Kampf der grassierenden Obdachlosigkeit in Europa

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Von Isabel Marques da Silva
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Wie kann der wachsenden Zahl von Wohnungslosen in der EU geholfen werden?

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Kamel Bouzebra lebt seit sechs Monaten in einer Wohnung im Brüsseler Stadtteil Schaerbeek, nachdem er zuvor 15 Jahre lang auf den Straßen der belgischen Hauptstadt geschlafen hatte.

Euronews wollte wissen, wie ihn diese neue Erfahrung prägt.

“Man steht morgens auf, macht Kaffee, schaltet das Radio an für die Nachrichten, ein bißchen Musik – man macht sich Gedanken, wie der Tag verlaufen wird.“

Kamel profitierte von der Kampagne „400Dächer“, mit der die Stadt Brüssel und sieben Hilfsorganisationen bis 2020 40 Obdachlosen ein festes Zuhause geben wollen.

Und diese Kampagne ist wiederum Teil eines internationalen Projekts zur Schaffung von Wohnraum als sozialer Integration.

Kamel Bouzebra: “Ich bekomme Mietgeld, die Miete ist 610 Euro, plus Nebenkosten – insgesamt 700 Euro. Ich habe mir gesagt: Das ist viel Geld. Aber ich habe mir auch gesagt: das oder wieder zurück auf die Straße. Morgens gehe ich zum Frühstück zu einer Sozialstation. Das kostet nichts, das hilft mir.“

Günstiger Wohnraum ist ein großer Test für die soziale Kohäsionspolitik in Europa.

Denn die sogenannte Überlastung ist ein wachsendes Problem, sagen Experten, die die Gründe der Obdachlosgkeit studieren.

Von Überlastung wird gesprochen, wenn mehr als 40 Prozent des Einkommens für Wohnraum ausgegeben wird.

In der EU betrifft das zehn Prozent aller Haushalte, aber 40 Prozent von armen Haushalten.

Unter der ärmsten Bevölkerung erreicht die Überlastung in Griechenland 72 Prozent des Monatseinkommens.

Selbst in reicheren Ländern wie Dänemark und Deutschland werden noch 60 bzw. 48 Prozent erreicht.

Überfülltes und befristetes Wohnen ist nicht nur teuer und von schlechter Qualität, es erhöht auch das Risiko der Obdachlosigkeit und ist zudem nicht sicher.

Der Träger des öffentlichen Wohnraums in Brüssel entwickelte das Bauprojekt Tivoli.

Zwischen dem ärmeren Stadtteil Molenbeek und dem schicken Laeken gelegen sollen hier bald die ersten Mieter einziehen.

Unsere Korrespondentin Isabel Marques da Silva: “In vielen europäischen Ländern steigen die Mietkosten schneller als das Monatseinkommen. In diesem Brüsseler Projekt werden 70 Prozent nach Marktlage vermietet, die übrigen 30 Prozent sind Sozialmieten. Viele Experten fordern mehr sozialen Wohnungsraum. Das Argument: Wohnen ist kein Finanzprodukt, sondern ein Menschenrecht.“

Die „400Dächer“-Kampagne schlägt Übergangslösungen vor, etwa billige Wohnungen, die auf noch unerschlossenen Grundstücken liegen.

Die Gründerin der Initiative „HuNeeds“, Nastasia Englebert, erklärt die Bedeutung dieser flexiblen Appartments.

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“Diese Menschen werden immer weiter ausgeschlossen und haben immer weniger Chancen auf eine Wohnung. Unser Vorschlag hilft ihnen, sich wieder ans Leben anzupassen und ihren Alltag wieder in Ordnung zu bringen. Und das erhöht die Chance auf eine echte Wohnung.“

Anders als Kamel lebt Ryszarda immer noch auf der Straße.

Zwei Mal die Woche geht sie früh morgens zum Heim „La Fontaine”.

Hier kann sich sich waschen und bekommt Pflege-Unterstützung.

15 Jahre hat Ryszarda als Putzhilfe gearbeitet, vor fünf Jahren wurde sie obdachlos.

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“Nicht jeder will Arbeiter mit Steuerkarte beschäftigen. Ich hatte Arbeit, aber ohne festen Vertrag, aber ich konnte die Miete bezahlen. Dann wurde ich krank und konnte mir die Wohnung nicht mehr leisten. Ich brauche aber eine kleine Wohnung, ganz egal ob unterm Dach oder im Keller, Hauptsache billig. Hier ist aber alles teuer.“

Genaue Zahlen über die Obdachlosigkeit in der EU gibt es nicht. In den Mitgliedstaaten gibt es unterschiedliche Zählmethoden.

Sicher ist indes, das das Phänomen seit der Finanzkrise wächst – selbst in Staaten wie Luxemburg und Belgien.

Bessere Heime ist eine der Hauptforderungen von Hilfsorganisationen.

Gemeinsam legten diese am 22. März in Brüssel einen Bericht vor.

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Obwohl Wohnungspolitik Sache der Einzelstaaten ist, sollten die EU-Institutionen mehr auf das Thema aufmerksam machen und Lösungen vorschlagen, so die Koordinatorin, Ruth Owen.

“Die Europäische Kommission sollte Daten zur Obdachlosigkeit erheben. Das ist eine Herausforderung, aber nicht unmöglich. Versteckte Obdachlosigkeit, harte Schlafstätten und Menschen in Notaufnahmen sind nur die Spitze eines Eisbergs. Die Obdachlosigkeit betrifft junge Menschen, Flüchtlinge, Frauen mit Kindern, Familien. Sie alle sind von der wachsenden Not in Europa betroffen.“

Das einzige Mitgliedsland, in dem die Obdachlosigkeit seit zwei Jahrzehnten zurückgeht, ist Finnland.

Dank einer Wohnungsbaupolitik, die einige Mitgliedstaaten jetzt importieren.

Journalist • Stefan Grobe

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