Sie fürchten jeden Tag um die Familien im Kriegsgebiet in der Ukraine. Journalistin Natalia Liubchenkova berichtet, wie sich eine Ukrainerin in Frankreich fühlt.
Am Tag vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine kam eine Freundin von mir zum Abendessen. Sie ist Ukrainerin, wie ich. Wir blieben bis in die frühen Morgenstunden auf und diskutierten über die Eskalation an der Grenze, die möglichen Szenarien, die beste Möglichkeit, unsere Familien davon zu überzeugen, hierher zu kommen, oder ob wir versuchen sollten, nach Hause zurückzukehren.
Wir haben es geschafft, ein paar Stunden zu schlafen, bevor es Zeit war, aufzustehen und zu arbeiten. Als wir uns zum Kaffee in der Küche trafen, wussten wir beide bereits, dass der Krieg begonnen hatte, sagten aber kein Wort. Bevor ich den Wasserkessel aufsetzte, hatte meine Freundin bereits eine Liste mit Hilfsgütern für die Armee und die Zivilbevölkerung in der Heimat und suchte nach den notwendigsten und dringendsten Dingen.
Wenn es etwas gibt, wofür ich dankbar sein kann, dann ist es, dass ich die schwierigste Nachricht in meinem Leben mit einer Person erlebt habe, die verstehen konnte, wie sich das anfühlt, und der es mehr um Taten als um Worte ging.
Und das Wichtigste ist natürlich, dass meine Familie in meiner Heimat Kiew noch intakt ist. Ich habe es nicht geschafft, sie zu überzeugen, sich in Sicherheit zu begeben, als es noch möglich war, ich habe mich nicht genug bemüht, damit muss ich leben.
Ich glaube, den meisten im Ausland lebenden Ukrainern geht es genauso. Hier im Westen waren die Nachrichten über mein Heimatland einige Monate lang wirklich beängstigend. Doch zu Hause haben die Behörden in den Städten und in den Skigebieten den Ukrainerinnen und Ukrainern gesagt, sie sollten nicht in Panik geraten.
Aber jetzt wird mein Land, meine Heimatstadt, ruiniert, all diese Menschenleben sind verloren... Ich glaube, das habe ich noch nicht wirklich erfasst. Eines scheint schon jetzt klar und deutlich: Von unserem normalen Leben ist nichts mehr übrig, es wurde durch den russischen Einmarsch ruiniert.
Die Schuld, die Scham und die Verzweiflung darüber, dass ich gerade nicht zu Hause bin, überwältigen mich. Als Journalistin bin ich in den letzten sieben Jahren viel in den Osten der Ukraine gereist, um den dortigen Langzeitkonflikt im Westen in den Fokus zu rücken. Und jetzt, während all das passiert, bin ich nicht da.
Die gescheiterte Evakuierung meiner Familie und Freunde hat alles andere unwichtig gemacht. Warum bin ich dann überhaupt in Frankreich?
Ukrainerinnen und Ukrainer im Ausland leben nur noch von einer Minute auf die nächste. Und aktiv zu werden, ist die einzige Möglichkeit, jede Minute ein bisschen schneller vergehen zu lassen. Deshalb überrascht es mich wenig, dass meine Mitbürger freiwillig zu Tausenden aus dem Ausland nach Hause zurückkehren, um sich dem Kampf anzuschließen. So gut wie jeder und jede, die ich außerhalb des Landes kenne, ist in diesen Tagen zum Kriegsfreiwilligen geworden - sie koordinieren, sammeln, transportieren, informieren, leisten professionelle psychologische Unterstützung.
Die ukrainische Kirche in Lyon ist in dieser Woche abends überfüllt. Ich sehe einige Leute, die ich kenne: Ukrainerinnen, Ukrainer, Französinnen und Franzosen, Russinnen und Russen.
Die schweren Lastwagen sind mit Hilfsgütern beladen, die in die Ukraine gebracht werden sollen. Menschen, die mit ihren Autos vorbeifahren, halten an, um Geld zu spenden.
Im Inneren der Kirche sortieren die Leute Gegenstände nach Kategorien und packen Kisten. Lebensmittel, Kleidung für Kinder, Medikamente, Decken...
Ich sehe niemanden, der das alles leitet oder laut spricht, um Anweisungen zu geben, aber jeder weiß, was zu tun ist. Ich weiß nicht, wie das funktioniert. Dies ist einer von zwei Orten in meiner Stadt, an denen ich mich in diesen Tagen wohlfühle.
Als am Mittwochabend der vergangenen Woche ein Lastwagen mit Hilfsgütern beladen wurde, gab es genug verpackte Hilfsgüter, um drei weitere zu füllen. Einen Tag später wurden allein aus der Region Lyon fünf Lastwagen in die Ukraine geschickt. Neben den Lastwagen gibt es auch kleine Lieferwagen, die ständig hin- und herfahren. Alles wird von einer jungen berufstätigen Mutter per Telefon koordiniert. Normalerweise ist sie gerne in den Bergen, fährt Rad und verbringt Zeit mit ihrer kleinen Tochter.
Jetzt findet sie - umgeben von Ukrainerinnen und Ukrainern - irgendwie Fahrer von Schwerlasttransportern, die sich bereit erklären, kostenlos in die Ukraine zu fahren, Leute, die überall Hilfsgüter einsammeln, Leute, die sie sortieren, überall gibt es diese stillen Menschen, die Verantwortung übernehmen, und die Dinge kommen voran.
Ein weiterer Ort, an dem ich mich im Moment aufhalte, ist der zentrale Platz von Lyon am Sonntag. Dort finden die großen Proteste gegen die Invasion in der Ukraine statt. Die Unterstützung des französischen Volkes, der internationalen Gemeinschaft ist für uns gerade jetzt extrem wichtig, Gleichgültigkeit schmerzt.
Meine Freunde in der Ostukraine bitten um gute Nachrichten von hier, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ist das genug? Ich weiß es nicht.