Telekonsultationen erreichten in der COVID-19-Pandemie ihren Höhepunkt. In Europa bleiben sie deutlich über Vorkrisenniveau. Fachleute erklären die großen Länderunterschiede.
Arzt am Telefon: Wird die Telekonsultation in Europa immer verbreiteter?
Arzt am Telefon: Welches europäische Land nutzt Telemedizin am meisten?
COVID-19 hat den Alltag verändert. Manche Neuerungen wirken bis heute nach. Die ärztliche Telekonsultation gehört dazu. Während der Pandemie waren Besuche in der Praxis ein Gesundheitsrisiko. Viele Länder starteten deshalb Dienste für Sprechstunden auf Distanz oder bauten sie aus. Seitdem gewinnen Telekonsultationen europaweit weiter an Boden – verglichen mit der Zeit vor der Pandemie.
Wie weit sind Telekonsultationen in Europa verbreitet? Um wie viel stieg die Zahl pro Person? Und welche Länder haben heute den höchsten Anteil an Telekonsultationen?
Telekonsultation, auch Telemedizin genannt, wurde in der COVID-19-Pandemie essenziell für die Versorgung. 2019 lag die Zahl telefonischer oder per Video geführter Sprechstunden im Schnitt bei null Komma fünf pro Patient und Jahr in den OECD-Ländern, so der ‚Health at a Glance 2025‘-Bericht.
Die Studie spiegelt vor allem Europa wider: 18 der 22 berücksichtigten Länder liegen in Europa.
Bis 2021 hatte sich die Nutzung mehr als verdoppelt – auf eins Komma drei Telekonsultationen. Bis 2023 stabilisierte sich der Wert bei eins pro Patient und Jahr. Der Bericht betont: Das ist ein teilweiser Rückzug von den Pandemie-Spitzen, aber weiterhin deutlich über dem Vorkrisenniveau.
"Der Trend ist insgesamt weiter steigend, mit klaren Unterschieden zwischen den Ländern. In manchen Staaten ist die Telekonsultation inzwischen fester Bestandteil der Versorgung", sagte Dr. David Novillo Ortiz, Leiter für Daten, KI und digitale Gesundheit im Regionalbüro für Europa der Weltgesundheitsorganisation (WHO), gegenüber Euronews Health.
Gegenüber 2019 legten die Telekonsultationen pro Kopf 2023 in fast allen Ländern zu. Nur in Dänemark sanken sie; in Finnland war der Zuwachs sehr klein.
Größter Zuwachs in Spanien
In vielen Ländern ist der Anstieg deutlich – angeführt von Spanien und Litauen. Beide verzeichnen ein Plus von mehr als einer Konsultation pro Person. In Spanien sprang die Quote von null Komma drei auf eins Komma sieben, in Litauen stieg sie von null Komma eins auf eins Komma zwei.
Auch andere Staaten legten spürbar zu.
Norwegen: von null Komma eins auf null Komma sieben. Kroatien: von null Komma sieben auf eins Komma sieben. Portugal: von null Komma neun auf eins Komma vier. Slowenien: von null Komma eins auf null Komma neun.
Unter den bevölkerungsreichsten Ländern Europas blieb Deutschland unverändert bei null Komma eins Telekonsultationen pro Kopf. Frankreich stieg von null auf null Komma zwei.
In Dänemark sank der Wert von zwei auf eins Komma sieben pro Person, in Finnland fiel er von null Komma drei fünf auf null Komma drei.
Francesc Saigi von der Universitat Oberta de Catalunya (UOC), Direktor des WHO Collaborating Centre for Digital Health, weist darauf hin, dass Dänemark schon vor der Pandemie eine etablierte Tradition telefonischer Konsultationen hatte. Der Rückgang bedeute nicht, dass das Land das Modell ablehne.
"Vielmehr zeigt er eine behutsame Normalisierung auf Basis von klinischer Qualität, Fairness und Angemessenheit", so Saigi. "Dänemark hielt 2023 dennoch ein hohes Niveau: 26 Prozent der Konsultationen fanden aus der Ferne statt."
In mehreren Ländern ist mindestens jede fünfte Konsultation remote
In mehreren europäischen Ländern übersteigt der Anteil der Telekonsultationen an allen Arztkontakten pro Person 20 Prozent. Das heißt: Mindestens jeder fünfte Arztbesuch findet inzwischen aus der Ferne statt und nicht vor Ort.
Estland führt mit 36 Prozent, gefolgt von Portugal (26 Prozent), Schweden (25 Prozent), Dänemark (25 Prozent) und Spanien (22 Prozent). Kroatien erreicht ebenfalls 20 Prozent.
"Diese Beispiele zeigen digital reifere Gesundheitssysteme, getragen von solider Infrastruktur und Vergütungsregeln, die Televersorgung tragfähig machen", sagte Novillo Ortiz.
Im Schnitt über alle 22 OECD-Länder im Datensatz sind 13 von 100 Konsultationen aus der Ferne. Norwegen (21 Prozent) und Slowenien (15 Prozent) liegen über diesem Durchschnitt. Litauen (zwölf Prozent), Ungarn (elf Prozent) und Belgien (zehn Prozent) verzeichnen ebenfalls zweistellige Anteile.
In den zwei bevölkerungsreichsten Ländern Europas bleibt der Anteil vergleichsweise niedrig. In Deutschland liegt er bei nur ein Prozent, in Frankreich bei vier Prozent.
"Die sehr niedrige Quote in Deutschland spiegelt vermutlich die starke Bindung an den Praxisbesuch, eine vorsichtigere Regulierung und ein geringeres Vertrauen in digitale Lösungen in Teilen der Bevölkerung", sagte Dr. Wojciech Malchrzak von der Medizinischen Universität Wroclaw gegenüber Euronews Health.
In Skandinavien entfallen in Dänemark und Schweden rund jede vierte Konsultation auf Telemedizin, in Finnland liegt der Wert deutlich niedriger – bei sieben Prozent.
Warum nehmen Telekonsultationen zu?
Ortiz betont: Der Aufschwung der Telekonsultationen in Europa hat nicht eine einzelne Ursache. Es ist ein Zusammenspiel von Faktoren, das die Organisation der Versorgung verändert hat.
"COVID-19 wirkte als starker Beschleuniger: Innerhalb weniger Monate mussten Systeme und Fachleute Versorgung auf Distanz übernehmen", sagte er.
"Das heutige Wachstum hängt von politischen Entscheidungen, technischer Leistungsfähigkeit und der Akzeptanz bei den Berufsgruppen ab."
Saigi ergänzt: Nur Länder mit soliden rechtlichen, finanziellen und technologischen Grundlagen konnten Telekonsultationen als Routine etablieren.
Warum gehen die Anteile so weit auseinander?
Ortiz erklärt: Nationale Strategien für digitale Gesundheit sind zentral.
Länder wie die nordischen Staaten oder Estland, die eine klare, langfristige Vision für die Einbindung von Telekonsultationen in ihr Gesundheitssystem entwickelt haben, machten daraus einen stabilen, hochwertigen Dienst.
Solche Strategien bieten einen stimmigen Rahmen für technologische Entwicklung, berufliche Weiterbildung und die Bewertung von Ergebnissen.
Wichtig sind auch Finanzierung und Vergütung.
"In Ländern, in denen Telekonsultationen vollständig erstattet werden, bleibt die Nutzung hoch und wächst weiter. Entfallen finanzielle Anreize, geht sie deutlich zurück", sagte Ortiz.
Dr. Stefan Buttigieg von der European Public Health Association (EUPHA) betont, dass Bevölkerungen, die mit digitalen Werkzeugen vertrauter sind und Kulturen, die Fernkontakte eher akzeptieren, Telekonsultationen schneller übernehmen.
Digitale Infrastruktur und digitale Kompetenzen
Nach Saigi, Ortiz, Buttigieg und Malchrzak gehören zu den weiteren Faktoren: Akzeptanz in den Berufsgruppen, klinische Eignung, ausgereifte und interoperable digitale Systeme, die Infrastruktur sowie das digitale und gesundheitliche Wissen in der Bevölkerung.
"Länder mit gut ausgebauten elektronischen Patientenakten und Plattformen für reibungslosen Datenaustausch können Telekonsultationen viel einfacher ausweiten", sagte Ortiz.
"Breitbandzugang, verfügbare Geräte und digitale Kompetenzen bestimmen, wie gut Patientinnen und Patienten Telekonsultationen tatsächlich nutzen können."
Francesc Saigi sagte zudem, dass in manchen Ländern die Untersuchung vor Ort weiterhin als Goldstandard gilt und sowohl Fachleute als auch Patientinnen und Patienten eher zögern, sie zu ersetzen.
Buttigieg unterstreicht die Rolle des Versorgungsmodells. Systeme mit starker Primärversorgung und gutem Management chronischer Krankheiten integrieren Telekonsultationen leichter als solche, die das nicht tun.