Begleiten Sie Euronews Culture beim Countdown zu unserem Lieblingsalbum des Jahres. Wie viele Alben haben Sie bereits gehört?
Es ist wieder so weit: Wir sammeln unsere Favoriten und zählen runter zum besten Album 2025.
Das Musikjahr war ereignisreich. Britpop-Reunions, gescheiterte Comebacks, die Trump-Regierung lag im Clinch mit Bad Bunny und Sabrina Carpenter. Einen klaren Sommerhit gab es nicht. Dazu eine Menge ohrenschmerzender Grütze von KI-generierten „Artists“ wie The Velvet Sundown, Xania Monet und Breaking Rust.
Viele Alben waren zudem arg peinlich – samt genauso mittelmäßigen Titeln. Namensdeterminismus lebt. Hauptsünder: Morgan Wallens prophetisch betiteltes „I’m The Problem“; Drakes und PARTYNEXTDOORs tief peinliches „$ome $exy $ongs 4 U“; Alex Warrens „You’ll Be Alright, Kid“ (mag ja sein, Alex – aber die Hörerinnen und Hörer sind es nicht, du Unhold!); und MJKs völlig lebloses „Lost Americana“.
Dazu ein überraschend geschmackloses Angebot von Tame Impala und ein enttäuschender zwölfter Wurf von Taylor Swift. Sie verpasst zum zweiten Jahr in Folge unsere Top 20. Das alles zeichnet ein herausforderndes 2025.
Aber genug Negativität. Wir feiern die besten Veröffentlichungen des Jahres. Und davon gab es viele – Alben, die uns begeistert und halbwegs bei Verstand gehalten haben.
Los geht’s mit dem Countdown zu Euronews Culture’s Lieblingsalbum der letzten zwölf Monate, beginnend mit ...
20) Olivia Dean - The Art of Loving
Gute Zeiten für britische Sängerinnen: Charli XCX, RAYE, PinkPantheress und andere haben sich viel Raum erobert. Olivia Dean sticht dabei als eine der spannendsten neuen Stimmen heraus. Ihr zweites Album ist eine warme, retroaffine Erkundung der Liebe in all ihren Formen – von Partnerschaften über Freundschaften und Familie bis zur Selbstliebe. Einige Stücke wie „Baby Steps“ und „Something in Between“ geraten etwas zu nah an Caféhaus-Pop: sicher, angenehm, aber schnell vergessen. Die Höhepunkte gleichen das aus. Das wehmütige, enorm eingängige „Nice to Each Other“, das verspielte, pianogetriebene „Man I Need“ und die rauchige, intime Sogwirkung von „A Couple Minutes“ zeigen eine 26-Jährige mit großem Talent für sofort haftende Melodien und trügerisch müheloses Songwriting. Dieses Album weist klar nach oben. Die Grammy-Nominierte als Best New Artist fängt erst an. TF
19) Ichiko Aoba - Luminescent Creatures
2025 war turbulent und gnadenlos: globale Konflikte, KI-Ängste, politische Unruhen und eine immer schlimmere Umweltkrise. Inmitten dieses Lärms bietet Ichiko Aobas neues Album etwas Seltenes: Stille. Eine sanfte Zuflucht. Mit „Luminescent Creatures“ lädt die japanische Singer-Songwriterin in eine zarte, märchenhafte Traumwelt aus engelsgleichen Stimmen, betörenden Orchesterlinien und leisen Naturflüstern. Inspiriert vom Leuchten der Meereswelt, das sie beim Tauchen auf Japans Ryukyu-Inseln entdeckte, lotet ihr achtes Studioalbum die Grenze zwischen Leben und Tod, Licht und Dunkel aus. Ein Album zum Träumen, Schlafen, Umherwandern und für ein kurzes Verschwinden. TF
18) Florence + The Machine - Everybody Scream
„It’s your troubled hero / Back for season six“, singt Florence Welch in „The Old Religion“ und erinnert daran, dass ihr Debüt vor 16 Jahren erschien und sie den Druck des Rampenlichts kennt. Genau diese Erfahrung prägt „Everybody Scream“: ein Album, das zwar von Heidentum, Ritualen und Hexerei zu handeln scheint, tatsächlich aber persönliche Traumata und berufliche Resilienz erkundet. Theatralische Songs, Welchs unverkennbare sirenenhafte Stimme und der Blick auf die Opfer, die Frauen in einer männlich dominierten Welt bringen, prägen die Platte. Sie klingt wie eine Art Exorzismus. Welch bestätigte das vorab: Auslöser fürs Schreiben war eine lebensbedrohliche Eileiterschwangerschaft während einer Tour. „Everybody Scream“ ist ihr Abrechnungswerk, ein kraftvolles Album voller klimaktischer Refrains, das ermutigt, in Zeiten emotionaler Turbulenz laut zu schreien. DM
17) DJ Haram – Beside Myself
Haltet euch fest: Dieses Album schmilzt und erweitert den Kopf. Die in Brooklyn beheimatete DJ Haram legt ein ambitioniertes Debüt vor, das Clubbeats, harsche Elektronik, Live-Percussion und Nahost-Samples fusioniert – angetrieben von ruheloser Energie, die zugleich ansteckt und destabilisiert. Viele Gästetracks: Club-Banger („Loneliness Epidemic“); Rap-Nummern („Fishnets“, „Stenography“); Momente unheilvoller Schönheit (das pianogeführte „Who Needs Enemies When These Are Your Allies?“); eindringliche Klagen (Album-Highlight „Remaining“, mit Aquiles Navarros unheilvoller Trompete und Dakns arabischen Versen); glitchige Electro-Beats über Darbuka-Drums („Sahel“) – all das webt ein reiches Klangtuch und zeigt: kein Interesse an Normen oder Kompromissen. „Beside Myself“ ächzt gelegentlich unter der Last seiner vielen Einflüsse, und die Wildheit macht das Hören anspruchsvoll. Wer wissen will, wie ein dystopischer Rave klingt, bekommt hier ein eklektisches, kompromisslos freches Album. DM
16) Freddie Gibbs And The Alchemist - Alfredo 2
Fünf Jahre nach ihrem ersten gemeinsamen Triumph kommen Freddie Gibbs und The Alchemist für „Alfredo 2“ wieder zusammen. Das Sequel tauscht den nächtlichen Dunst von 2020s „Alfredo“ gegen eine sonnendurchflutete, leichte Vision von Streetlife. The Alchemist, ein wahrer Plattenkisten-Zauberer, verbindet staubige Soul-Loops und Boom-Bap-Beats mit filmischen Jazz-Schlenkern und schrägen japanischen Filmschnipseln. So bleibt das Album durchweg unberechenbar. Gibbs dominiert wie immer: rau, scharf, technisch mühelos. Er spinnt Geschichten über Sex, Drogen und Überleben mit dunklem Humor. „Ever since they showed my ultrasound, bitch, I’ve been Hell-bound“, knurrt er auf „Gas Station Sushi“. Die Kollabos – besonders Anderson .Paak auf „Ensalada“ und JID auf „Gold Feet“ – passen perfekt zum entspannten Selbstvertrauen des Projekts. Wie das Ramen auf dem Cover kommt „Alfredo 2“ dampfend heiß, perfekt gewürzt und genau richtig. TF
15) Erika de Casier – Lifetime
Minimalismus klang 2025 nirgendwo besser als auf Erika de Casiers viertem Studioalbum „Lifetime“. Nur ein Jahr nach „Still“ veröffentlicht, löst die portugiesisch geborene dänische Singer-Songwriterin den festen Griff am Y2K-R’n’B und umarmt stärker die Klänge des Trip-Hop der Neunziger. Nostalgie ist es nicht. Es geht um eine reduzierte, intime Sammlung von Songs, die in einen traumähnlichen Zustand führt. Und während man schwebt und sich mit ihren Geschichten moderner Dating-Ängste verbindet – besonders auf „The Chase“ („Hit midnight / Not even a text to hold me warm“) –, ergibt man sich der Sinnlichkeit, die de Casier beschwört. Die verführerische Atmosphäre, die „Lifetime“ durchzieht, macht süchtig. Am stärksten auf den lasziven „You Got It!“ und „Moan“, einem nächtlichen Klagelied darüber, ein schweres Herz zu kurieren, indem man „wholeheartedly“ lebt. Also: eine LP, die beweist, dass weniger manchmal tatsächlich mehr ist. DM
14) The Last Dinner Party – From The Pyre
Wer ihr Debüt „Prelude to Ecstasy“ aus 2024 nicht mochte, wird jetzt bekehrt. The Last Dinner Party sorgen dafür, dass Akt zwei alle an ihrem Altar verehren. Der Titel des zweiten Albums steht für Zerstörung und Wiedergeburt. Der Scheiterhaufen signalisiert keinen radikalen Soundwechsel für das britische Quintett, bestätigt aber: Die Feuertaufe war keine Eintagsfliege. Gleich theatralisch, aber klanglich reicher als der Vorgänger, hat die Band ihren barocken Pop-Rock verfeinert und die Kunst des grandiosen Crescendos perfektioniert. „This Is The Killer Speaking“ – eine Murder Ballad über Ghosting – und „The Scythe“ mit seinem euphorischen Refrain stechen sofort heraus. Doch „From The Pyre“ hat keine Füller. Zehn Tracks über Liebe, Verlust und den Staub eines Infernos trinken: energiegeladen und reichlich filmisch. Ein klares Zeichen: The Last Dinner Party bleiben. DM
13) Cate Le Bon – Michelangelo Dying
„Vielleicht krieche ich eines Tages geschlagen nach Hause zurück. Aber nicht, solange ich aus Herzbruch Geschichten und aus Trauer Schönheit machen kann.“ Ob Cate Le Bon Sylvia Plath liest, wissen wir nicht. Die Worte passen jedoch zu ihrem siebten Album, entstanden im Schatten eines gebrochenen Herzens. In „Michelangelo Dying“ formt die walisische Musikerin Schönheit aus Schmerz. Sie stellt ihre Avant-Pop-Stilistik auf die Probe und rührt an offene Wunden. Oder, wie sie dem Guardian sagte: „Eine Amputation, die man nicht will, von der man aber weiß, dass sie einen rettet.“ Dieses Bild taucht in „Pieces Of My Heart“ auf, wenn Le Bon singt: „This is how you break a leg / You let the shadow lead the shape“. Es hätte ein konventionelles Trennungsalbum mit viel Selbstmitleid werden können. Le Bon vermeidet Klischees und führt zur Erkenntnis: Liebe verschwindet nicht, wenn sie stirbt. Sie bleibt, hinterlässt Narben, und hoffentlich führt das Gefühlschaos zur Katharsis – so erhaben wie „About Time“ und „Heaven Is No Feeling“. Vielleicht fühlt sich mit der Zeit auch der Nachhall des Schmerzes so geheimnisvoll tröstlich an wie „Michelangelo Dying“. DM
12) FKA twigs – EUSEXUA
FKA twigs’ „EUSEXUA“, ihr drittes Album, markiert einen deutlichen Kurswechsel. Ein schwindelerregender, sinnlicher, ekstatischer Trip über Dancefloors, Schlafzimmer und Traumlandschaften. Über elf Tracks verbindet sie elektronische Experimente, Pop-Instinkt, von Aphex Twin geprägte Texturen und clubtaugliche Rhythmen zu einem Werk, das Intimität, ungefiltertes Begehren und Weiblichkeit feiert. Highlights wie „Perfect Stranger“ und „Girl Feels Good“ sind euphorisch und verspielt. „Keep It, Hold It“ und das Schlussstück „Wanderlust“ bieten stille Reflexion und zeigen, dass twigs in beiden Extremen – klanglich wie emotional – aufblüht. Halb innere Reise, halb ekstatischer Rave: „EUSEXUA“ gehört zu den ambitioniertesten und aufregendsten Releases des Jahres. TF
11) Lausse The Cat - The Mocking Stars
Sieben Jahre nach seinem wild kreativen Debüt „The Girl, the Cat & the Tree“ kehrt der anonyme französisch-britische Rapper und Produzent mit „The Mocking Stars“ zurück – lange erwartet, dabei doch überraschend. Lausse knüpft an und lädt seine geduldige, beinahe kultische Anhängerschaft zurück in die Welt seines existenziellen Katzen-Protagonisten, der durch ein surreal kollabierendes Universum driftet und nach Sinn sucht. Wirkte das Debüt wie ein verspieltes Coming-of-Age-Märchen, startet dieses Album die Katze in eine psychedelische, kosmische Odyssee: über Sterne, Monde und Sonnen, Tanz mit verrückten Hutmachen bei chaotischen Teepartys und Stürze durch Traumlandschaften à la Alice im Wunderland – bevor es langsam zur Erde zurückgeht. Jazzige Instrumentals, Bossa-Nova-Rhythmen, funkelnder Live-Bläsersatz und UK-Hip-Hop-Drums wirbeln unter seinem leisen Vortrag. Das bietet theatralischen Spieltrieb und Melancholie, während er Depression, Entfremdung, Eskapismus und flüchtige Romanzen konfrontiert. Eine der fantasievollsten und konzeptionell spannendsten Arbeiten des Jahres. TF
10) Little Simz – Lotus
Auf „Lotus“, ihrem sechsten Album, verwandelt Little Simz juristischen Streit und persönliche Zerwürfnisse in kreative Triebkraft. Nach einem bitteren Bruch mit ihrem langjährigen Partner und Jugendfreund Inflo – sie verklagte ihn wegen eines angeblich nicht zurückgezahlten Kredits – arbeitet sie mit Produzent Miles Clinton James. Das Ergebnis gleitet mühelos durch Stimmungen und Genres. Der giftige Opener „Thief“ zielt klar auf Inflo. „Lion“ bringt afro-funkigen Swagger. „Only“ schwebt entspannt im Bossa-Nova. Gäste wie Sampha, Wretch 32, Yussef Dayes und Michael Kiwanuka bereichern den Sound, ohne vom Kern abzulenken. Simz behält jederzeit die Kontrolle, liefert harte Bars und souveräne Flows und erzählt von Durchhaltewillen, Verrat und Selbstermächtigung. Ein Statement-Album: kontrolliert, ungestüm – und ein Beweis, dass Simz auf einem ganz anderen Niveau arbeitet als die meisten. TF
9) Pulp – More
Alle gerieten dieses Jahr wegen der Oasis-Reunion aus dem Häuschen. Doch die eigentliche Neunziger-Rückkehr kam von den widerwilligen Galionsfiguren des Britpop. Rechtzeitig zum 30. Jubiläum ihres gefeierten Albums „Different Class“ von 1995 meldeten sich Pulp nach 24 Jahren zurück – und das Warten hat sich gelohnt. „More“ erfindet das Rad nicht neu und wird wohl keine eingefleischten Skeptiker von Jarvis Cocker und seiner munteren Truppe bekehren. Trotzdem ist dieses starke Album ein Schatz. Üppige Streicher, Themen wie Altern und Selbsttäuschung, Witz und Humor: Pulp liefern genau das, was man von einem Pulp-Album erwartet. Mehr noch: Sie übertreffen die Erwartungen und zeigen, dass sie auch als Erwachsene in einer Klasse für sich bleiben. Hoffentlich müssen wir nicht wieder ein Vierteljahrhundert auf mehr warten. DM
8) Jane Remover – Revengeseekerz
Mit zarten 22 hat sich Jane Remover bereits als Produzentin, Songwriterin, Multiinstrumentalistin und Rapperin einen Namen gemacht – mit großem Talent fürs Genre-Hopping. Beim Hören ihres 2025er Albums wirken die früheren „Frailty“ (2021) und „Census Designated“ (2023), als habe sie sie als eine ganz andere Künstlerin aufgenommen. Für „Revengeseekerz“ wirft Remover die Hörerinnen und Hörer kopfüber in einen abrasiven Mix aus Rap, Emo, Digicore und EDM, durchzogen von glitchigen Video-Game-Sounds – und mit kräftigen Hyperpop-Hooks. Das ist viel und klingt oft nach Chaos. Aber es funktioniert. Was eigentlich Schleudertrauma auslösen müsste, fügt sich zu einem kohärenten, kühnen und süchtig machenden Soundtrack für eine wilde Nacht. Kurz gesagt: Es knallt. Hart. DM
7) Bad Bunny – DeBÍ TiRAR MáS FOToS
Nach dem furiosen „Un Verano Sin Ti“ ist „DeBÍ TiRAR MáS FOToS“ Bad Bunnys bisher ambitioniertestes Projekt. Ein ausuferndes, lebendiges Tribut an sein puertoricanisches Erbe und die weitere Diaspora. Verwurzelt bleibt es im modernen Reggaetón, der den 31-Jährigen zum Weltstar machte. Doch das Album sprengt Erwartungen, verwebt Salsa-Hörner, Bolero-Melodien und die geschichteten Rhythmen der traditionellen Plena. Nirgendwo ist diese Fusion packender als auf „BAILE INoLVIDABLE“, das mit eleganten modernen Synths beginnt und dann in eine voll entfesselte Live-Salsa explodiert. „DtMF“, ein spätes Highlight, steht exemplarisch für den Geist der Platte. Ansteckend, feiernd, unfassbar spaßig – ein Album zum Lautaufdrehen. Kein Wunder, dass Bad Bunny der meistgestreamte Künstler des Jahres 2025 war. TF
6) Geese - Getting Killed
Auf „Getting Killed“ nehmen die schrägen New Yorker Geese den Schwung von Cameron Winters leisem Solo-Durchbruch „Heavy Metal“ und drehen ihn in ihr bisher kühnstes Experiment. Das Album schwingt vom explosiven Opener „Trinidad“ zu groovegetriebenen Jams mit Brass-Stabs, Loop-Chören und kantigen Riffs. Darüber Winters kryptisches Murmeln und surreale Punchlines. Die Band klingt zugleich lockerer und schärfer denn je. Sie baut Songs, die eher wie verlängerte Höhepunkte wirken als wie klassische Strukturen. Chaotisch, clever, schamlos weird und erstaunlich berührend: „Getting Killed“ zementiert Geese als eine der wenigen Rockbands, die sich – und ihr Publikum – noch dorthin schieben, wo es wirklich neu wirkt. TF
5) Wednesday – Bleeds
Nach „Rat Saw God“ – eines unserer Lieblingsalben 2023 – kam die Band aus North Carolina dieses Jahr mit einer weiteren schrammeligen Indie-Rock-Collage über Liebe, dumme Teenie-Entscheidungen und das Schauen von The Human Centipede nach einem Phish-Konzert zurück. Und es ist das Beste, was sie je veröffentlicht haben. Wie auf „Rat Saw God“ liefert die Band einen dynamischen Mix aus Country-Hooks und lärmigem Grunge direkt aus den Neunzigern. Doch wie beim Vorgänger lässt die Lyrik und tragikomische Erzählkunst das Projekt fliegen. Ob sie auf dem Opener „Reality TV Argument Bleeds“ „broke dick sincerity“ geißeln; auf der Single „Elderberry Wine“ zur Einsicht kommen, dass „selbst der beste Champagner immer noch nach Holunderwein schmeckt“; oder sich auf dem Closer „Gary’s II“ fragt, wie „deine Zähne so schön geblieben sind / wenn das Einzige, was du trinkst, Pepsi ist“ – Karly Hartzmans eindringliche Momentaufnahmen wirken gelebt und ziehen immer wieder zurück. DM
4) Viagra Boys – Viagr Aboys
Seit ihrem Debüt 2018 sind die schwedischen Post-Punker Viagra Boys die absurden Chronisten der Desillusion des 21. Jahrhunderts, die wir brauchen. Sie kanalisieren The Stooges, Dead Kennedys und DEVO und haben die fortschreitende „enshittification“ der Gesellschaft brillant verspottet – von toxischer Männlichkeit und rechter Rhetorik bis zu social-media-getriebenen Verschwörungen. Für ihr viertes Album „Viagr Aboys“ bleiben sie ihrer satirischen Flugroute treu, rücken aber weg von der großen Weltlage und schauen stärker auf Alltagsverirrungen. Von Matthew-Perry-Anspielungen („Man Made of Meat“) über Gesundheitsschrecken („Pyramid of Health“) bis zu Croutons unter dem Futon („Uno II“) und der verlorenen Kunst, Partys mit Geschichtsfakten zu dämpfen („You N33d Me“): Die Texte sind surreal, laut zum Lachen und überraschend berührend – besonders im unterschätzten Romanticism des Closers „River King“. Klanglich klingt es polierter als zuvor, die rohe Energie bleibt. Sebastian Murphy und seine wilde Truppe erreichen hier etwas Besonderes: Sie destillieren alles, was sie so delirisch erfreulich macht, und jagen es direkt in die Hauptvene. Danke für den Schuss, meine Herren. DM
3) Annahstasia – Tether
Zur Jahresmitte war es unsere Wahl auf Platz drei – und dort blieb es. Annahstasias hinreißendes „Tether“ ist klar das beste Debüt des Jahres. Der Weg dorthin war hart. Die US-Singer-Songwriterin musste lange kämpfen, damit „Tether“ erschien. Label-Leute wollten sie von der intimen Folk-Soul fortführen und in mainstreamigere, kommerziellere Bahnen lenken. Wie falsch sie lagen. Ihr überfälliges erstes Album zieht sofort in den Bann: wunderschöne Songs, elegante Instrumentierung und ihr herrliches mahagonifarbenes Vibrato – irgendwo zwischen Tracy Chapman und Nina Simone. „Can you be a believer“, singt sie im Closer „Believer“, „In all my possible possibility?“. Von uns ein klares Ja. DM
2) Kelela – In The Blue Light
„In the Blue Light“ zeigt Kelela fern ihres futuristischen R&B-Kosmos – und im Kerzenlicht des legendären Blue Note Jazz Club in New York. Dort denkt sie ihr Werk mit bluesiger Wärme komplett neu. Das Set mischt neu arrangierte eigene Songs der US-Sängerin mit Hommagen an Joni Mitchell und Betty Carter. Dazu Publikumssummen, Bühnenwitz und zarte Anekdoten, die einen mitten in den Raum ziehen. Die reduzierte Palette – Harfe, Keys, Drums, samtiger Bass – lässt ihre himmlische Stimme glänzen und offenbart neue Schattierungen in Stücken wie „Waitin’“, „Take Me Apart“ und einer atemberaubenden Neuerfindung von „Better“. Alles dient einem Gefühl so intim, dass man meint, an ihrem Tisch zu sitzen. Ein Album, das einen Spitzenplatz unter den Besten des Jahres vollauf verdient. TF
1) Rosalia – LUX
Rosalía kann man eines nicht vorwerfen: Stillstand. Ihr Debüt „Los Ángeles“ von 2017 brachte den Flamenco mutig ins 21. Jahrhundert. 2018 verband sie auf „El Mal Querer“ andalusische Klänge mit Pop und Hip-Hop. 2022 folgte „Motomami“ – ein sexy, grenzsprengender Mix aus Reggaetón, Folkgitarren und Dance-Beats. Für ihr viertes Album wagt die 33-Jährige den bislang kühnsten Schritt: den Pivot zur Klassik.
Das mag nach Spielerei klingen. Das Ergebnis lässt einen jedoch mit offenem Mund zurück. Mit dem London Symphonic Orchestra im Rücken und Gästen wie Björk, Yves Tumor und sogar Daft Punks Guy-Manuel de Homem-Christo entfaltet sich das Album als experimentelle barocke Oper – getragen von aufrauschenden Streichern, elektronischen Beats und Rosalías kristallklarem Sopran.
In vier Sätzen angelegt, singt Rosalía auf „LUX“ in 13 verschiedenen Sprachen: in Katalanisch und Spanisch (auf dem wunderschönen „Divinize“ bzw. „La Perla“), aber auch auf Deutsch („Berghain“), Arabisch („La Yugular“), Ukrainisch („De Madruga“) und Latein („Porcelana“). So erkundet sie grenzenlose Themen wie Liebe, Sex, Spiritualität und das Göttlich-Weibliche. Sie taucht in die Geschichten weiblicher Heiliger und Mystikerinnen weltweit ein und nimmt sie als Inspiration für jedes Stück.
Der Effekt ist eine göttliche Verbindung. Man muss nicht jedes Wort verstehen, um die emotionalen Schwingungen zu spüren. Die 18 Tracks überschreiten Sprache und leben in einem klanglichen Zwischenreich, in dem religiöse Bilder und wagnerische Elans neben Geschichten bestehen, in denen die Sängerin eine „Goldmedaille im Mistkerlsein“ verleiht, Männer anspricht, die Frauen gefügig sehen wollen, sich ein wohlverdientes Glas Sauvignon Blanc einschenkt und ihr Herz so oft verschenkt, dass sie vergisst, dass es einmal ihr eigenes war – auf dem Album-Glanzstück „Relíquia“.
Das wirkt nach viel für einen Rutsch – und ist es. Es entfaltet sich mit jedem Hören stärker. Wer sich diesem epischen Zusammenklang von Sakralem und Profanem hingibt, wird reich belohnt.
Als kühne künstlerische Setzung fühlt sich „LUX“ wie Rosalías „Vespertine“ an – keine kleine Anerkennung, denn es bleibt Björks Meisterwerk. Kaum ein Album kommt ihrer ätherischen Symphonie nahe, die nicht nur Konventionen zeitgenössischer Popmusik zerreißt, sondern auch den schnellen Kick der aufmerksamsarmen, algorithmusgetriebenen Musikkultur verweigert. Rosalía ließ in der New York Times durchblicken: „Je stärker wir im Dopamin-Zeitalter leben, desto mehr will ich das Gegenteil sein.“ „LUX“ ist dieses Gegenteil. Es verlangt volle Aufmerksamkeit; es fordert und belohnt sie. DM
Das war’s.
Fehlt dein Lieblingsalbum des Jahres?
Vielleicht steht es in unseren lobenden Erwähnungen: Nourished By Time – „The Passionate Ones“; Swans – „Birthing“; Blood Orange – „Essex Honey“; Sudan Archives – „The BPM“; aya – „Hexed!“; Wet Leg – „Moisturizer“; Natalia La Fourcade – „Cancionera“; CMAT – „Euro-Country“; PinkPantheress – „Fancy That“; Oklou – „choke enough“.
Oder in unserem Zwischenbericht, der Liste Best Albums of 2025...So Far.
Wenn nicht, sag es uns. Wir hören zu und bessern hoffentlich nach. Oder wir schlagen respektvoll vor, dass du irrst.
Bleib dran bei Euronews Culture für weitere Jahresbesten 2025 – demnächst auch unser Ranking der besten Filme 2025.