Internetsucht: Videospiele sind eine Art interaktives Antidepressivum

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Von Monica Pinna
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In Coronazeiten verbringen Jungendliche mehr Zeit vor den Bildschirmen. Die langfristigen Folgen sind noch nicht bewertbar.

Vor der Pandemie verbrachte ein Gymnasiast rund 7 Stunden pro Tag vor einem Bildschirm, das entspricht 2400 Stunden pro Jahr. Wie hat sich COVID-19 ausgewirkt?Internetsucht ist das Thema dieser Unreported Europe-Folge aus Italien.

Dopaminschub aus dem Internet

Jugendliche sind in Coronazeiten zunehmend abhängig von dem Dopaminschub, den sie vor dem Bildschirm bekommen. Immer mehr Eltern machen sich Sorgen, dass ihre Kinder endlose Stunden spielend und lernend an Computern und Handys verbringen. Sie befürchten, dass es zu einer Sucht werden könnte.

"Seit es mit der Pandemie losging, verbringe ich etwa acht Stunden am Tag vor dem Computer. Vorher habe ich ihn kaum benutzt. Jetzt könnte ich ohne Handy und Computer nicht mehr leben", erzählt Benedetta Melegari, Schülerin an der Internationalen Schule Grazia Deledda.

Die 18-jährige Benedetta lebt in Genua. Sie ist eine der 1,6 Milliarden Schüler weltweit, deren Unterricht durch die Pandemie beeinträchtigt wurde. Fast das ganze Jahr 2020 hatte sie Fernunterricht – auch heute noch.

Fernlernen ist eine Methode, Unterricht in Coronazeiten zu gewährleisten. Ein Kritikpunkt ist, dass Schüler zu viel Zeit vor dem Bildschirm verbringen. Diesem Standpunkt stimmt nicht jeder zu:

"Die Schüler beginnen den Bildschirm abzulehnen, weil sie ihn mit vielen Stunden Fernunterricht verbinden. Das schließt aber nicht aus, dass sie ihre Handys nutzen, denn das Mobiltelefon ist eine relative neue und zurzeit vielleicht die einzige Möglichkeit der Begegnung", meint Roberto Rebora,  Englischlehrer an der Internationalen Schule Grazia Deledda.

Benedetta erzählt, dass sie Stunden auf sozialen Medien verbringt, ohne zu merken, wie die Zeit vergeht: "Ich habe weniger Lust, etwas zu machen. Ich bin fauler. Ich sage mir, ich ruhe mich fünf Minuten aus, und dann finde ich mich zwei Stunden später auf der Couch wieder und schaue Tik Tok oder Instagram. Das passiert vor allem am Abend. Und dann habe ich Schlafprobleme. Ich bin überreizt und unruhig. Ich kann nicht einschlafen."

Ihre Mutter Serena Vella meint: "Wenn man so viele Stunden vor dem Computer verbringt, verbringt man weniger Zeit mit der Familie. Als Mutter frage ich mich oft, ob das zu einer Sucht werden kann."

Internetsucht bei Jugendlichen

Benedettas Mutter ist nicht die einzige, die sich Sorgen macht, und sie ist auch nicht die erste. 2017 beauftragte die lokale Gesundheitsbehörde in Genua Experten, um das aufkommende Phänomen der Internetsucht bei Jugendlichen zu untersuchen. Euronews hat an einem ihrer virtuellen Treffen teilgenommen.

Laut der leitenden Psychologin des MySpace-Zentrums für Jugendliche Margherita Dolcino haben sich nach dem Lockdown die Anfragen nach Hilfe und Unterstützung verdoppelt.

Laut der Koordinatorin Cristiana Busso sind die neuen Patienten überwiegend männlich und zwischen 13 und 20 Jahre alt. Sie hatten schon vor der Pandemie ein ungesundes Verhältnis zu technischen Geräten. Fernlernen ist nicht die Ursache für ihre Sucht.

"Unser Ansatz ist nicht, die Technologiesucht anhand der vor den Geräten verbrachten Zeit zu messen. Für Eltern ist das oft das Hauptproblem. Aber vielleicht kann man die Sucht besser anhand der Art der Nutzung verstehen. Die Frage, die wir uns stellen müssen, ist: Wie nutzt der Jugendliche das Netz und warum so lange?", so die Psychologin bei ASL 3 Genua.

Wie erkennt man eine echte Internetsucht in der vernetzten Jugend-Generation von heute?

Diese Frage soll uns einer der prominentesten Forscher zum Thema Cybersucht beantworten. Michaël Stora ist Psychologe, Autor und und Mitgründer des Observatoriums für digitale Welten in den Humanwissenschaften:

"Nach und nach macht die Person nichts anderes mehr als spielen. Die Abhängigkeit vom Videospiel ist ähnlich wie bei anderen Suchtarten. Das Spiel wird wichtiger als soziale Angelegenheiten. Die virtuelle Bindung siegt über die Bindung an die reale Welt. Wenn die Person es nicht schafft, dieses Verhalten in sechs Monaten zu ändern, kann man die Diagnose Internetsucht stellen", so Stora, der auch Direktor der "Heldenschule" ist.

98% der Jugendlichen, die an Cybersucht leiden, haben laut dem Psychologen einen hohen IQ, aber oft auch soziale und schulische Phobien oder autistische Störungen. Stora erklärt:

"Sobald diese jungen Menschen einen Misserfolg erleben, brechen sie zusammen. Videospiele werden zu einer Art interaktivem Antidepressivum. Die Videospiele erlauben es ihnen, zu virtuellen Helden zu werden, die mit großem Erfolg weiterkämpfen. Sie haben Erfolg, aber es ist ein schneller Erfolg. Es ist das Gegenteil von dem, was man im wirklichen Leben erlebt: Erfolg braucht Zeit und Ausdauer."

Stora ist überzeugt davon, dass man Spielsucht auch positiv nutzen kann. Er hat die "Heldenschule" gegründet. Dort werden junge Hardcore-Gamer zu Videospiele-Entwicklern ausgebildet.

"Ich habe keine Beziehung zur Technologie. Ich bin die Technologie."
Fidy Lefebvre
16-Jähriger

Fidy verbringt täglich bis zu 16 Stunden vor dem Bildschirm. Er sagt: "Ich glaube nicht, dass ich internetsüchtig bin. Es wurde bei mir nicht diagnostiziert. Es würde mich auch nicht stören."

Internetsucht eher ein Trost als ein Problem, das man lösen muss

Fidy ist sechzehn. Er hat vor einem Jahr die Schule abgebrochen. Seine sozialen Fähigkeiten sind durch das Asperger-Syndrom beeinträchtigt. Seine autistische Störung hat ihn und seine Eltern über Jahre hinweg herausgefordert. Heute betrachten sie die Technik eher als Verbündeten:

"Angesichts seiner Diagnose sehe ich Videospiele als Zuflucht, als einen Ort, an dem er sich wohlfühlt. Wo er glücklich ist. Daher ist es eher ein Trost, als ein Suchtproblem, das es zu lösen gilt", sagt sein Vater Hugues Lefebvre.

Noch ist es zu früh, die langfristigen Auswirkungen der anhaltenden sozialen Isolation auf junge Menschen zu beurteilen. Man weiß noch nicht, ob die zunehmende Internetsucht zu einer Pandemie wird und inwieweit sie reversibel ist.

Für Fidy ist klar: "Bildschirme sind für mich keine andere Welt. Sie sind ein Teil des realen Lebens."

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