische Partei existiert quasi nicht mehr. Die deutschen Sozialdemokraten hatten gerade das schlechteste Wahlergebnis seit 50 Jahren."

David Miliband:"Aber es passierte nicht überall."

Euronews: _"Aber fast."
_

Etablierte Parteien wurden nach der Finanzkrise abgestraft

David Miliband:"Nein, der Punkt ist, dass diejenigen, die während der Finanzkrise regierten, bestraft wurden, unabhängig davon, ob sie Mitte rechts oder Mitte links waren. Meiner Meinung nach ist das ein wesentlicher Punkt. Ich denke, dass die Mitte Links Parteien ihre Überlegungen zur Stabilisierung der Wirtschaft, mit der die Menschen konfrontiert sind, überarbeiten müssen. Sie müssen die massiven Ungleichheiten beseitigen, für die Davos zum Symbol geworden ist."

Euronews:"Aber warum dauert es so lange? Ich meine, man spricht seit Ewigkeiten darüber. In Davos spricht man jedes Jahr von Ungleichheit und die Ungleichheit wird immer größer."

David Miliband:"Nein, das stimmt nicht für alle Länder . Bei dem kanadischen oder auch anderen Beispielen sieht man, dass Mindestlöhne angehoben wurden, dass sich die Einkommensteuerguthaben entwickelt haben, dass nicht nur in einen flexiblen Arbeitsmarkt investiert wurde, sondern auch in einen gerechten Arbeitsmarkt. Meiner Meinung nach kann man nicht sagen, dass das ein pauschaler Fehler ist. Die Debatte darüber verdeckt, ob die keynesianische Antwort oder die Sparmaßnahmen richtig sind. Was auch immer Sie davon halten, es gibt eine mikroökonomische Herausforderung, die aufgrund der technologischen und anderen Veränderungen, die wir besprochen haben, tiefgreifend ist."

Euronews:"Richtig. Sie können auf Kanada verweisen und sagen, dass es für Trudeau noch sehr früh ist. Wir werden sehen. Aber insgesamt gesehen..."

David Miliband:"Man kann auf Spanien und Portugal verweisen, die beide sozialdemokratische und sozialistische Regierungen haben, die…"

Euronews:"...die haben auch Minderheitenregierungen und wir werden sehen, wie stabil die sind."

David Miliband:"Ich denke, dass sich alle Regierungen heutzutage wie eine Minderheit fühlen."

Euronews:"Für viele ist doch folgendes wichtig: Für die meisten Leute stagniert der Durchschnittslohn seit der Krise. Er wurde nicht erhöht. Die zwölf reichsten Menschen, die in Davos waren, sind jetzt um einhundertfünfundsiebzig Milliarden Dollar reicher als vor zehn Jahren."

David Miliband:"Wenn Sie das sagen."

Welche Lösungen bieten die Sozialdemokraten an?

Euronews:"Und die Sozialdemokraten, Ihr politisches Lager, hat dazu nichts zu sagen."

David Miliband:"Nein, ich glaube nicht, dass das stimmt. Überall reden die Leute darüber, dass die Mindestlöhne angehoben werden müssen. Wie Gewerkschaften organisiert werden müssen. Wie die Steuersätze sein sollen. Ich meine, ich wohne in New York. Momentan gibt es zum ersten Mal seit 20 Jahren eine Debatte über einen angemessenen Steuersatz. Für diejenigen mit dem höchsten Einkommen. Es geht in der Politik der linken Mitte darum, den unteren Rand zu stützen und nicht nur den oberen Rand zu beschränken. Sie müssen beides tun, wenn Sie gegen die Ungleichheit ankämpfen wollen. Ich denke, es ist richtig, etwas gegen die Gleichgültigkeit zu unternehmen, aber ich würde es nicht als eine Plage beschreiben."

Euronews:"Ich frage mich, ob die Probleme nicht tiefer gehen, als sie sie beschreiben. Wirtschaftlicher Erfolg bringt Ihnen heute keinen Wahlerfolg. Schauen Sie sich die Wahl in Schweden an. Die sozialdemokratische Koalition in Schweden sorgt für Vollbeschäftigung, aber sie hatten das schlechteste Ergebnis seit 50 Jahren. Frau Merkel und die Sozialdemokraten, die deutsche Koalition, die mächtigste Wirtschaft Europas, Vollbeschäftigung, florierend, aber sowohl die Christdemokraten als auch die Sozialdemokraten haben Stimmen verloren. Hier passiert etwas völlig unverständliches."

David Miliband:"Sie und ich wissen, dass ein wichtiger Grund dafür die Migrationspolitik ist. Die Art und Weise, wie Migration mit stagnierenden oder fallenden Löhnen zusammenhängt, ist ein großer Teil dieser Geschichte. Schweden ist meiner Meinung nach ein interessantes Beispiel. Ich war letztes Jahr dort. Viele dort haben das Gefühl, dass sie einen überproportionalen Anteil an der europäischen Last tragen, wenn es um die Migration geht. Ich leite eine NGO, die im Libanon und Jordanien mit Flüchtlingen arbeitet. Wir hatten 2012, 2013 und 2014 davor gewarnt, dass eine Explosion bevorsteht, das fünf Millionen Flüchtlinge aus Syrien nicht aufzuhalten sind. Die Lektion daraus ist nicht, dass jedes Land sein eigenes Ding machen sollte. Europa kam nicht vor 2015 zusammen, als 1 bis 1,5 Millionen Menschen auf dem Kontinent ankamen. Das hat letztendlich dazu geführt, dass acht europäische Länder aus dem gemeinsamen System ausgeschert sind, und Schweden das Gefühl hatte, einen unverhältnismäßigen Anteil daran getragen zu haben."

Politik hat sich vom Leben entfernt

Euronews: "Aber was sagt Ihr Teil des politischen Spektrums seinen traditionellen Wählern? Ihren Wählern aus der Arbeiterklasse, Arbeiter, wie sie in Amerika genannt werden. In Großbritannien, Frankreich oder Deutschland glauben sie, dass sich keiner mehr für sie interessiert. Sie denken, sie wurden nicht gehört, als sie an der Macht waren. Ich meine nicht Sie persönlich, ich meine die Politik, die sie vertreten. Ihre Situation wurde immer schwieriger. Die Reichen werden immer reicher und sie kämpfen darum, über die Runden zu kommen. Und Sie haben nicht zugehört."

David Miliband:"Ich denke, es ist leicht, sich in diese Anschuldigung zu flüchten und das Problem wäre nur, wir hätten nicht zugehört. Ich glaube nicht, dass es so ist, ich denke, es geht tiefer. Ich habe einen Teil des Nordostens Englands repräsentiert, der in unserer Amtszeit starke Wachstumsraten hatte. Es gab relativ hohe Beschäftigungsraten und niedrigere Arbeitslosenquoten als in den achtziger Jahren. Sie haben mit überwältigender Mehrheit für den Brexit gestimmt, einschließlich derer, die erwerbstätig sind und eine relativ gut bezahlte Arbeit haben. Nissan war die Straße runter in meinem Wahlkreis. Die Herausforderungen liegen tiefer. Ich denke, dass zwei Dinge passiert sind. Erstens, die Art und Weise, wie Politik die Veränderungen im Leben der Menschen und die Veränderungen im Leben ihrer Kinder beeinflusst. Das Stärkste, was ich während der Referendumskampagne von Leuten im Nordosten Englands in meinem Wahlkreis hörte, war, 'wir wissen nicht, wo Jobs für unsere Kinder geschaffen werden', nicht nur 'für uns', sondern 'für unsere Kinder'. Und zweitens hat sich die Politik von ihrem Leben entfernt. In Großbritannien ist dies vor allem die Schwäche der Kommunalverwaltung, die Menschen haben das Gefühl, die Politik ist weit weg."

Europas Sozialdemokraten stehen im Schatten

Euronews:"Danke, dass Sie weitermachen, Sie stehen im Moment ein bisschen im Schatten."

David Miliband:"Ich stehe gern im Schatten."

Euronews:"Ein wenig wie Europas Sozialdemokraten. Wie gesagt, unser Interview ist ungeschnitten. Selbst wenn es einen großen Erlöser gäbe, wie beispielsweise Emmanuel Macron, von dem man nach seinem Sieg in Frankreich dachte, er würde die europäische Politik wieder in die Mitte rücken. Er war der große Erlöser. Er war der Beweis, dass der Populismus in Europa nicht den Brexit-Weg und nicht den Trump-Weg einschlagen würde. Heute 18 Monate später hat er echte Probleme."

David Miliband:"Regieren ist schwer. Machen wir uns klar, dass die Politik der Wut einfacher ist, als die Politik der Antworten. Das ist der Verdienst von Herrn Macron. Präsident Macron versucht tatsächlich eine Politik der Antworten zu praktizieren. Er ist erst eineinhalb Jahre im Amt und ich denke, die Geschichte im Januar 2019 lautet, dass die Mitte in Europa tatsächlich bestehen bleibt und dass die Wahlen zum Europäischen Parlament im April Mai dieses Jahres keinen Aufstieg der populistischen Rechten bringen werden. Schaut man sich ein Land wie Polen an, sind die Populisten tatsächlich auf dem Rückzug. Ich denke, es ist ein sehr starkes Argument, dass die AfD in Deutschland ihren Höchststand erreicht hat und nicht weiter wächst. Eine nationalistische Politik, die darin besteht, der Welt den Rücken zuzukehren, macht mir keine Sorgen. Aber man sollte auch keine Tatsachen abschreiben, wie die Widerstandsfähigkeit des europäischen Sozialmodells insbesondere in Ländern wie Spanien, Portugal und Griechenland - das ist etwas, was wir alle anerkennen sollten."

Euronews: "Ich frage mich, ob nicht auch sie Schuld an dieser Selbstgefälligkeit haben. Die AfD, die rechtspopulistische Partei in Deutschland, hat einen Sitz im Europäischen Parlament. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es diesmal mehr als einen Sitz geben wird. Es wird auch eine Menge Rechtspopulisten aus Osteuropa geben. In Frankreich wird sich der "Front National" gut schlagen. Macrons Leute sind besorgt."

David Miliband:"Vor fünf Jahren haben sie sich gut geschlagen."

Eine Politik der Wut bringt nichts

Euronews:"Auch die Lega Nord von Salvini wird gut abschneiden. Sie werden wahrscheinlich keine Mehrheit bekommen, aber sie werden wachsen."

David Miliband:"Lassen Sie uns nicht über den Grad der Selbstgefälligkeit streiten. Ich habe zweimal gesagt, dass es nichts gibt, worüber man selbstgefällig sein könnte. Ich denke jedoch, dass der sachlichere Teil der Diskussion darin besteht, die Diagnose richtig ist, dass eine Politik der Wut nichts bringt. Also welche Antworten hat die Politik? Wie reagiert sie auf die tatsächlichen Bedürfnisse und die tatsächlichen Beschwerden der Menschen?"

Euronews:"Aber wie lautet die Diagnose? Die Leute reden und reden darüber, sie haben das Problem erkannt, genau wie Sie gerade. Was ich nicht sehe, ist die sozialdemokratische Lösung. Die populistische Rechte dagegen bietet Lösungen. Sie können richtig oder falsch sein, da kann ich nichts zu sagen. Ich sehe Lösungsvorschläge ihres Äquivalents bei den Linken. In Großbritannien hat Herr Corbyn eine Reihe von Ansätzen, die weit weit außerhalb des traditionellen Mainstreams liegen. Was haben die Sozialdemokraten zu sagen?"

David Miliband:"Sie haben zu einer ganzen Reihe von Themen etwas zu sagen. Wir können über sie sprechen, indem wir auf das zurückkommen, was ich am Anfang gesagt habe. Wir haben noch keine Standardantwort, weil die Arbeit noch im Gange ist und ich der erste bin..."

Euronews:"Wie lange brauchen sie?"

David Miliband: _"Es wäre schlimmer zu sagen: 'Ich habe eine einfache Antwort, die die falsche Antwort ist', denn der Punkt bei den Populisten und offen gesagt auch bei den Ultralinken ist, dass sie keine Antwort haben, dass sie zwar auf der Welle der Wut surfen, aber sie haben nicht wirklich eine Antwort für diejenigen, die wenig verdienen, die ihren Job mit mittelmäßigem Einkommen verloren habe, jetzt weniger verdienen und sich um die Familie sorgen. Sie haben keine Anwort für diese Menschen. Jetzt kann man natürlich sagen, man braucht bessere Antworten zur Arbeitslosenversicherung, die einen großen Teil der modernen sozialdemokratischen Debatte ausmacht. Man braucht bessere Antworten auf das Konzept einer ökologischen Wende (Green New Deal). Man braucht bessere Antworten auf die Infrastrukturausgaben. Man braucht bessere Antworten darauf, wie man Städte modernisieren kann. Aber ich glaube nicht, dass es schlechtere Antworten sind als das Schlangengift, das von den Extremen verkauft wird."
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Jeremy Corbyn ist eine Erfolgsgeschichte

Euronews:"Aber wenn Jeremy Corbyn hier wäre, der Labour-Chef in Großbritannien, er würde sagen, der Grund, warum es Labour in Großbritannien besser geht als den französischen Sozialisten, oder den deutschen Sozialdemokraten, oder den italienischen Sozialdemokraten, ist, 'ich habe Labour nach links gerückt, sie steht jetzt viel mehr links, als sie es je unter David Miliband war. Ich spreche von höheren Steuern für die Reichen. Ich spreche von mehr Staatseigentum. Ich spreche von mehr staatlicher Intervention und Subventionen für all die Dinge, die die neue Labour in Großbritannien nicht anfassen wollte.' Er ist eine Erfolgsgeschichte."

David Miliband: _"Er ist im Moment nicht in der Regierung. Wir haben die vergangene Wahl verloren, und meiner Meinung nach ist es wichtig, sich daran zu erinnern, dass das Zweiparteiensystem in Großbritannien sich wirklich vom Rest der europäischen Politik unterscheidet. Es gibt kein politisches System, das die gleiche Vorliebe für das Zweiparteienmodell hat, wie wir in Großbritannien. Und mir fällt auf, dass Labour trotz der Tatsache, dass wir eine Regierung haben, die in vielerlei Hinsicht - beim Brexit, aber auch bei anderen Themen - das Land nirgendwo hinführt, immer noch Schwierigkeiten hat, sich durchzusetzen. Also schauen wir nicht auf die Ergebnisse der Meinungsumfragen. Lassen Sie uns darüber sprechen, was das Leben der Menschen, über die Sie und ich in den letzten 15 Minuten gesprochen haben, tatsächlich verändern würde."
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Erleben wir eine sozialdemokratische Renaissance?

Euronews:"Aber woher sollte die sozialdemokratische Renaissance herkommen. Wer sind die Vordenker? Ihr Flügel der Labour Party in Großbritannien wurde ziemlich an den Rand gedrängt; die französischen Sozialisten stehen in den Umfragen bei etwa acht Prozent, ebenso wie die italienischen Sozialisten; die deutschen Sozialdemokraten klammern sich an die Große Koalition. Woher kommt Erneuerung?"

David Miliband:"Sozialdemokraten wie ich sind in lokalen Regierungen an der Macht, die in anderen Ländern Europas tatsächlich sehr viel Macht haben, die in den USA sehr viel Macht haben. Egal ob Sie sich Staaten oder Städte ansehen, dort sehen Sie, wie die Verantwortlichen ihre Städte und Staaten für Investitionen attraktiv machen; wie sie tatsächlich die Arbeitslosigkeit eindämmen; wie sie zum ersten Mal seit einem Jahrzehnt Löhne erhöhen. Ich sehe eine Renaissance durch praktisches Engagement auf lokaler Ebene. Da ich in den Staaten lebe, beobachte ich die US-Vorwahlen und lokale Wahlkampfkampagnen aufmerksam. Da sehe ich eine ganze Reihe von ziemlich lebhaften Debatten. Und offen gesagt, nicht bei den Ultralinken. Es geht darum, wie die ökologische Wende gelingt. Es geht darum, wie man das Steuer- und Sozialsystem zum Wohle der Bürger gestaltet. Man nutzt beispielsweise die Macht der Universitäten, um Städte wirklich zu den Orten zu machen, die sowohl wirtschaftlichen als auch sozialen Fortschritt bieten. Und wenn Sie mich fragen, wo die leuchtenden Vorbilder sind - sie kommen nicht aus den Think Tanks, sondern von Leuten, die an der Macht sind und etwas bewegen. Und man kann Newcastle, London oder Manchester als britische Beispiele nennen."

Euronews:"Herr Renzi in Italien hat genau das gleiche Argument als Bürgermeister von Florenz verwendet und wo ist er jetzt mit den deutschen und italienischen Sozialdemokraten? Ich glaube, dass die Leute, die Menschen, die traditionell für Parteien wie die Ihre gestimmt haben, der Meinung sind, dass sie sich nicht mehr wirklich für sie interessieren. Es gibt eine Art Großstadt-Sozialismus, an dem die Labour Party in Großbritannien oder andere interessiert sind, aber nicht die Leute, die zwei Jobs zum Überleben brauchen. Die sind der Meinung, dass Globalisierung gut für Menschen wie Sie und mich ist, aber nicht für sie, denn Globalisierung macht den Arbeitsmarkt schwieriger. Und Sie haben sie einfach übersehen."

David Miliband:"Ich teile Ihre Meinung nicht und ich glaube auch nicht, dass sie sich gegen uns gewandt haben, weil sie an den Orten, die ich vertreten habe, immer noch den Labour-Abgeordneten wählen. Und zweitens bestreite ich, dass wir ihnen den Rücken gekehrt haben. Wir stehen vor der Wahl, dass wir entweder versuchen, die Globalisierung fairer zu gestalten, oder wir bleiben wo wir sind bzw. fallen zurück. Das Argument beim Brexit ist am Ende, ob Europa ein Großbritannien mit niedrigem mittleren Einkommen unterstützt oder nicht. Mein Argument ist, dass die EU dafür da ist, das zu tun. Und ich denke, es ist sehr wichtig, dass wir dieses Argument vorbringen. Ich sehe überhaupt keine Antwort für die Menschen, auf die Sie sich in diesem Interview konzentrieren, wenn man die Rolläden runterlässt, denn das bedeutet null Investitionen, null Arbeitsplätze, null Löhne."

Horrorszenario bei Rezession

Euronews:"Sie glauben nicht, dass die Europawahlen im Mai so schlimm enden könnten, im Gegensatz dazu, was andere Leute über den Aufstieg der Rechtspopulisten sagen. Im Moment stellen die rechtspopulisten nur etwa 23 Prozent des Europäischen Parlaments. Aber fast überall, wo ich hinschaue, werden sie viel mehr als das bekommen. Sie werden zwar keine Mehrheit bekommen, und das im Kontext einer Eurozone im Wachstum. Die Krise der Eurozone ist endlich überwunden, es wurden mehr Arbeitsplätze geschaffen und das Wirtschaftswachstum gefördert. Aber das könnte zum Stillstand kommen. Dann gäbe es nicht nur die aktuelle Sorge vor dem Anstieg der Populisten, wenn die Eurozone in eine Rezession fällt, gäbe es ein wahres Horror-Szenario."

David Miliband:"Das ist ein sehr wichtiger Punkt, und Leute wie ich kritisieren seit langem den Politikmix, der in Europa existiert. Wir haben immer gesagt, dass Sparsamkeit plus Reform weder politische Nachhaltigkeit noch wirtschaftlichen Nutzen bringen wird. Man braucht eine wachstums- und reformfreundliche Denkweise. Und das Europa, die Eurozone - nicht die Länder, die nicht dem Euro angehören -, sondern die Eurozone, in einem niedrigen Wachstumszyklus gefangen ist, liegt meiner Meinung nach daran, dass es Reformen, aber keine Wachstumspolitik gegeben hat. Und die makroökonomische Haltung hat Europa und die Eurozone in die Abhängigkeit von Mario Draghi und der EZB gebracht."

Euronews:"Den Präsidenten der Europäischen Zentralbank."

David Miliband:"Den Präsidenten der Europäischen Zentralbank. Und dass er auch weiterhin diese Rolle spielen wird, aber nicht nur das. Sie müssen die Finanzpolitik ins Spiel bringen, denn sonst werden Sie die europäische Wirtschaft nicht wieder ins Gleichgewicht bringen. Und wenn man das Ganze aus eine globalen Perspektive betrachtet, besteht die große Gefahr, dass man in eine Situation nach japanischen Vorbild gerät..."

Euronews:"Eine deflationäre Spirale."

David Miliband:"Ein 20-Jahres-Syndrom, und genau das ist das Argument, das ich dagegen anführen würde: Das im Wesentlichen der zentrale Grundsatz der deutschen Wirtschaftspolitik war, dass jedes Land die gleiche makroökonomische Haltung haben sollte wie Deutschland. Also, beschuldigen Sie nicht die Sozialdemokraten dafür."

Euronews:"Wenn also Ihr Optimismus greift, und es für die traditionellen Mainstream-Parteien nicht vorbei sein sollte, dann zeigen Sie mir ein Land in Europa, wo ich ein Comeback sehen kann."

David Miliband:"Das brauche ich nicht, denn eigentlich habe ich schon einige erwähnt. Ich sprach von Polen, dass in die populistische Falle gegangen ist. Ich sage voraus, dass..."

Euronews:"Dort gibt es immer noch eine populistische Regierung."

David Miliband:"Das stimmt, aber die Regierung muss sich derzeit keiner Wahl stellen. Ich sage voraus, dass die Europawahlen in Polen tatsächlich eine durchschlagende proeuropäische Mehrheit hervorbringen werden. Also nur um das als Beispiel zu nehmen. Aber den Punkt, den ich in diesem Interview vermitteln möchte, ist, dass Sie von einer völlig legitimen Herausforderung sprechen, und das Schlimmste, was wir tun können, bestünde darin, vorzugeben, dass darauf fertige Antworten existieren. Aber das zweitschlechteste wäre, den europäischen Mainstream und seine Möglichkeit, die Bedürfnisse seiner Bevölkerung zu befriedigen, abzuschreiben."

Andrew Neil:"Wir werden sehen, David Milliband. Vielen Dank."

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