Großbritannien: politisches Tauziehen um das Thema Einwanderung

Großbritannien: politisches Tauziehen um das Thema Einwanderung
Von Euronews
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Ein Amateurvideo zeigt, wie Jugendliche ein Haus an der britischen Küste von Kent mit Gegenständen bewerfen. Der Eigentümer, der den Angriff gefilmt hat, ist ein polnischer Einzelhandelskaufmann, der 2005 nach Großbritannien kam. Laut seiner Aussage ist es nicht das erste Mal, dass er attackiert wird. Aus Vorurteilen begangene Verbrechen gegen Polen haben in Großbritannien in den vergangenen zehn Jahren um das Zehnfache zugenommen.

“Es wird schlimmer und schlimmer. Anfang des Jahres bin ich im Laden angegriffen worden, weil ich Pole bin. Leute rufen mir auf der Straße nach “Scheiß-Pole”. Und einige Kunden fragen mich, wann ich nach Hause gehe, sobald sie realisiert haben, dass ich Pole bin”, so Andrzej Rygielski.

Der rumänische Zahnarzt Tommy Tomescu arbeitet seit 2010 in London. Er sagt, das derzeitige politische Klima begünstige die aktuellen Kampagnen gegen Ausländer – Osteuropäer werden beschuldigt, den Briten die Jobs wegzunehmen oder vom britischen Sozialsystem zu profitieren. Tomescu gründete 2014 die “Alliance Against Romanian and Bulgarian Discrimination”. Er sagt: “In einem Jahr, von 2013 bis 2014, hat sich die Zahl der Übergriffe gegen Osteuropäer verdoppelt, in einigen Gegenden sogar vervierfacht. Das passierte aufgrund des politischen Klimas und der Medienberichterstattung, denn die Zahl der Rumänen, Bulgaren oder Polen hat sich nicht verdoppelt. Warum gibt es mehr Rassenhass-Attacken?”

Ein Teil der Antwort könnte an der Vielzahl der osteuropäischen Migranten liegen, die seit dem EU-Beitritt ihres Landes nach Großbritannien gekommen sind. Laut Schätzungen leben und arbeiten allein mehr als eine halbe Million Polen in Großbritannien.

200.000 der Einwohner von Southampton sind Polen. Viele finden, dass sie dass Stadtbild mit neuen Geschäften, Unternehmen und Arbeitsplätzen positiv verwandelt haben. Andere behaupten, dass sie das britische Sozialsystem belasten.

Tomasz Dyl war dreizehn Jahre alt, als er vor zehn Jahren mit seiner Familie nach Southampton kam. Heute hat Tomasz sein eigenes Marketing-Unternehmen und wurde zum Jungunternehmer des Jahres gewählt. Er organisiert auch eine wöchentliche Radioshow auf Polnisch. Er widerspricht der Meinung, dass Osteuropäer nur profitieren wollen: “Wenn man sich die Statistiken ansieht, wird deutlich, dass osteuropäische Bürger mehr Geld an den britischen Staat zahlen, als sie bekommen. Und es sind die Migranten aus Nicht-EU-Ländern, die tatsächlich mehr Vorteile beanspruchen. Und für viele Unternehmen sind Osteuropäer die Rettung, denn sie sind diejenigen, die tatsächlich die Arbeit machen. In Hotels, Restaurants, Reinigungsunternehmen sind die meisten der Angestellten Osteuropäer.”

Doch trotz ihres Beitrags für die Gesellschaft sind EU-Migranten ein wachsendes Problem für die Mehrheit der britischen Bevölkerung: Einige sehen zwar die Vorteile, andere fürchten jedoch, dass das britische Sozialsystem die Belastungen nicht aushält.

Auf der Straße hört man folgende Aussagen:

“Es scheint wirklich zu spät zu sein, unsere Arbeitsplätze und Häuser sind weg. Man möchte sie wirklich gern loswerden”, so ein Passant.

Ein weiterer Mann ergänzte: “Meiner Meinung nach läuft das im Augenblick nicht schlecht. Ich sehe vor allem Menschen, die hierherkommen, um zu arbeiten.”

“Ich weiß nicht viel über die Vorteile, die man als Europäer hat. Alles, was ich höre, sind die schlechten Sachen, die negativen Aspekte der Immigration”, so eine Passantin.

“Man kann das nicht an zu viel oder zu wenig Zahlen festmachen. Es ist eine Tatsache, man muss sich sowieso damit abfinden”, sagte diese Frau.

Ein weiterer Passant: “Ich bin spezialisiert auf Wohngeld für alle meine Mieter. Es ist unglaublich, die Menschen kommen einfach vorbei und unterschreiben. Das ist falsch.”

Da läuft etwas falsch, aber es ist vor allem das Gefühl, dass die Einwanderung nicht mehr gesteuert werden kann.

Das ist die Botschaft, die britische Boulevardzeitungen in den vergangenen zwei Jahren verbreiten: Der einzige Weg, um die Rumänen, Bulgaren oder anderen EU-Migranten loszuwerden, ist, die Europäische Union zu verlassen.

Eine Botschaft, die politische Musik in den Ohren der UKIP-Partei ist. Sie fordern den Austritt aus der EU, um die Kontrolle zurückzugewinnen.

Der Mann der Stunde heißt Mark Reckless: zweites UKIP-Mitglied im britischen Parlament, nachdem er aus David Camerons konservativer Partei ausgetreten war und als UKIP-Kandidat neu gewählt wurde.

Der Politiker wurde scharf für seine Aussage kritisiert, ein EU-Austritt könnte zur Abschiebung von EU-Migranten führen. Reckless hält dagegen: “Viele der Leute hier leisten einen großen Beitrag für das Land und ich möchte keine einzelne Nationalität ausgrenzen. Meiner Meinung nach ist es eine Frage der Gesamtzahl. Bei der letzten Wahl haben die Konservativen gesagt, sie würden die Immigration von Hunderttausenden im Jahr auf netto Zehntausende jährlich begrenzen. Wir haben jetzt wieder das Niveau, das wir unter den Labours erlebt haben. Aber wir wollen fair sein, und die Menschen, die aus dem Commonwealth, von außerhalb der EU kommen, genauso behandeln wie EU-Bürger.”

Der Politiker ist Ehrengast bei einer Veranstaltung der “Bruges Group”, einer britischen Lobbygruppe, die für eine Reform der EU eintritt und Zweifel an Camerons Mitgliedsverhandlungen mit Brüssel hat.

Der konservative Abgeordnete Mark Pritchard verteidigt Cameron: “Natürlich bringt die EU-Migration wirtschaftliche und soziale Vorteile für Großbritannien. Aber die Mehrheit der Menschen sehen den großen Druck auf die öffentlichen Dienstleistungen, für die Wohnsituation, für Arztpraxen, für Krankenhäuser und Schulen. Es reicht den Menschen. Wir müssen unsere Beziehung zu Europa neu konfigurieren. Wenn Brüssel den Premierminister abblitzen lässt, dann wird das britische Volk im Dezember 2017 wahrscheinlich für einen EU-Austritt stimmen.”

Der Druck auf David Cameron wächst. Laut einer kürzlich durchgeführten Umfrage sind über 70 Prozent der Briten für eine Verringerung der Einwanderungszahlen. Eine noch größere Mehrheit von 80 Prozent glauben, dass er nicht in der Lage ist, die Zahl der EU-Einwanderer zu reduzieren, die nach Großbritannien kommen.

Freizügigkeit und freier Handel sind unverhandelbare EU-Grundrechte. Die Wartezeit auf Ansprüche des britischen Sozialsystems zu erhöhen, sei jedoch eine Einschränkung, die Cameron sowohl seinen Wählern zu Hause als auch seinen europäischen Verhandlungspartnern bieten könnte, meint Rafael Beher, politischer Redakteur der Zeitung “The Guardian”:

“Es gibt diesen sehr, sehr kleinen Bereich der Vorteile für europäische Migranten, auf den er sich aktuell konzentriert. Es scheint, dass man einige der Vorschriften in diesem Bereich anpassen kann, ohne die europäischen Verträge zu verletzen. Und genau deshalb verbeißt sich David Cameron in dieses Thema. Denn er glaubt, das ist etwas, wo er erfolgreich sein kann. Wo er einerseits der britischen Öffentlichkeit sagen kann: ‘Ihr seid wütend über diese Ausländer, die hierherkommen und nur profitieren. Dagegen gehe ich hart vor’. Und andererseits kann er seinen europäischen Partnern vorschlagen, dass können wir umsetzen, ohne die europäischen Verträge zu verletzen – was keiner von ihnen will. Das ist der Grund, warum er sich auf dieses Thema konzentriert.”

Aber das Thema Einwanderung als politisches Werkzeug zu nutzen, ist nicht neu: “Einwanderung war seit jeher ein Thema. Das ist wirklich ein politisches Tauziehen, das im Vorfeld von Wahlen gespielt wird. Wenn man jedoch den Menschen auf der Straße zuhört, haben sie wundervolle Freunde aus Litauen, Polen, Pakistan, Indien, Afrika, das ist großartig. Natürlich gibt es auch immer Leute, aus welchem Land auch immer, die das System missbrauchen, die Vorteile des Systems ausnutzen. Aber so sind Menschen nun mal”, so Ram Kalyan, Unity 101 Radio Station.

Cameron will seine Sozialleistungsreformen vor dem nächsten EU-Gipfel im Dezember bekannt geben. Reformen, von denen er hofft, dass sie ihm Punkte sowohl innerhalb als auch außerhalb Großbritanniens bringen.

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