Das Schengener Abkommen wird 40 Jahre alt – doch statt Gewissheiten dominieren heute Zweifel. Nahezu die Hälfte der Mitgliedstaaten hat erneut vorübergehende Kontrollen an den Binnengrenzen eingeführt. Steht die Vision eines grenzenlosen Europas damit vor dem Aus?
Ein gutes Beispiel für die aktuellen Herausforderungen, vor denen das Schengen-Abkommen steht, zeigt sich an der deutsch-polnischen Grenze, insbesondere in den Grenzstädten Görlitz (Deutschland) und Zgorzelec (Polen), die durch die Lausitzer Neiße voneinander getrennt werden.
Im Jahr 2023 führte Deutschland im Rahmen seines fortwährenden Kampfes gegen illegale Migration – wie auch an anderen Abschnitten der Grenze zu Polen – temporäre Kontrollen ein. Die polnischen Behörden zogen am 7. Juli 2025 nach und führten ihrerseits temporäre Kontrollen ein. Die Bewohner auf beiden Seiten der Grenze leiden unter den Folgen, darunter massive Verkehrsstaus.
Ein Beispiel dafür ist der 37-jährige Datenanalyst Jakub Woliński. Er lebt und arbeitet auf der deutschen Seite der Grenzstadt, wurde jedoch auf der polnischen Seite geboren. Als regelmäßiger Grenzgänger ist er direkt von der neuen Realität betroffen. „Es gibt keinen Anstieg bei den illegalen Grenzübertritten. Das ist ein völlig unbegründeter Ausdruck von Misstrauen gegenüber den Nachbarn auf der anderen Seite des Flusses“, sagt er.
An Wochenenden und Feiertagen sorgen Kontrollen durch deutsche Behörden häufig für Chaos auf den polnischen Straßen. Auch der italienische Besitzer einer Eisdiele nahe des Kontrollpunkts ist unzufrieden:
„Die Stadt ist vollständig blockiert. Das erschwert uns die Arbeit, weil die Kunden nicht mehr mit dem Auto kommen können und diejenigen, die nicht in der Nähe wohnen, bleiben weg“, erklärt Antonio Scaramozzino.
Die Anwohner auf der polnischen Seite sammeln Unterschriften für eine Protestpetition an die Europäische Kommission. Jakub geht noch weiter – er hat die deutsche Regierung verklagt.
„Ich bin fest davon überzeugt, dass die Entscheidungen der deutschen Behörden meine Bewegungsfreiheit in den Grenzregionen einschränken. Wenn ich mit Vertretern der deutschen Regierung sprechen könnte, würde ich sie gerne fragen, ob die Kosten den Nutzen wirklich rechtfertigen?"
Wir haben die deutsche Bundespolizei dazu befragt. Sie betont, alles zu tun, um die Auswirkungen der Kontrollen zu minimieren, verweist aber auch auf ihren gesetzlichen Auftrag, der sich bislang als wirksam erwiesen habe.
„Allein in meinem Zuständigkeitsbereich haben wir im Mai dieses Jahres über 175 Personen wegen Verstoßes gegen das Aufenthaltsgesetz angezeigt. Darüber hinaus wurden 141 Personen wegen anderer Delikte gemeldet“, so Michael Engler, Sprecher der deutschen Bundespolizei.
Trotz dieser Zahlen sieht Jakub seine Klage gegen Deutschland als Weckruf für die Schengen-Mitgliedstaaten und die EU-Institutionen, ihre derzeitige Praxis zu überdenken. „Wenn wir Bürger nicht selbst aktiv werden und unseren Regierungen klarmachen, wie wichtig dieses Thema ist, für das wir kämpfen müssen, dann befürchte ich, dass der Schengen-Raum auseinanderfallen könnte“, sagt er.
Steht der Schengen-Traum vor dem Aus?
Die Staaten haben tatsächlich die Möglichkeit, unter strengen Voraussetzungen wieder Grenzkontrollen einzuführen. Doch wie Jolanta Szymańska, EU-Programmkoordinatorin am Polnischen Institut für Internationale Angelegenheiten, betont, liegt das größte rechtliche und symbolische Problem nicht in der Maßnahme selbst, sondern in ihrer Begründung und zeitlichen Begrenzung. Die Expertin für EU-Migrations- und Innenpolitik erklärt:
„Alle Kontrollen sollten klar befristet sein. Die ‚vorübergehende Einführung‘ darf nicht zur Dauerlösung werden. Dennoch bestehen in einigen Ländern bereits seit einem Jahrzehnt Grenzkontrollen“, so Szymańska.